Schlattner Eginald - Verwinkelte Weihnachten - TheoArt-komparativ

Schlattner Eginald

Verwinkelte Weihnachten

 

Offenlegung

Von Weihnachten zu Weihnachten

 

Nein, schon Weihnachten war diesmal anders als das vorige. Dann erst, was sich weiter während der zwölf geheiligten Nächte von Heilig Abend 1944 bis zu den Heiligen drei Königen an Zeichen der Zeit kundtat. Und was darauf in der Epiphaniaszeit 1945 bis zum 13. Januar unsere Welt heimsuchte an Erscheinungen, das war wie eine Wahnwelt.

Weihnachten 1943, im Jahr davor, das ja, das konnte sich sehen lassen. Da hatten wir am Christabend zwei deutsche Offiziere zu Gast, von der Lehrtruppe in Fogarasch, Major Theato mit schwarzem Monokel und Dr. Kimmi mit dem schwarzen Handschuh. Ich war im siebten Himmel, der ich als Pimpf auf den Führer vereidigt worden war. Ich wollte die Kluft anziehen, Braunhemd mit allem Drum und Dran an Siegesrunen und Hakenkreuz. Was mein Vater verhinderte. Sowieso wollte er mich zu den Übungen der DJ.-Horde in Tirolertracht schicken. Gott bewahre! Die Heilhitlertante Sarah vereitelte das Ungemach. – Die Herren schenkten der Mutter den Gedichtband Ein Mensch von Eugen Roth. Dem Vater einen echten Champagner, Frankreich, der Erbfeind, war ja in deutscher Hand. Uns Kindern schenkten sie nichts. Wir waren trotzdem glücklich. Fest glaubten wir Knaben an den Endsieg.

Es gibt bis heute sonderbar verschnippelte Fotos von jenem Abend: Wir vier Kinder sitzen vor dem Christbaum auf dem Perserteppich, jeder mit dem Lieblingsgeschenk in der Hand. Bei mir, dem Ältesten, ist es der Metallbaukasten Märklin 2, die Kleinste, Elke, hält die Puppe Nelke an sich geschmiegt. Dazwischen kauern im Türkensitz Kurtfelix, vor sich Pfeil und Bogen, und Uwe, mit dem Schmetterlingsnetz. Hinter uns stehen Vater und Mutter, verdecken einen Teil des glitzernden Baumes. In der Silberkugel auf dem Baum spiegelt sich das Gesicht des Gefreiten Lohmüller, der mit Blitzlicht knipsen durfte. Er feierte mit dem Küchenpersonal. Doch auf dem Foto sind die Personen rechts und links weggeschnitten. Die zwei deutschen Offiziere.

Im Jahr darauf war Weihnachten sehr anders. Am 23. August 1944 hatte Rumänien die Fronten gewechselt, mit den Alliierten einen Waffenstillstand geschlossen und Hitlerdeutschland den Krieg erklärt. Das war die wagemutige Tat des jungen König Michael I. Man ist sich heute unter Militärhistorikern einig: Damit ist der Krieg um 5 bis 6 Monate verkürzt worden, es gab fünf Millionen Tote weniger und die zweite Atombombe fiel nicht auf deutschen Boden.

Dafür waren die Sowjets die Gebieter im Königreich Rumänien. Freilich! In den Auslagen steckten vier Flaggen: Die russische, die amerikanische, die englische, die französische. Doch rabiat schalteten und walteten die Russen.

Bereits vorher waren die Russen pädagogisches Schreckmittel unserer Haushälterin Sophie gewesen. Mysteriös hieß es: “Du benimmst dich schon jetzt wie ein Bolschewik. Warte erst, wenn die Russen kommen, weh deiner Pizziknochen! Ihre Flintenweiber werden euch Buben Mores lehren.” Unheimlich ergänzten dieses Orakel die Plakate bei der Deutschen Ortsgruppenleitung: Ein russischer Tank zerquetscht eine blonde Frau und ein Russe spießt ein goldiges Kind mit dem Bajonett auf. Und sie kamen, die Russen. Und die Russen waren da.

An jenem Tag des Umsturzes, des Zusammenbruchs, wie wir das nannten, beseitigte der Vater als erstes meine Kluft. Was mich kränkte. Das Koppel mit der Siegesrune warf er in die Sickergrube; das Buch: Die Schlacht der weißen Schiffe, das ich für den nächsten Heimabend der DJ-Horde lesen musste, nahm der Stinkbach in der Gerbergasse mit. Braunhemd und Fahrtenhose legte unser Hausmeister Attila Fekete in den Sarg seiner Schwiegermutter, dazu die faschistische Hungaristen-Flagge mit Kreuz und Pfeil.

Oft hielten die russischen Panzerwagen in der stillen Gasse vor unserem Haus. Wir durften uns den Fenstern nicht nähern. Aber ich hatte einen Spion angebracht. Enttäuschend waren ihre abgekämpften, verwaschenen Uniformen. Wie konnten solche Soldaten siegen? Darunter waren echte Frauen, mit Maschinenpistolen behängt und bunten Orden auf den Brüsten. Die Flintenweiber! Ihre gegerbten Gesichter sahen nicht anders aus als die der Männer. Als Frauen gaben sie sich zu erkennen mit ihren sackähnlichen Röcken; und dass sie manchmal lächelten.

Wir Kinder hatten wochenlang Hausarrest. Was uns kaum etwas ausmachte, konnten wir uns doch austoben im Garten der Kindheit und im Hof mit dem Steinlöwen. Jedoch als wir im September in die Schule gingen, noch immer die deutschen Schulen, da beneidete ich meine Kameraden, die russisch fluchen konnten. Ja, das sollte gesagt sein: Die Muttersprache hatte man uns nicht verboten, weder zu Hause, noch in der Schule, noch in der Kirche und nicht auf der Straße. Obzwar zig-Tausende unserer Männer im Deutschen Heer für das Mutterland gegen ihr Vaterland Rumänien kämpften.

 

Der verschwiegene Vater, Jahrgang 1899, im Ersten Weltkrieg Isonzofront

Der Vater tat als Rechnungsoffizier Dienst in der Wasserburg von Fogarasch. In seiner eleganten königlichen Uniform französischen Zuschnitts, bestückt mit Krone und Schwertern und Lorbeer in Gold, dazu die blitzenden Reitstiefel - nimmt es Wunder, wenn die Russen, kam unser Vater nach Hause, ihn mit einem General verwechselten und strahlend salutierten. Eine Russin sprang dem glänzenden Offizier an den Hals, das Sturmgewehr baumelte über dem Bauch. Sie küsste ihn auf beide Backen: “Tovarischtsch General, ia ti liubliu!

Ich liebe dich!

Unser Vater war ein wortkarger Mensch. Ob er das von Natur aus war oder so geworden war in den vielen Tagen der Ehe – noch heute rätsele ich. Gewiss ist: Im Haus hatte die Mutter das Sagen und Singen.

Umso mehr markierten uns die Sätze, die der Vater sprach, wenn Großes passierte!

