Tschuggnall Peter - Abraham-Isaak-Opferung - TheoArt-komparativ

Tschuggnall Peter

Abraham-Isaak-Opfergang


Abrahams Opfer(-Gang) ist ohne Zweifel eine jener biblischen Erzählungen aus Literatur, Musik und anderen Künsten, die Kunstschaffenden – gleich ob religiös, atheistisch oder agnostisch sozialisiert – als Kontext dienen. Neben vielen anderen regte diese Erzählung Kaiser Leopold I. schöpferisch an, Antonio Scarlatti, Carl Amand Mangold und Igor Strawinsky, Rembrandt und Marc Chagall. Philosophen wie Kant, Hegel und Schelling, Sartre, Simon de Beauvoir und Leszek Kolakowski wenden sich diesem Text leidenschaftlich zu, Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts, im Besonderen in Erinnerung an die Shoah in der jüdischen Literatur nach 1945.

Der Text der Erzählung Gen 22,1-19 lautet:

Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe: Er sprach zu ihm: Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. (2) Gott sprach: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Moria, und bringe ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar. (3) Frühmorgens stand Abraham auf, sattelte seinen Esel, holte seine beiden Jungknechte und seinen Sohn Isaak, spaltete Holz zum Opfer und machte sich auf den Weg zu dem Ort, den ihm Gott genannt hatte. (4) Als Abraham am dritten Tag aufblickte, sah er den Ort von weitem. (5) Da sagte Abraham zu seinen Jungknechten: Bleibt mit dem Esel hier! Ich will mit dem Knaben hingehen und anbeten; dann kommen wir zu euch zurück. (6) Abraham nahm das Holz für das Brandopfer und lud es seinem Sohn Isaak auf. Er selbst nahm das Feuer und das Messer in die Hand. So gingen beide miteinander. (7) Nach einer Weile sagte Isaak zu seinem Vater Abraham: Vater! Er antwortete: Ja, mein Sohn! Dann sagte Isaak: Hier ist Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das Brandopfer? (8) Abraham entgegnete: Gott wird sich das Opferlamm aussuchen, mein Sohn. Und beide gingen miteinander weiter. (9) Als sie an den Ort kamen, den ihm Gott genannt hatte, baute Abraham den Altar, schichtete das Holz auf, fesselte seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. (10) Schon streckte Abraham seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. (11) Da rief ihm der Engel des Herrn vom Himmel her zu: Abraham, Abraham! Er antwortete: Hier bin ich! (12) Jener sprach: Streck deine Hand nicht gegen den Knaben aus, und tu ihm nichts zuleide! Denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest; du hast mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten. (13) Als Abraham aufschaute, sah er: Ein Widder hatte sich hinter ihm mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen. Abraham ging hin, nahm den Widder und brachte ihn statt seines Sohnes als Brandopfer dar. (14) Abraham nannte jenen Ort Jahwe-Jire (Der Herr sieht), wie man noch heute sagt: Auf dem Berg lässt sich der Herr sehen. [...] (19) Darauf kehrte Abraham zu seinen Jungknechten zurück. Sie machten sich auf und gingen miteinander nach Beerscheba. Abraham blieb in Beerscheba wohnen.

I.

Gen 22,1-19 gilt der Theologie gewissermaßen als ein locus classicus gehorsamer Gottesfurcht. Auch für die Literaturkritik ist der Text von Interesse. In seiner vergleichenden Studie Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946) vergleicht Erich Auerbach die Erzählung mit dem neunzehnten Gesang von Homers Odyssee, jener Stelle, nach der Eurykleia den heimgekehrten Odysseus an einer Narbe erkennt.[1] Es geht Auerbach darum, die Eigentümlichkeiten der beiden Stile herauszuarbeiten, weil sie in ihrer Gegensätzlichkeit Grundtypen darstellen und eine konstitutive Wirkung auf die europäische Wirklichkeitsdarstellung und auf die gesamte Kultur ausgeübt haben.