 

Am 22. Juni 1941 war mein Bruder Uwe auf den Tag zwei Jahre alt. Mit der Torte und den Tanten und den Kindern und der blauen Lebenskerze und den zwei weißen Kerzen und der Großmutter in Schwarz warteten wir auf unseren Vater über Gebühr, der sich nie verspätete. Endlich ging die Gartentür auf und er trat zu uns mit den Worten: „Jetzt ist alles verloren. Rumänien und Deutschland haben Russland den Krieg erklärt. Russland kann nie erobert werden“ Unser Mutter sagte ratlos, was sie uns schon immer eingeschärft hatte: „Man möge nie nie sagen!“

Als wir Hitlerjungen Juni 1943 mit Spielmannszug und Fanfarenmusik die 68000 volksdeutschen wehrfähigen Männer zu den Bahnhöfen begleiteten, die als SS-Soldaten an die Ostfront rollten, befand mein Vater, und die Schwäger und andere Mannen sahen rot: „Das wird uns teuer zu stehen kommen. Nach Stalingrad ist für jeden klardenkenden Trottel der Krieg verloren.“ Wie wahr, trotz der Kreidesprüche auf der Waggonwand: „Stalin du altes Luder, bald bist du nicht mehr am Ruder, die Fogarascher sind auf dem Marsch und versohlen dir den Arsch.“

Und am 23. August, während wir verfängliche Bücher in der Waschküche verbrannten, schwer verkohlten die Bücher, sagte er zu mir Seltsames: „Du bist der Älteste und so älter als dein Alter. Dies ist der Anfang vom Ende. Aber die Stunde „Null“ schlug bereits im November 1940, als Berlin uns hier in Rumänien die Deutsche Volksgruppe bescherte und unsereins großdeutsch sein wollte, ja am besten gleich Großdeutscher! Doch die Grenzen Deutschlands werden nie bis Fogarasch reichen!“ Und sagte: „Du kennst den Wahlspruch bei der Einwanderung?“ Eifrig zitierte ich: „Einwanderung unter König Geisa zwei. Ad retidendam coronam: Zum Schutze der Krone!“ Der Vater schloss: „Das bedeutet Loyalität jeweils der gegebenen Obrigkeit gegenüber!“ Das Wort Loyalität kannte ich nicht. Aber ich schlug sofort nach, wie die Mutter uns gedrillt hatte: „Sofort nachschlagen, wenn man ein Wort nicht kennt!“

Ja, das jetzige Weihnachten 1944 war anders als das vorige. Es fehlten nicht nur die deutschen Offiziere, obschon sie uns versichert hatten, im August: „Haltet aus, in zwei Wochen sind wir zurück.“ Mir fehlte sehr Märklin 3, unerreichbar. Selbst Briefe ins Reich waren uns verboten, dann erst Wünsche. Es fehlten bei Kurtfelix Pfeil und Bogen. Alle Waffen mussten wir Volksdeutschen abgeben. Es fehlte das Schmetterlingsnetz. Das hatte ein Flintenweib dem dahinhuschenden Bruder Uwe entrissen und als Haarnetz benutzt.

Es fehlten unsere Fahrräder. Alles was rollte, mussten wir abgeben. Das Auto verschmerzte man, aber nicht, dass die Russen mein Dreigangrad ADLER weggeschleppt hatten. Sogar Uwes Presto, ein Kinderrad, und den Kinderwagen Elkes mit den sechs Rädern, der wie ein Tank alle Maulwurfhügel überkletterte, wurden beschlagnahmt. Ich bastelte mir Stelzen, mit denen ich vorwurfsvoll durch die Stadt stakte, größer als jeder Russe. Auch die Puppe Nelke fehlte, die singen und die Augen rollen konnte. Als Klein-Elke einen Russen mit Heil Hitler grüßte, den Arm gestreckt zum Deutschen Gruß, hatte er sie begeistert aus dem Wagen gehoben, sie geherzt, an sich gedrückt, hatte „malenkaia“ gejuchzt. Zu Tode erschrocken, hatten wir erst aufgeatmet, als er sie behutsam zurücksetzte. Jedoch die Puppe Nelke war weg.

Es fehlte das Radio. Die Apparate hatten wir, und alle Volksgenossen, abgeben müssen. Einen Philips- Volksempfänger, karge zwei Wellenlängen, hatte unsere Mutter – auf Teufel komm heraus – in einem Diwanpolster versteckt. Die Antenne hatten wir im Schornstein angebracht. Allein der Rauchfangkehrer Adolf Meister wusste davon, den schwarzen Finger auf dem Mund. Ich hatte einen Kristallempfänger gebastelt. Das hatten wir im Fliegerjungzug, Fähnlein drei, gelernt. Mit dem krächzenden Gerät erfuhr ich Verwirrendes: So hatte der Führer die Wolfsschanze geräumt. Die Russen rannten ihm die Tür ein. Und später kam anderes hinzu, das noch mehr erschreckte und das ich stotternd meinem Vater vortrug. Der sagte gefasst: „Komm, mein Sohn, du bist nun groß!“ Er führte mich in sein Arbeitszimmer. Ich spürte, während ich im Ledersessel versank: Dies wird ein Gespräch zwischen Männern, unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Der Vater wusste Bescheid! Stalin hatte Mitte Dezember von der rumänischen Regierung 75 000 Volksdeutsche zur Aufbauarbeit angefordert, Männer zwischen 17 und 45, Frauen zwischen 18 und 30. Bukarest hatte abgelehnt: Man brauche diese tüchtigen Bauern und Handwerker im Endkampf gegen Deutschland und Ungarn. Stalin ließ mit sich nicht reden. Entscheidend schien dem Vater, dass der König sich verwahrt hatte: Auch die Deutschen des Landes seien rumänische Staatsbürger. Und es sagte der Vater: „Dies trifft uns alle und könnte der Untergang unseres Volkes sein, der Siebenbürger Sachsen. Und der anderen Deutschen hier. Doch unsere Familie betrifft es nicht.“ Die Mutter, geboren 1912, sei drei Jahre über das Alter hinaus. Und er habe als Soldat den Eid auf den König geleistet und somit schütze der König ihn. „Dazu bin ich in ein paar Tagen sechsundvierzig.“ Nicht gebot er mir zu schweigen. Doch als mein Vater sich erhob und zu mir trat und mir die Hand reichte – ja, das genügte zu wissen: Das war eine geheime Sache. Und leidvoll erfuhr ich: Ein Geheimnis macht einsam.

Das Verflixte war die Sache mit dem Eid. Überhaupt, woran sich festhalten? Der Großvater Goldschmidt, der zwei Kaisern und drei Königen die Treue geschworen hatte, behauptete, der Eid binde allein dich, dich allein, unbesehen des Erwählten. Deine Treue, deine Ehre steht auf dem Spiel! Es heißt: Treuebruch. Der Vater wiederum nahm den Mächtigen ins Gebet, auf den man den Eid abgelegt hatte. „Der König hat mich zu schützen!“

Und unser Führer war von der Wolfsschanze ausgerückt, hatte kampflos das Feld geräumt. Wo doch in seinem Munde der Endsieg todsicher war. Wortbruch. Alles bricht! Mein Eid?

Am Dreikönigstag war die Kirche wieder zum Bersten voll. Umgetrieben von gruseligen Gerüchten, glaubte niemand Pfarrer Stamm, was er in seiner Predigt verhieß: „Es ist Epiphaniaszeit, die geheiligte Zeit nach Weihnachten, wo der Lichtglanz Gottes vollauf in Erscheinung tritt; die Finsternis vergehet, das wahre Licht scheint jetzt. Und über diejenigen, die im Tal der Todesschatten sitzen, geht ein großes Licht auf! “ Ein tiefes Aufseufzen ließ die Kerzen erbeben! „Todesschatten ja! Licht keines.“ Doch noch war Vieles beim Alten.

Die orthodoxe Kirche feierte pompös die Taufe Jesu im Jordan. Traditionsgemäß warf der Erzbischof, gewandet wie ein byzantinischer Kaiser, drei Holzkreuze in die Aluta. Kanonen hatten am Morgen das Eis aufgebrochen. Auf Befehl des Obersten Traian Decebal Cosimovici, der sich in der Paradetracht eines Ritters des königlichen Michaelsordens auf einen Zierdegen stützte, sprangen halbnackte Soldaten in den Fluss, bekleidet bloß mit einer langen Unterhose, und schnappten sich die Kreuze. Die Kapelle intonierte die Königshymne. Das Volk auf der Brücke klatschte. Die glitzernden Popen schaukelten Fontänen von Weihrauch ins All. Unser Vater, Gardemaß, war in der Galauniform dabei, unnahbar, ja entrückt. Wir Brüder wandten uns ab, sausten auf Schlittschuhen weit weg über den Fluss.

 

Zu spät!

Schlagartig am 13. Januar wurde landesweit alles ausgehoben, was in den Listen der Deutschen Volksgruppe geführt wurde und sich als volksdeutsch bekannte. Das Thermometer zeigte minus 28 Grad. Schon um fünf Uhr wurden Männer und Frauen von russischen Soldaten und rumänischen Gendarmen aus den Betten geholt. Versteckte sich jemand oder floh oder hatte vorher Wind bekommen, wurden andere weggezerrt, ältere, jüngere. Die Zahl musste stimmen.

Ich gedenke: Die sechszehnjährige Tochter Angelika meines Amtsvorgängers in Rothberg erfror schon auf der zweiwöchigen Fahrt im Viehwaggon in die Ukraine. Doch selbst die Toten kamen im Donbass an. Die Zahl musste stimmen.

Unseren Vater holte ein Kommando zwei Wochen später ab. Es war der 2. Februar, sein 46. Geburtstag. In voller Uniform wurde er aus seinem Büro in der Festung abgeführt. Die Soldaten, die ihm begegneten, salutierten. Er wurde in der Kaserne gefangen gesetzt, wo die deutschen Lehrtruppen vormals ihr Hauptquartier hatten. Die Russische Elegante, mit Rum besprengt, seine Lieblingstorte, blieb unberührt, verrottete. In der Küche tröstete unsere Haushälterin Sophie meine Mutter auf Ihre Art: „Schrecklich! Wer isst nun die Torte? Hätten die elendigen Bolschewiken unseren herzensguten Herrn Felix nicht morgen verschleppen können. Aber sie sollen wissen, gnä‘ Frau, das ist noch nicht so schlecht!“ Wir wurden aufgeklärt, was sie im Dienstbotengottesdienst aufgeschnappt hatte. Verschleppen würden die Russen als nächstes die Jungen von zehn Jahren aufwärts. „Der arme Bub“, und sie streichelte mit ihrer fettigen Hand meine Backe, „noch nicht konfirmiert, und schon zu die Russen. Ich hab immer gesagt: Nehmt‘s euch z‘samm, ihr Buben, weh euren Pizziknochen, wenn die Russen kommen.“

Uns Knaben, die wir nutzlos herumstanden, schickte die Mutter Eislaufen in den Burggraben. Mit mir würde sie gegen Abend zum Vater gehen. Zivile Kleidung war gefragt; ein russisches Buch machte sich gut, und warme Socken. Die toten Seelen Gogols boten sich eher an als Ein Adelsnest von Turgenjew.

Auf dem Eislaufplatz im Burggraben wartete Agathe Ursula Sonnleitner auf mich, bei einem ebenarm, verschämt wie immer. Sie war mein Schatz seit Langem. Die große Kinderliebe war aufgekeimt, als ich ihr, sie in der II. Klasse, bei der Buchhandlung Eisenburger half, die Titel zu entziffern. MEIN KAMPF war ihr geläufig. Das eiserne Jahr, Volk ohne Raum, Hitlerjunge Quex, das war zu schwer für die kleine Seele. Ihr Vater war als Amtsleiter der Deutschen Volksgruppe gleich nach dem 23. August in einer Nacht ausgehoben und ins Lager bei Caracal geschafft worden. Sie, die Älteste von vier  Geschwistern, knapp zehn, hatte ihm die Sachen gepackt. Die Mutter stand da wie gelähmt.

Ich zeigte auf die Burg vor unseren Augen: „Sie haben meinen Vater geholt!“ Agathe sagte: „Ich weiß es!“ Was wusste sie? Schon das mit meinem Vater. Oder wusste sie nur das mit ihrem Vater? Ich fragte nicht.

Sie ist tot.

Als ich mich mit ihr zwischen Weiden verbergen wollte, streifte sie die Fäustlinge ab, nahm feierlich meine Hand in ihre heißen Hände, bis auch meine Hand glühte. Darauf schubste sie mich auf die große Eisfläche. Wo Dr. Suciu-Sibianu wie eh und je seine Pirouetten drehte und gewagte Sprünge vollführte, wo wie gestern und vorgestern die oberen Schüler vom rumänischen Lyzeum Radu Negru im Bogenschleifen mit den Schülerinnen vom Mädchengymnasium Doamna Stanca dahinwalzten zu den Takten der Militärfanfare; und wo die ungarischen Jungen wie schon immer gegen die Rumänen antraten im Kampfspiel Der schwarze Mann. Und sie sagte, Agathe Ursula, zu Weihnachten zehn geworden: „Heute darfst du mich übers Eis ziehen. Es ist mir wurscht, was die Leute über uns reden!“ Wir verschwanden im Gewusel der Schicksalslosen.

Am Abend in der Kaserne ließen die Bewacher uns mit dem Vater ungehindert reden. Nach Herzenslust, das kann man so nicht sagen. Dort wartete bereits die Ordonanz, der Bursche Vasile. Er hatte den Auftrag, die Uniform seines Offiziers in der Festung beim Militärkommando abzuliefern. Er legte die Kleidungsstücke mit einer Fürsorglichkeit zusammen, als gelte es eben nur für diese eine Nacht bis zum nächsten Morgen. Er küsste seinem Vorgesetzten die Hand, während die Tränen in seinen Schnurrbart rollten. Dann richtete er sich militärisch auf, salutierte vor dem Vater in Zivil, und ging, ging dahin im Paradeschritt. Unter dem steifen Arm klemmte in Zeitungspapier gewickelt die Uniform des Königs. Es war die letzte Nummer der unserer Zeitung Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, vom 11.IX.44.

Wir hielten uns tapfer, meine Mutter und ich - und der Vater ebenso, bereits in fremdem Land. Keine Klage, kein falsches Wort blieben zurück, keine Träne trotz der zugeschnürten Kehle. Contenance hatte der Großvater angemahnt. Ich erfuhr, dass der russische Platzkommandant Oberst Gavril Rudenko den Entlassungsschein unterschrieben habe. Unrecht und Willkür werde in der Roten Armee streng geahndet. Ein gut geschmierter Gewährsmann würde den Schein noch heute zu uns nach Hause bringen. Morgen früh würde meine Mutter ihren Mann abholen. Sie habe bereits den Kutschschlitten bestellt und hier mit dem Offizier vom Dienst verhandelt. Trotzdem, wer weiß? „Mit des Himmels Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten“, sagte meine Mutter zögernd. Und ich zitierte aus meinem frischen Büchlein der Sinnsprüche: „Es harren unser im Erdenschoße die heiteren und die bitteren Lose!“

Die Eltern machten aus – um Gottes willen: Musste man das Gefasel der Sophie ernst nehmen? Sollten wir später alle deportiert werden, so würde die Mutter jeweils in jeder Stadt in der Leninstraße Nr. 3 eine Nachricht hinterlassen. Ebenso der Vater. Es gäbe in der Sowjetunion keine Stadt ohne Leninstraße. Und keine Hausnummer drei in der Straße Lenins! Gelacht. Der Vater legte mir die Hand auf den Scheitel und sagte: „Du bist der Älteste und du bist der einzige Mann im Haus! Sei der Gertrud eine Stütze!“ Und nun erinnere ich das letzte Wort, das der Vater offenlegte, für Jahre, es widerhallt bis heute:

„Nicht nur jammern darüber, was man dir Schlimmes angetan hat, sondern selbst begreifen, was du anderen an Leid zugefügt hast.“

Als wir früh am anderen Morgen im Schlitten mit Schellengeklingel bei der Kaserne vorfuhren, war der Vater bereits zum Bahnhof eskortiert worden.

Der Kutscher im schwerblauen Wintermantel mit Goldknöpfen gab den Pferden die Peitsche. Die Hufe der Pferde schlugen Funken aus der Eisbahn. Ihre Leiber dampften. Wir wurden in den rotsamtenen Plüschbänken hin und her geschleudert. Der Schlitten raste dahin, kein Zigeunerkind konnte sich mit den Händen an die Rückwand anklammern und sich barfuß mitschleifen lassen.

Zu spät!