Auerbach kommt zu dem Schluss, dass Homer nicht wie der biblische Erzähler das Stilelement der Spannung aufgreift, sondern das Stilmittel des Retardierens, das den Gang der Handlung immer wieder unterbricht. Während Homer bestrebt ist, nichts im Unklaren zu lassen, ist die biblische Erzählung geprägt durch Herausarbeitung einiger und Verdunkelung anderer Teile, durch Abgerissenheit und suggestive Wirkung des Unausgesprochenen, durch Hintergründigkeit und Vieldeutigkeit; „weltgeschichtlicher Anspruch, Ausbildung der Vorstellung vom geschichtlich Werdenden und Vertiefung des Problematischen“ finden sich darin miteinander verwoben.

Der Verfasser beziehungsweise Redakteur des im 11. Jahrhundert entstandenen und in zwei Fassungen – der Straßburger sowie Vorauer Handschrift – überlieferten Ezzolieds, vergleicht Abrahams Opfer mit dem Abels und stellt eine Verbindung mit der Mose-Geschichte und Jesu Kreuz her. Spätere Literatur akzentuiert anders. So wirft Immanuel Kant ein, der Befehl an Abraham, seinen Sohn zu opfern, könne nicht von Gott gekommen sein. Im Streit der Fakultäten weist Kant schon 1798 darauf hin, Abraham hätte auf diese vermeintliche göttliche Stimme antworten müssen, „dass aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiss, und kann es auch nicht werden, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallete“[2]. In Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft verneint Kant die Auffassung, ethische Gesetze könnten ursprünglich von Gott ausgehen; Gott könne nur zusätzliches Motiv hierfür sein.[3] Der frühe Georg Wilhelm Friedrich Hegel sah im Zusammentreffen der theoretischen Grundlagen der Kant’schen Kritik mit den Grundprinzipien von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit Zeugen des Aufbruchs einer neuen Epoche, Abrahams Dasein wiederum ganz auf Gott hin ausgerichtet, ein Einzelner, der sich nicht durch Zwänge eines Systems vereinnahmen und auch nicht durch die sozusagen „dunkle“ Seite Gottes aus der Fassung bringen lässt[4] (die ja für Hegels Kollegen im Tübinger Stift, Schelling, für dessen Lebendigkeit notwendig ist).

Wiederum anders deuten Vertreter philosophischer Richtungen des 20. Jahrhunderts. Der marxistisch orientierte polnische Denker Leszek Kolakowski sieht in Abraham einen Systemträger. In seiner Abhandlung Abraham oder eine höhere Trauer spricht er von einem „Gehorsamsapostel“, von dem absoluter Gehorsam der Obrigkeit gegenüber gefordert ist.[5] Das ist ernstzunehmende Kritik einer Gesellschaft, die unreflektierte Gefolgschaft gutheißt, wie sie auch Woody Allen in einer intellektuell-bitterbösen literarischen Satire – Ohne Leit kein Freud[6] – äußerte und die Bezug nimmt auf Kierkegaards Deutungsmodell in Furcht und Zittern und entsprechende Nachfolge, die noch krasser die Gewissheit der göttlichen Aufforderung hinterfragt. In seinem Essay Ist der Existentialismus ein Humanismus? fragt Jean Paul Sartre: „Ist es wirklich ein Engel, und bin ich wirklich Abraham? Welcher Umstand beweist mir das?“, und Simone de Beauvoir gibt mittels des Titels Soll man de Sade verbrennen? zu bedenken: „Nur durch eine irdische Stimme könnte Gott sich uns offenbaren, da unsere Ohren andere Stimmen nicht zu vernehmen vermögen: Aber wie könnte man dann ihren göttlichen Charakter vernehmen?“[7]