Ein Kordon von Rotarmisten sperrte den Bahnhof ab. Eiskalt schien die Sonne. Eine Sonne mit Zähnen, sagt der Rumäne: ‚Soare cu dinţi!‘ Meine Mutter konnte ihrem Mann noch mit dem Entlassungsschein zuwinken. Er nickte. Dann wurden die Schiebetüren des Viehwaggons geschlossen. Es war die zweite Lese, die nach Russland verfrachtet wurde. Es waren diejenigen, die herhalten mussten für solche, die sich versteckt hatten. Grauvermummte Mütter, die ihre zu jungen Töchter und Söhne von den Dörfern herbegleitet hatten auf dem eigenen Pferdewagen, flankiert von Polizisten und russischen Soldaten, Bauersfrauen im schwarzen Umschlagtuch, die ihren Ehemännern vor dem Altar Treue geschworen hatten, bis dass der Tod sie scheide – die Mütter und Frauen stimmten Klagelieder an im klobigen Dialekt. In denen sich klagend der Satz wiederholte: „Off wat mer erwacht sen!“

Auf dass wir erwacht sind!

 

In aller Öffentlichkeit

Rothberg, auf dem Pfarrhof, Advent 2015

 

Liebe Adele Maria,

meine Großmutter sagte: “Alle meine Enkelkinder habe ich gleich lieb; aber manchmal habe ich einen von euch am liebsten!” Was eine Mutter über ihre Kinder so nicht sagen darf. Und ein Pfarrer über seine Konfirmanden nicht sagen sollte.

Inzwischen sind viele Jahre ins Land gegangen. Die Tanne, die du bei deiner Konfirmation im Kirchpark gepflanzt hast, sie ist größer als der Wehrturm. Nun kann ich aussprechen, was du sowieso weißt. Und dann: Ihr seid ja allesamt aus diesem Land weggegangen. Noch sind wir fünf Greise zu begraben. Selbst die Toten sterben aus. Es gibt nichts mehr zu verschweigen. Die Zeit der 12 Heiligen Nächte – von Heilig Abend bis zu den drei Heiligen Königen – habe ich vor, bei meiner Kirche zu verbringen. Mein 37. Weihnachten will ich in Rothberg begehen, in einer Kirche heiliger Leere und der stillen Nacht und im Angesicht „leergebeteter Bänke“. Und gewiss – wie anders? – mit Blick auf das Gewesene, als es hier noch eine Gemeinde gab und ich eine Familie hatte. Nachher werde ich in einem Waldwinkel in klösterliche Klausur einkehren und von dort auch Gefängnisse besuchen, noch ein Schritt mehr an Einkehr.

Mein Gott, wie wahr die Worte meiner Großmutter, sie hat vor 1914 eine Zeitlang in Italien gelebt: „Tempi passati, finita la commedia!” Doch ohne: Lamento blamabile! Und nun zu Weihnachten einst und hier. In meinem Roman Der geköpfte Hahn, sogar in der Verfilmung, kommt der Satz vor: „Die Erinnerung ist das Paradies, aus dem man dich nicht vertreiben kann!”

Erinnern wir uns, erinnere dich, wie es an Weihnachten zuging, als ihr alle noch da wart. Bitte, unter der gottlosen Diktatur vor 1989, aber so geschah es wahrlich und wahrhaftig, kaum zu glauben – erinnere Dich, Adele Maria. Vor Volk barst die Kirche aus den Fugen, einer saß dem andern auf dem Schoß! Die Kerzen in den Kandelabern erbebten vor dem Atem der erhobenen Seelen. Was die Pfarrfrau in einen solchen Abend hineinpackte an festlichen Fertigkeiten, das erscheint heute wie ein Märchen. Welch Strauß an Tonfolgen erfüllte das Gotteshaus von 1225! Hugo Distler 5-stimmig, vorgetragen von einem bescheidenem Chor, zusammengestückelt aus einer 300-Seelengemeinde; wobei die Sangeswilligen eher geeicht waren auf Lieder wie Muttertränen und Edelweiß. Zum Repertoire gehörte der Wechselgesang der Erwachsenen oben bei der Orgel mit einem Kinderchor unter dem Triumphbogen. Dann war da ein Knabe, der in kristallklarem Sopran mit Solostimme die Verkündigung des Engels von der Empore herabsang. Einmal warst Du der Engel, Adele Maria, so erinnere ich mich: Von der Kanzel flötetest Du die unerhörte Botschaft himmlischer Freude, selbst todunglücklich, was nur ich wusste, weil Deine Großmutter Dir Engelslöckchen gebrannt hatte, allerliebst anzusehen.

Das Krippenspiel im Chorraum ließ alle die Geschichte sehen im Sinne der Hirten: „Kommt, lasst uns die Geschichte sehen, die da in Bethlehem geschehen ist!“ Blaugewandet und verschämt wiegte das Mädchen Maria die Krippe mit der Stoffpuppe als Jesuskind, behütet von einem genierten Joseph mit falschem Bart und Wanderstab. Aus der Sakristei zogen Fronknechte mit einem Strick das störrische Kamel hervor, während die drei Könige zu Fuß herbeiwallten, der eine, der Mohr, mit Ruß im Gesicht und bleckenden Augen. Das Aufgezählte – von Hugo Distler bis zum Kamel – war das Neue, das die Pfarrfamilie eingebracht hatte. Und ebenso neu war, dass der Pfarrer über je einen Vers aus der Geburtsgeschichte predigte, ganz kurz, niemand schlief ein, jede Weihnacht war es der nächste und ein anderer Vers; vor allem kurz - und kindernah. „Und Maria gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge!“ Was den Kindern gefällt, spricht auch die Alten an. Das alles war das Spielbein zu Heilig Abend.

Das Unverrückbare beschrieb der Kurator mit den Worten: “So ist das Recht hier seit unserem großen Reformator, dem Herrn Doktor Martin Luther! Bitte haltet Euch daran, Herr Pfarrer.” Es war das Gerüst, an dem nicht gerüttelt werden durfte. Nicht Sitte und Brauch, die gebeugt, verbogen werden konnten, sondern unverbrüchlich das Recht! Dazu gehörte: In der Woche vor Heilig Abend trafen sich achtzehn junge Frauen mit ihren Fladenbrettern und den Nudelwalkern in der Küche des Pfarrhauses, die Gott Lob sechs Türen hatte, und kneteten den Teig und walkten ihn aus für 5555 Kekse (sage und schreibe fünftausendfünfhundertfünfzig und fünf Kekse). Alle achtzehn Frauen redeten auf einmal und dennoch verstand jede, was die anderen sagten. Mit halsbrecherischer Zungenfertigkeit redeten sie daher in der archaischen Mundart der Urheimat im Flandrischen. Mittendrin werkelte die Pfarrfrau still und stumm, wiewohl sie perfekt den Dialekt beherrschte, und zwar die Hochsprache von Hermannstadt, einst die Hauptstadt des sächsischen Königsbodens. Sie stach die Formen aus und verfrachtete sie in die Kuchenbleche. Die Kekse wurden im zyklopischen Backofen gebacken, den die Kirchenväter schon beim Morgenläuten angeheizt hatten mit Holzscheiten wie Eisenbahnschwellen. In der großen Pause liefen die Kinder herbei, um sich ein flammendes Bild zu machen, was mit der Hexe in Hänsel und Gretel passiert war. Tags darauf kam ordnungsgemäß eine andere Reihe von Müttern zusammen und räumte die Kekse in die Tüten und wischte den Fußboden in der Pfarrküche auf.

Vor der Christvesper versammelte sich die Menge der Gemeindemitglieder zwischen Kirchenportal und Glockenturm, jeweils getrennt nach Teilmengen: Männer, Frauen, dann Mädchen, Burschen, Kinder, und aufgestellt jede Gruppe an einer bestimmten unverschiebbaren Stelle im Kirchpark vor dem Portal des Gotteshauses. Wir waren eine Kirche der Ordnung als Lebensform. Es bestätigte sich in unseren Kirchengemeinden: Die Liebe ist eine verlässliche Ordnung des Zusammenlebens.

Durch die Schalllöcher des Turmes erklang die Dorffanfare mit dem Quem pas laudavere so gewaltig und feierlich, dass die letzte Lehmhütte unten am Bach erbebte. Es hieß respektvoll: “Da, Saşii cânta muzica cu blehu!”Die Sachsen machen Musik mit dem Blech.

In der Kirche erstrahle der Tannenbaum, der bis zum Triumphbogen der Basilika reichte, in tausend Lichtern von Kerzen. Darunter in den Rutenkörben, die die Menschenkinder in den Lehmhütten am Bach flechten, häuften sich die Päckchen mit Süßigkeiten, Lohn der Kinder für das schwierige Geschäft im Aufsagen der Gedichte in einem holprigen Deutsch.

Der Gottesdienst hub an mit dem Eingangslied: “Vom Himmel hoch, da komm ich her”, Lied 18, EVANGELISCHES GESANGBUCH der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in der Sozialistischen Republik Rumänien. Erinnere dich, Adele Maria: Ihr schriebt Eure Namen hinein und die Buben auch den Namen des Schatzes! Das ist mir von Euch geblieben. Gesungen wurden nach Recht und Ordnung alle 15 Strophen. Nachher sagten die Schulkinder Gedichte auf in der schwerfälligen Sprache ihrer deutschen Schule und der Kirche mit deutscher Verkündigungs- und Amtssprache. Während zu Hause Dialekt gesprochen wurde. „Bleibt ihr stecken, Kompliment und ab von der Bühne!“ So die pfarramtliche Regieanweisung. Das galt für die zu Konfirmierenden nicht, 8. Klasse. Die hatten getreulich das Weihnachtsevangelium aufzusagen; die Mädchen plagten sich mit den Passagen der Geburt, die Jungen erzählten von den Hirten auf dem Felde.

Ein eigentümlicher Höhepunkt, bezeichnend für Siebenbürgen, war das Leuchtersingen. Um den mit Kerzen bestücken Leuchter, der pyramidal aus Tannenkränzen und Strohhüten bestand und mit dem schönsten Flitterwerk der Welt behängt war, haspelten drei Kindergruppen im Gegenpart Text und Melodie herunter.

Doch Krönung war das Hauptlied Großer Gott wir loben dich: Wie Schauer aus himmlischen Gefilden brauste es durch das Gotteshaus, forte fortissimo assai; das frühchristliche Te Deum laudamus ertönte musikalisch vierfach übers Kreuz als Klang und Melodie: Blasmusik und Orgel, Chor und Gemeinde (Lied 133); im uralten Gemäuer rieselte siebenhundertneunzigjähriger Staub. Es klang die Christvesper aus im weltweiten Lied Stille Nacht, Heilige Nacht. Die Glühbirnen erstarben. Allein die Kerzen auf der Tanne und in den drei Lüstern verströmten ihr magisches Licht.

Heilig Abend um Heilig Abend wiederholte sich das weihevolle Spiel und würde weitergehen – im Mythos der ewigen Wiederkehr in alle Ewigkeit, Amen. So dachte man, wenn man dachte. Mit diesem gediegenen Programm, in der altbewährten Ordnung, würde die Gemeinde rechtens beim Jüngsten Gericht antreten. Bis die Geschichte zuschlug und den Mythos auffraß. Nach der blutigen Revolution zum Ende der Diktatur Dezember 1989 gab es kein Halten mehr: „Alles rennet, rettet flüchtet“. In einem Sommer verabschiedeten sich die sächsischen Gemeinden sang- und klanglos aus der der Geschichte, auf den Tag genau nach achthundertfünfzig Jahren. Ethnische Selbstsäuberung.

Nunmehr ertönt zur Christvesper nur alltägliches Glockengeläute über die Häuser hinweg mit den blinden Fenstern. Ohne dass Füße herbeieilen.

Nun also, meine liebe Adele Maria, Lieblingskonfirmandin von einst, liebenswürdige Mutter von heute! Einen geschmückten Christbaum wird es auch diesmal geben, ein Bäumchen in Maßen; wobei der Hund des Burghüters Miron, ein brauner Bruder vom Bach, die unteren Kekse und Äpfel und die Goldnüsse wegstibitzt wie eh und je. So ist das Recht hier!

 

Eröffnungen

Tagebuchnotizen, im Advent 2015

 

Auf dem Pfarrhof in Rothberg/Mons rubens, Montag

Es wird einem mulmig zumute. Schwankend zwischen Bangnis und Neugier blicke ich vom Pfarrhaus in den Kirchpark, schaue hinüber zu Wehrturm und Ringmauer. Und halte mich mit den Augen fest an der uralten Basilika. Ich murmle: „Gottlob, festgemauert in der Erden!“ Im Park um die Kirche wuselt es von Geschöpfen, die in den achthundert Jahren hier nie zu Gange waren. Die betagten Tannen erbeben unter dem Gelärm der fremden Zungen. Verständnislos buchstabieren sie den Spruch über der Vorhalle: Weise mir, Herr, deinen Weg! Eingraviert in Marmorlettern. Gotisch.

Inmitten der Heerscharen von Schülern fallen fünfzehnjährige Maiden auf von indischer Schönheit. Viele ziehen bis zu sechs Geschwister hinter sich her. Andere haben Säuglinge an der braunen Brust. Jede der Jungfrauen hat ein Handy am Ohr. Abenteuerlich gekleidete Großmütter, die schmauchende Pfeife zwischen den Zahnstummeln, haschen mit einem Tannenzweig Kleinkinder hin zur Kirche. Manche der Kinder purzeln die zehn Stufen beim Eingang hinunter. Rund um die Basilika ist die Erde in den vielen Jahrhunderten seit 1225 gewachsen. Ein Reiter karrt auf seinem nackten Pferd gleich drei Buben herbei, die sich an der Mähne festhalten. Er galoppiert auf das Portal los, als wolle er bis zum Altar vorpreschen. Die Buben kippt er in den Schnee, die vor Wonne jauchzen. Macht kehrt, sprengt davon. Der chaotische Trupp der Drängelnden spritzt auseinander, zwischen Lachen und Schimpfen. Das Zetergeschrei wird kaum vom Gekreisch der Krähen übertönt, die um die Ruhe ihrer Schlafbäume fürchten. Ja, es sind die Menschenkinder aus den Lehmhütten vom Bach, wie vom Himmel gefallen. All dies Volk verschluckt das Kirchenportal. Ich stelle fest: Die Kirche hat es überstanden. Unwahrscheinlich klingt die Stille!

Im verstummten Kirchpark steht vor meinem inneren Auge die sächsische Kirchengemeinde, wie sie vor dem Gottesdienst ihren Pfarrer und dessen Familie erwartet hatte, einst. Es war über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte das nämliche Ritual, die gleiche Geometrie der Anordnung. Genau gegliedert nimmt die Gemeinde Aufstellung zwischen Glockenturm und romanischem Portal. In den angestammten Karrees hat jedes Gemeindemitglied seinen Stehplatz.

An der Spitze der Männer steht der Kurator, im ornamentreichen Kirchenpelz, der jeden Sonntag mit dem nämlichen Spruch den Pfarrer begrüßt: „Herr Pfarr, nor de Gesandhiet!“ Der fromme Pfarrer sinniert: „Die Gesundheit ist nicht alles!“ Die aufgeklärte Pfarrfrau murmelt: „Doch ohne die Gesundheit ist alles nichts!“ Flankiert wird der erste Mann der Gemeinde vom Presbyterium, dahinter steht in Reih und Glied die Gemeindevertretung. Hinter den Ehrenamtlichen versammeln sich die übrigen: die Männer gestaffelt nach Nachbarschaften, die Frauen, getrennt, jeweils unterschieden nach Alter durch die Kopfbedeckung. Die konfirmierten Mädchen bilden zwei noble Reihen in einer Tracht, die nachgebildet ist der Festkleidung ungarischer Adeliger. Die mutwilligen Buben stecken die Köpfe beim Wehrturm zusammen, die Schulmädchen mit den gestärkten Schürzen warten in der Obhut des Segensspruchs: Weise mir, Herr, deinen Weg. Der Kindergarten krabbelt in Kniehöhe der Großmütter und der verheirateten Frauen. Es schmettert die Blasmusik einen Tusch, die ersten Takte des Te deum: „Großer Gott, wir loben Dich!“ Der Pfarrer nickt wohlgefällig, bis vor kurzem mit Clarissimus betitelt, der Pfarrfrau schwellt es den Busen, selbst wenn nur achtzehn, wird sie mit “Frau Mutter!“ angeredet. Die Pfarrerskinder, im Volksmund Klaritätchens genannt, bilden eine stolzgeblähte Eselsleiter. Und nicht gilt der Satz in Siebenbürgen: „Pfarrerskinder, Müllers Vieh, gedeihen selten oder nie!“ In das Gotteshaus hinein schreitet man nach altehrwürdiger Ordnung: Als Erster betritt der Pfarrer die Kultstätte, es folgen die Männer und die Knaben. Hinter dem kleinsten Kindergartenbub führt letztendlich die Pfarrersgattin die Frauen und Mädchen in die Kirche. Auch hier hat Groß und Klein seinen Sitz nach Alter und Geschlecht. Wie auch im Dorf jedes Haus weiß, wohin es gehört: Die Nachbarschaft begleitet jeden Insassen von der Wiege bis zur Bahre. Die Wöchnerin weiß, wer wieviel Windeln zu bringen hat, und der Sterbende, wer an der Reihe ist, das Grab auszuheben und wer den Sarg auf den Friedhof trägt. Es sind gefügte Lebensformen christlicher Nächstenliebe. Was ein Theologe extravagant so ausdrückt: Die Liebe ist eine verlässliche Ordnung des Zusammenlebens. So sind wir als Kirche der Ordnung gleichsam auch Kirche der Liebe.