Entsprechende Deutungsvorschläge scheinen beeinflusst von Sören Kierkegaard und seiner Schrift Furcht und Zittern (1843).[8] Die theologisch-literaturphilosophische Abhandlung ist im Untertitel als „dialektische Lyrik“ bezeichnet und einem Pseudonym namens Johannes de Silentio zugeschrieben, sie ist eine Um-Deutung der biblischen Abraham-Isaak-Erzählung, auch literarischer Ausdruck von Kierkegaards frühem Glaubenskampf, seiner Entlobungskrise und seiner kritischen Beurteilung des hegelschen Systems, somit also eine Standortbestimmung in Bezug auf Glaube, Existenz und Philosophie. Kierkegaard umkreist den Sprung aus dem ästhetischen und ethischen Lebensstadium in die Sphäre des Glaubens. Den von ihm als „Glaubensritter“ bezeichneten Abraham vergleicht Kierkegaard mit ethisch-tragischen „Helden“ (Agamemnon, Jephta und Junius Brutus) sowie mit ästhetischen (zum Beispiel Faust und der alttestamentlichen Tobias-Gestalt). Im Gegensatz zu diesen jedoch glaubt Abraham „kraft des Absurden“, sein Glaube sei nicht verifizierbar, ein mit dem Verstand nicht fassbares Paradoxon.

Vier Meditationen stimmen in die Schrift ein. Das hervorstechende Merkmal dieser Umdeutungen ist der Umstand, dass Kierkegaard gerade durch Akzentverschiebungen die Intention der biblischen Vorlage verdeutlicht. Das geht insbesondere aus der ersten Variation – am Beginn steht als Zitat Gen 22,1f – hervor, die offenkundig auch biografische Anhaltspunkte aufweist: Kierkegaards Vater schweigt gegenüber seinem Sohn über Anlass und Ursache seiner Niedergeschlagenheit und dieser gibt sich wiederum eher als ein Schuft aus, als seiner Verlobten Regine Olsen die wahren Hintergründe der Trennung darzulegen. Kierkegaards Alter ego Johannes de Silentio schreibt, auch unter dieser Rücksichtnahme, die biblische Erzählung entsprechend um (was besonders die letzten Zeilen der folgenden Variation deutlich machen):

„Und Gott versuchte Abraham und sagte zu ihm: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebst, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn dort zu einem Brandopfer auf dem Berge, den ich dir zeigen will“ [1. Mose 22,1-2].
Es war ein früher Morgen. Abraham stand zeitig auf, ließ die Esel satteln und verließ mit Isaak seine Wohnstätte. Sara aber sah ihnen vom Fenster aus nach, hinab ins Tal, bis sie sie nicht mehr sah. Sie ritten schweigend drei Tage lang, am Morgen des vierten Tages sagte Abraham noch immer kein Wort, sondern erhob seine Augen und sah den Berg Morija in der Ferne. Er ließ die Knechte zurück und ging allein mit Isaak an der Hand auf den Berg. Aber Abraham sprach zu sich selbst: „Ich möchte doch vor Isaak nicht verheimlichen, wohin ihn dieser Gang führt.“ Er blieb stehen, legte seine Hand zu einem Segen auf Isaaks Haupt, und Isaak beugte sich, um den Segen entgegenzunehmen. Und Abrahams Angesicht war voll väterlicher Liebe, sein Blick war mild, seine Worte klangen ermahnend. Aber Isaak konnte ihn nicht verstehen, seine Seele konnte sich nicht erheben; er umfasste Abrahams Knie, er warf sich flehentlich vor seine Füße, er bat um sein junges Leben, um seine hoffnungsvolle Zukunft, er erinnerte an die Freude im Hause Abrahams, und er erinnerte an den Kummer und an die Einsamkeit. Da richtete Abraham den Jungen wieder auf, nahm ihn an die Hand und ging weiter, und seine Worte waren voll Trost und Ermahnung. Aber Isaak konnte ihn nicht verstehen. Er bestieg den Berg Morija, aber Isaak verstand ihn nicht. Da wandte er sich einen Augenblick von ihm ab, aber als Isaak das Angesicht Abrahams wieder zu sehen bekam, da war es verändert, sein Blick war wild, seine Erscheinung war entsetzlich. Er packte Isaak an der Brust, warf ihn an die Erde und sagte: „Dummer Junge, glaubst du, ich sei dein Vater? Ich bin ein Götzenverehrer. Glaubst du, es ist Gottes Befehl? Nein! Es ist meine Lust.“ Da erbebte Isaak und rief in seiner Angst: „Gott im Himmel, erbarm dich meiner, Gott Abrahams, erbarm dich über mich; habe ich keinen Vater auf Erden, so sei du mein Vater!“ Aber Abraham sagte leise bei sich selbst: „Herr im Himmel, ich danke dir; es ist doch besser, dass er glaubt, ich sei ein Unmensch, als dass er den Glauben an dich verlöre.“[9]