Von der strotzenden evangelisch-sächsischen Kirchengemeinde Rothberg sind wir noch fünf Greise zu begraben, zwischen siebzig und scheintot, wie jemand befand. Nach dem blutigen Ende der Diktatur haben unsere Leute schlagartig ihre Gemeinden verlassen, haben sich allesamt aufgemacht zurück „in die Urheimat“, oder wie Ältere es sagten: „Heim ins Reich!“. Was über Jahrhunderte unsere Stärke war: „Jeder macht nach festgefügten Regeln das, was alle machen, wurde, nachdem der Eiserne Vorhang geschmolzen war, zum Verhängnis: Einer zog panisch den anderen mit, sogar den, der auf seinem Hof bleiben wollte: „Alle Nachbarn sind weg. Soll mich der Zigeuner begraben?“ Umsonst mahnte der Pfarrer: „ Vorsicht: Hier seid Ihr Jemand. Dort seid ihr Irgendjemand!“ Es blieb der Pfarrer, ich. In der gottverlassenen und leergebeteten Kirche halte ich jeden Sonntag in der Kirche Gottesdienst mit allem Drum und Dran von Singen und Sagen und Segnen. Warum das? Um den liturgisch verwöhnten und nunmehr verlassenen Gott zu trösten. Und mich oft Gottverlassenen ebenso zu trösten. Die Predigt trage ich aus dem Stegreif vor. Somit prüfe ich meine Geistesgegenwart. Ich bin seit der Einwanderung der 99. Pfarrer in Mons rubens, davon der 51. evangelische nach der Reformation. Und der letzte Pfarrer. Gott wird es Tränen kosten, wenn mein Auge bricht mit den verblichenen Gesichtern, wenn meine Stimme erstirbt mit den vertrauten Namen.

Der Park hat sich beruhigt. Was jedoch geschieht jetzt in meiner Kirche? Nun also: Die Rothberger Waldorfschule übt für die Weihnachtsvesper zwei Stücke ein: die Vertreibung aus dem Paradies und das Krippenspiel. Diese Schule ist das Werk von Frau Annette. Diese energische Frau hat die Schule ins Leben gerufen. Und sie erhält sie am Leben. Es geht der Dame aus Deutschland um die Kinder vom Bach. Der Anstoß, nein, der Urknall geschah auf dem Pfarrhof! Ihre Familie weilte bei uns zum Tee, drei halbflügge Kinder und die Eltern, beide Gastlehrer in Hermannstadt. Ich eröffnete ihnen, dass sich Rothberg, Mons rubens, Roşia nicht erschöpfe in der Bürgerlichkeit des Pfarrhauses mit den althergebrachten Möbeln, sondern dass es auf einen Steinwurf weit die Dritte Welt gebe. Frau Annette und Tochter Julia waren bereit, mit mir hinunterzusteigen an den Bach zu den Lehmhütten. Der Zusammenprall zweier Welten war so mächtig, dass Frau Annette in die Hände klatschte und alsbald die Waldorfschule aus dem Boden stampfte. Darüber sind fünfzehn Jahre vergangen. Ihre Familie hat sich in alle Welt zerstreut. Frau Annette dagegen hat sich in Rothberg ein Haus gekauft. Sie sagt: Roşia. Die Waldorfschule ist die einzige dieser Art in einem Dorf in Rumänien: gepflegtes Ambiente, Parkett, Wasserklo, Duschkabinen; und rundum und innerhalb viel an ausschweifender Augenweide, an rhythmischem Sinnenrausch, an Fingerfertigkeit, an ausgelassener Freiheitlichkeit.

Diese Schule fängt Kinder aus den Lehmhütten auf, die bei der Staatsschule keine Chance haben. Auch ein zwölfjähriges Mädchen kann man in die erste Klasse stecken. Gelernt wird kaum etwas. Nicht weil es an tüchtigen Lehrern mangelte. Sondern weil in solchen Familien die Kinder ab neun Jahren ausgeschickt werden, um Geld zu machen. Und wenn sie sich hinterrücks in die Schule davonmachen, oft mit Dresche am Buckel, dann weil sie dort eine Jause bekommen und ein Mittagessen und vor allem weil sie sich während der Stunden mit viel Radau köstlich unterhalten. Vor allem entrinnen sie einen Tag lang dem Schmutzbach. Am ehesten sind sie animiert bei Singen, Tanzen und Springen. Dafür werden Fachkräfte aus Kassel eingeflogen, wobei die Kinder das alles von Natur aus können.

 

Dienstag im Advent 2015

Seit siebenunddreißig Jahren lebe ich hier in Rothberg auf dem Pfarrhof. Geboren 1933, deckt sich kein Segment meiner Biographie mit einem ähnlichen Zeitraum. Bevor mich Bischof Albert Klein im November 1978 hierher entsandt hatte, weissagten mir Kenner: „Du wirst es dort nicht mehr als ein Jahr lang aushalten! Die Zigeuner stehlen dir die Haare vom Kopf. Die Rumänen sind Chauvinisten und werfen dir die Fensterscheiben ein. Und die Sachsen zerfallen in zwei Lager und bekriegen sich, wie in vielen unserer Kirchengemeinden.“ Nun: Ich bin noch hier! Weiße Haare türmen sich auf meinem Haupt, die Fensterscheiben sind ganz; und als meine sächsischen Kirchenkinder 1990 davonstürzten, Heim und Hof fluchtartig verließen, obwohl sie niemand vertrieben hatte, konnten sie allesamt in Frieden zurückblicken.

Jedoch: Gleich zu Anfang nahm ich mir ein Herz und ging hinunter an den Bach zu den braunen Brüdern und Müttern und Kindern. Sie nennen sich tzigani, müssen sich seit 2007, EU-konform, nunmehr mit dem Namen Roma abfinden, ohne zu verstehen, was man von ihnen will. Es brodelte vor Aufregung! „Nemaipomenit, popa saşilor printre noi!“ befanden steinalte Urmütter. Nie dagewesen, der Pope der Sachsen unter uns! Ich sprach mit ihnen, ich redete mit ihnen. Wie? Bitte, auf Augenhöhe, wie das so heißt.

Als Tagelöhner in der Ziegelbrennerei in Fogarasch, bestraft nach der politischen Haft, hatte ich dortselbst die Sprache ihres Herzens erlernt. Heute noch rede ich mit jedem „copil de țigan“, als ob es der Bischof wäre. Doch mit dem hochwürdigen Bischof dann doch nicht, als ob er ein tzigan wäre. Und ich eröffnete dem Unterdorf! Jeder, der bei mir anklopft, kann rechnen: auf eine offene Tür, ein offenes Ohr, ein offenes Herz und oft auf eine offene Hand. Was sich die Sippen vom Bach nicht zweimal sagen ließ. Die Pfarrfamilie musste das mittragen. Wobei das Angebot für alle und jeden galt, auch die eigene Frau und die Tochter. Durchgehalten wurde der Gruß über der Eingangstür „Willkommen im Pfarrhaus“. Und das selbst, als die Securitate den Besuch von Ausländern verbot. Ost- und westdeutsch fraternisierte in der pfarramtlichen Küche, Jahre ehe die Mauer fiel. Heute schneien mitten in der Nacht Wandervögel herein.

Bereits im ersten Herbst ist es geglückt, den Kirchpark als Heimstätte von Trinkgelagen freizubekommen. Nicht dass ich Hunde auf die ungebetenen Gäste hetzte oder sie schnöde als Zigeuner beschimpfte. Vielmehr gesellte ich mich zu den pokulierenden Männern ins Gras und redete mit ihnen: „Dass ihr eure Frauen nicht kränken wollt und euch hinter den Turm der Sachsen versteckt, das ist zu verstehen! Aber noch mehr kränkt ihr durch euren täglichen Umtrunk unseren Herrgott. Denn hier ist geweihte Stätte, es ist der Wohnort Gottes, wo Gott, der heilige und liebliche, nicht  gestört werden darf.“ Seit damals sind nahezu vier Jahrzehnte vergangen, zur vollen Zufriedenheit Gottes.

Journalisten und Reportern, die mich auf das „Zigeunerproblem“ ansprechen, bedeute ich, bitte, das Kunstwort Roma wird geflissentlich gebraucht: „Ich kenne keine Zigeuner, geschweige Roma! Ich kenne nur Menschen in Not, die bei mir anklopfen.“ Dabei geht es mir um den Satz in den Evangelien: „Jesus sah die Not des Volkes und es dauerte ihn!“ Erkennen und erbarmen, das gehört zusammen! Oder wie es im Stundengebet heißt: „Herr, gib uns den Blick der Liebe, das rechte Wort, die helfende Tat!“ Erst in dieser Abfolge, als Erstes im Blick der Liebe, wird das Wort zur Tat. Jedoch: Zur Barmherzigkeit gehört nicht nur Herz, sondern auch Verstand. Der hat mich oft im Stich gelassen.

In einem Brief an einen Gutgesinnten erkläre ich mich:

„Mit den Jahren hat sich das Konzept der Fürsorge verändert. Kurz gesagt: Nicht nur fördern, sondern auch fordern. Galt für mich lange Zeit der von mir fälschlich verkürzte Satz Christi beim Jüngsten Gericht (Matthäus 25,40): Alles, was ihr einem Geringsten getan habt, habt ihr mir getan, so bin ich spät darauf gekommen, dass die genaue Version lautet: ‚Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan.‘

Darum meine ich, dass ich fordern kann und soll, wenn einer anklopft: „Zeig an, worin hast du dich als Bruder Christi erwiesen? Und wenn es nur ein Vaterunser ist, das ein Kind aufsagt; oder ein Husch sonntags zur orthodoxen Endlosmesse; oder dass einer im Vorübergehen dem rumänischen Popen die Hand geküsst hat, wie es sich ziemt, oder den Haushund an eine längere Kette legt, oder dass Mütter die bekackten Pampers nicht in den Nachbarhof werfen – so billig gilt die Gnade.

Das andere ist, dass ich vordringlich dort bereit bin mitzuhelfen, wo der Wille zum Weiterkommen, zum Besserwerden greifbar ist. Zum Beispiel ‚alleinerziehende‘ Mütter mit Kindern von vielen Vätern. Oder Familien mit sieben Kindern, die die Lehmhütte in ein Steinhaus umbauen wollen; oder solche, die gewillt sind, dass die Kinder in Hermannstadt an Oberschulen etwas werden, oder...

Wie Sie wissen, schließe ich den Brief, liegt mir am Herzen die Förderung von Schulkindern. 8AchtKlassen sind bei uns verpflichtend. Nachher bist du vogelfrei. Die Mädchen bekommen Kinder. Die Burschen verschwinden in der Szene. Dagegen lehrt die Erfahrung: Mit einem Abschlusszeugnis gibt es Arbeit und die Spirale der Armseligkeit dreht sich nach oben.“

 

Mittwoch im Advent 2015

Mein Gott: Das Alte ist vergangen. Aber das überraschend Neue, man tut sich schwer damit! Sogar ich tue mich schwer, der ich seit gut drei Jahrzehnten bei den Leuten am Bach ein- und ausgehe. Deren aufgeweckte Kinder mir ans Herz gewachsen sind, selbst wenn sie mich beschwindeln, zum Beispiel mir Blumen schenken – aus meinem Garten. Sie wissen, weshalb die Engel auf dem Altar barfuß sind, sagen es und seufzen: „Die brauchen keine Schuhe, wie wir. Sie fliegen.“ Mit Handauflegen segne ich sie, in der Kirche: „pace si paine“. Sie verstehen sofort, Frieden und Brot! Kein Streit im Haus und Essen auf dem Tisch. Ich mahne an: „Befleißigt euch guter Gedanken und Worte und Taten!“ Jeden Tag lasse ich sie im Pfarrgarten auf der Affenschaukel hutschen. Vielen habe ich Mathematik, Lesen und Tangotanzen beigebracht; und dass man sich mit sauberen Fingernägeln gut fühlen kann. Das geht bis dahin, dass manche in der Pfarrküche ihre Aufgaben machen, sich wärmen, mit uns die Mahlzeiten teilen, dass die Mädchen duschen und sich vor allem fesch machen, auch mit meinem Rasierwasser.

Ich höre mir vor dem Gekreuzigten ihre geschlagenen Mütter an, die getröstet und gesegnet sein wollen. Doch dies alles geschieht fein dosiert. Nicht zu viel, nicht zu viel auf einmal. Gelernt habe ich von ihnen: Gottvertrauen und Lebensfreude. Ihr Zeitgefühl ist pure Gegenwart. Nichts vorher, nichts morgen.

Wundere mich, bewundere sie, dass sie von Null-komma-nichts-Arbeit frohgemut über die Runden kommen. „Was habt ihr am Morgen gegessen?“ „Was von Abend übrig  geblieben ist.“ „Was esst ihr zu Mittag?“ „Wir essen nur zweimal am Tag.“ „Und was esst ihr am Abend?“ „Was Gott der Liebliche gibt.“ Und Gott gibt!

Kirche, der Pope und Gott sind hierzulande tausendfach gefragt, vor allem ist Gott dauernd gefordert.

Otto Schily, den Bundesminister des Inneren, klärte ich auf – er wollte eine Kirche deutscher Sprache besichtigen, älter als Berlin: „Sie, Herr Bundesminister, sind in einem Land, wo Gott alle Hände voll zu tun hat, nicht weiß, wo ihm der Kopf steht. Von über 20 Millionen Einwohnern Rumäniens haben bei der Volkszählung bloß einige Tausend angegeben, sie gehörten keiner Kultgemeinschaft an.“ Ich fragte den hohen Gast, der mit viel Gefolge und mit dem rumänischen Innenminister und Leibwächtern zuhauf in der Kirche saß: „Wissen Sie, wo Gott sich ausruht?“ Er wusste es nicht! „Bei Ihnen im Westen, dort hat er kaum etwas zu tun; wo die meisten ihr Leben vorgeplant haben bis jenseits des Jüngsten Tages!“

Nun sitzt der schnatternde Schwall der Schüler mitten in meiner Kirche, verzuckert durch Erwachsene die Menge – Großmütter, Männer, Frauen, sie haben Zeit und Lust. Ob der einseitig verwöhnte Gott dieser Kirche damit fertig wird, dass nach Jahrhunderten nunmehr jäh fremdartige Vokale an sein hochfliegendes Ohr schlagen?

Oder ist das eher eine verhüllte Frage an mein erschrockenes Gemüt? Denkbar deswegen, weil ich seit zwölf Jahren gewöhnt bin, die geweihten Areale allein mit Gott zu teilen. Musste ich in den ersten Jahren an mir halten, wenn ich die verödete Kirche betrat, so ist es nunmehr gerade die numinose Leere, die mir Frieden beschert, mir geistlich Obdach bietet und mir seelsorgerlich Heimstätte ist.

In meiner Verwirrung luge ich aus auf den Geist des Advents mit seiner Verheißung und Erleuchtung. Gott erfüllt nicht unsere Wünsche, jedoch seine Verheißungen.

 

Donnerstag im Advent 1215

Es scheint so, als beginne für die nahezu achtjährige Geschichte der sächsischen Kirche von Rothberg eine neue kultische Zeit. Wie gesagt: Die Waldorfschule von Roşia wird im Chorraum eine Weihnachtsfeier in Szene setzen: Die Vertreibung aus dem Paradies und die Geburt des Heilandes in Bethlehem. Morgen ist Generalprobe, am Sonntag die Darbietung. Für die Sprache der Straße, ob sächsisch oder rumänisch, wird es heißen: „Die Zigeuner haben die sächsische Kirche gestürmt.“ Und unter ausgewanderten Landsleuten in Deutschland könnte das unter dieser Flagge segeln: „Na bitte, nach zwanzig Jahren ist es dem Pfarrer doch gelungen, die Zigeuner in unsere heilige Kirche zu bringen.“

Das Gemüt verdüstert sich im Fragen nach Regeln in der aufgebrochenen Unordnung: Ob ich mich bei der ungewöhnlichen Vesper einbringe? Und wenn, dann in der althergebrachten Bank des Pfarrers sitze, oder vor dem Altar schweige oder laut bete, oder… Oder ob ich mich besser aus dem Staub mache – ins Gefängnis zu meinen Schutzbefohlenen oder zu den Familiengräbern nach Fogarasch. Wie immer, ein Wetterleuchten wird es geben. Daran ändert nichts, dass diese Festivität vom Bezirksdekanat in Hermannstadt abgesegnet worden ist. Bedrückt schleiche ich mich in die Kirche zum Nachtgebet.

Das Ungewöhnliche kündigt sich schon bei dieser solitären Andacht an. Zu sehen ist, dass sich der Chorraum in einen paradiesischen Tannenwald verwandelt hat, der fatale Apfel hängt an einem Zweig. Alles ist anders als zu sächsischer Zeit, wo ein einziger riesiger Tannenbaum emporragte. Doch es bohrt: Was weiter mit mir? Im liturgischen Gemurmel des Komplets höre ich: „Herr, lass im Dunkeln uns leuchten das Licht deiner Wahrheit!“

Und es leuchtet auf! Ein Licht ist mir in der Nacht aufgegangen.

Ich nehme mir für die erste Stunde vor: Du wirst beim Morgenlob vor dem Altar unserem Herrgott eine Eröffnung machen! Gott werde von nun an nicht mehr mit meinem einem Gesicht vorlieb nehmen können, sondern mit vielen ungewohnten und ungewöhnlichen Gesichtern. Und Gott werde sich einstellen müssen darauf, dass nunmehr in anderen Zungen gebetet, gesungen, gelobt und gepredigt wird, und dazu getanzt und gespielt; dass inhaltlich und sprachlich etwas Neues dazukommen werde zum offiziellen Titel der Evangelischen Kirche Augsburger Bekenntnisses in Rumänien mit deutscher Verkündigungs- und Amtssprache, durch allerhöchstes Dekret von Bukarest also beglaubigt.

Das bedeutet, dass auch der ans Eintönige gewöhnte Gott dieser Kirche sich in eine neue Situation schicken muss. Ich aber werde kraft meines Amtes als ordinierter Pfarrer der evangelischen Kirche dies alles absegnen im Namen des Dreieinigen Gottes: Es sei somit gesetzt der Anfang und Ursprung eines heilsgeschichtlichen Beginnens über die Zeiten hinweg. Und im Fürbittgebet werde ich das so exotische Geschehen schleunigst in die allmächtigen Hände Gottes legen.

Es kam noch anders. Als ich tags darauf in die sonst einsame Kirche zum Morgengebet trete, im Talar mit Barett, ist der Gottesraum belebt von fremden Menschen: Die Lehrerschaft ist versammelt, umwallt vom gefrorenen Hauch einer kalten Nacht. Die eigentlichen Akteure, leichtgeschürzte Schülerinnen und knappbekleidete Knaben, wärmen sich die Hände beim mickrigen Ofen. Ich stocke überrascht. Ich überlege eine Sekunde, wie weiter? Protokollarische Begrüßung mit Händeschütteln - als Vorgang beliebig. Oder zuerst der kultische Akt des Morgenlobs beim Altar?

Ich grüße angemessen, bahne mir den Weg durch die bibbernde Menge der Mimen und den statischen Tannenwald bis nach Jenseits von Eden. Ich singe die Liturgie der Matutin halblaut zu Füßen der geschnitzten Engel; erst nach dreißig Jahren Altardienst habe ich entdeckt, dass die zwei Engel barfuß sind, Maria und Johannes aber Kneipp-Sandalen tragen, oder ganz modern: Flipflop, mit der Lasche über der großen Zehe. Im Gebet, dem „großen Gespräch“ mit Gott, bringe ich das erstmalig Neue vor, das hinter meinem Rücken Gestalt annimmt. Und bitte um Huld und Gnade. Darauf singe ich wie gewohnt das Vaterunser in der Muttersprache und ebenso den Schlusssegen. Ich trete aus den schicksalsträchtigen Bäumen hervor. Ich schüttle die Hände der etwa zwanzig anwesenden Akteure, auch die Lehrer haben ihren Part beim frommen Spiele. Ich mache mich einzeln kundig, wer welches Fach in der Schule vorträgt. Und frage, ob man wisse, wie alt die Kirche sei? Der Turnlehrer weiß es.

Ich erkläre, dass ich eben im Gebet unserem Herrgott eröffnet habe, was? Dass nach nahezu achthundert Jahren Messen und Gottesdienste in Deutsch eine neue liturgische Epoche anhebt. Dass ich das begrüße und warum ich es begrüße! Nämlich dass hier, nach über fünfzehn Jahren stummer Sonntage, wieder die Frohe Botschaft verkündigt wird im Kollektiv, wenn auch anders als bisher. Und führe aus: Immer wieder von ausländischen Besuchern behutsam gefragt, wie es „nach mir“ in dieser verlassenen Kirche weitergehen werde, ist meine Antwort als Wunschvorstellung diese, bitte, zuerst einmal ausgedrückt in dem, was ich nicht wünsche: Fahrendes Volk möge seine Ziegen nicht in dieser Kirche halten, auch möge der Kirchenraum nicht als Kinosaal strapaziert werden oder einem Boxring zum Juchhe dienen. Sondern es möge weiterhin Gott hier seine Wohnstätte haben, es solle auch weiterhin ein Ort der Weihe bleiben, wo Gott in welcher Volkssprache und konfessioneller Form auch immer begrüßt und gepriesen werde.

Ich schließe auf Rumänisch, der neuen Verkündigungssprache, mit dem trinitarischen Segensspruch: Sǎ fie intrun ceas bun spre bucuria lui Dumnezeu al nostru şi al multor oameni de bunăvoie si bunăcredință. Dumezeul Tatăl, Fiul si Sfântul Duh să vă binecuvânteze şi să vă ocroteasca în veciul vecilor! In Ewigkeit. Amen!

Ich drücke die Hand einer aufgeschossenen Engelsgestalt, einer messingblonden Schönheit. Von der ich meine, sie sei die Lehrerin für Eurhythmie, frisch eingeflogen von Berlin-Kreuzberg. Doch lachend wird mir bedeutet, dass die Gemeinte zur Schülerschaft gehöre. In der ersten Lehmhütte beim Bach hause sie, elektrisches Licht, gemauertes Klo. Wisse ich das nicht mehr? Und die nunmehr die abtrünnige Eva verkörpere: Dort wippe der Apfel verführerisch am Tannenbaum!

Ja, ich walle davon, nahezu beschämt. Beschämt in dem, was mir, dem Kleingläubigen, wieder einmal durch himmlische Regie eröffnet worden war: „Wir haben es wahrhaftig mit einem Gott der Überraschungen zu tun, dessen Phantasie unsere Vorstellungskraft wieder und wieder überflügelt!“