Am Beispiel von Furcht und Zittern kann die Fragestellung, wie eine literarische Vorlage weiterwirkt, welche Wirkung ein Einfluss hervorruft und welchen aktuellen Anreiz sie bietet, gut erörtert und kann der Blick auf die Sphäre der Intertextualität methodisch geschärft werden. Sören Kierkegaard, dessen methodisches Vorgehen von der Frage der menschlichen Existenz geleitet ist, nutzt als ein in Fragen von Dichtung und Musik sehr interessierter „religiöser Schriftsteller“ die Möglichkeit kreativer literarischer Gestaltung. Der Text Gen 22,1-19 bildet hierbei den Kontext, dem er sich gewissermaßen in „Furcht und Zittern“ annähert und den er – um seine Intention zu veranschaulichen – gewollt anders akzentuiert als dies ein bibeltheologischer Befund der Stelle ergeben würde.

II.

Geleitet von Gedankengängen Kierkegaards sind Varianten von Franz Kafka, Thomas Mann und Martin Buber angesiedelt. Die Parabel Vor dem Gesetz (1914/15) hat Franz Kafka als Schlüsselszene in den Roman Der Prozess eingebunden:

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht“. Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseitetritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere.“ [...] Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. [...] Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ [...] Er wird kindisch, und da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. [...] Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer einzigen Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zu Ungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“, fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es, dass in den kommenden Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“[10]

Der „Mann vom Lande“, der vor dem „Gesetz“ steht, vermeint die „Verzögerungen“ von den anderen her verursacht. Sein eigenes Tun steht zur Disposition, er selbst ist es, der nicht handelt, weil er das Wesentliche nicht erkennt. Er zaudert, es fehlt der Mut zum kierkegaardschen „Sprung“ in das Ungewisse! Mittels Verunsicherung, die in Mutlosigkeit und schließlich in Apathie mündet, zeigt der Autor die Entfremdung eines modernen Menschen, seine Unsicherheit und Haltlosigkeit. Im Gegensatz zu dem beliebigen Mann vor dem Gesetz verhält sich der biblische Abraham auf die Forderung hin, ins Ungewisse zu gehen – „Nimm!“ (Gen 22,2) – anders. Er macht sich sofort auf den Weg. Was ist sein Impuls hierfür, worin wurzelt seine moralische Einstellung? Suspendiert er, wie Kierkegaard fragt, das Ethische?

Kafka, einer der frühesten und glühendsten Verehrer Kierkegaards, übt Kritik an dessen Idee vom Glaubens-„Sprung“. Der Verfasser der Parabel gibt in einem Brief an Robert Klopstock (Juni 1921) persönliche Gedanken über einen „anderen Abraham“ preis, einen, „der durchaus richtig opfern will und überhaupt die richtige Witterung für die ganze Sache hat, aber nicht glauben kann, dass er gemeint ist, der widerliche alte Mann und sein Kind, der schmutzige Junge“. Kafka gibt im Gegensatz zu Kierkegaards Darstellung zu bedenken, er könne den „Sprung“ nicht sehen, denn es sei keineswegs paradox, dass Abraham, der schon alles hatte, etwas weggenommen werden musste. Der Autor entwirft einen alternativen Abraham, der mit dem „Mann vom Lande“ irgendwie verwandt scheint:

Ich könnte mir einen andern Abraham denken, der – freilich würde er es nicht bis zum Erzvater bringen, nicht einmal bis zum Altkleiderhändler – der die Forderung des Opfers sofort, bereitwillig wie ein Kellner zu erfüllen bereit wäre, der das Opfer aber doch nicht zustande brächte, weil er von zuhause nicht fort kann, er ist unentbehrlich, die Wirtschaft benötigt ihn, immerfort ist noch etwas einzuordnen, das Haus ist nicht fertig, aber ohne dass sein Haus fertig ist, ohne diesen Rückhalt kann er nicht fort, das sieht auch die Bibel ein, denn sie sagt: „er bestellte sein Haus“ und Abraham hatte wirklich alles in Fülle schon vorher; wenn er nicht das Haus gehabt hätte, wo hätte er denn sonst den Sohn aufgezogen, in welchem Balken das Opfermesser stecken gehabt?[11]

Wie Kafka so hat mit Blick auf Kierkegaards Abraham-Schrift auch Thomas Mann die Idee, Abraham könne Zweifel und Bedenken an seiner Handlung haben, in den Mittelpunkt von Überlegungen gerückt, und zwar in Die Geschichten Jaakobs (1933), die er später der Romantetralogie Joseph und seine Brüder eingebunden hat. Er weist hin auf den in den biblischen Schriften dokumentierten Vorbildcharakter des Abraham-Glaubens und benennt das Kapitel, in das er die Genesis-Stelle einwebt und die von den Abschnitten „Vom äffischen Ägypterland“ beziehungsweise „Vom Öl, vom Wein und von der Feige“ eingerahmt wird, „Die Prüfung“. Jaakob ist als ein Erbe Abrahams der Glaubensprüfung ausgeliefert, muss aber eingestehen, nicht ein „Vater des Glaubens“, sondern ein Zweifler zu sein. Thomas Manns Jaakob gibt zu erkennen, er wisse nicht, ob es geschehen werde wie damals bei Abraham; seine Stärke könne nicht auf den Engel und den Widder zählen. Der Dichter gibt eine Möglichkeit, die biblische Geschichte zu lesen, zur Hand, indem er Joseph erwidern lässt, als „du dich selber prüftest, du weder Abraham noch Jaakob warst, sondern – es ist ängstlich zu sagen – du warst der Herr, der Jaakob prüfte mit der Prüfung Abrahams, und du hattest die Weisheit des Herrn und wusstest, welche Prüfung er dem Jaakob aufzuerlegen gesonnen war, nämlich die, welche den Abraham zu Ende bestehen zu lassen er nicht gesonnen ist“.[12]

Wie Thomas Mann und Franz Kafka sich an Kierkegaard anlehnen, so gibt auch der jüdische Religionsphilosoph und Schriftsteller Martin Buber zu verstehen, er habe als junger Mensch durch Kierkegaard den Anstoß erhalten, über die Kategorien des Ethischen und Religiösen in ihrem Verhältnis zueinander nachzudenken. Die Abraham-Frage stellt Buber in Gottesfinsternis noch kompromisslos. Indem Buber an konkrete Ereignisse vor und nach 1945 denkt, stellt er Fragen in den Raum: Wer gab Abraham den Befehl, Isaak zu opfern? War es wirklich Gott, ging die Forderung nicht vielmehr aus von „falschen Absoluta“? Was hat es eigentlich mit Gehorsamsaposteln auf sich? Bubers Versuch einer Antwort bezieht Götzendienste mit ein, die nicht bloß vergangenen Epochen angehören, sondern im Hier und Jetzt angesiedelt sind:

Wohl haben sich immer schon die Affen des Absoluten auf Erden getummelt, immer und immer wieder sind Menschen aus dem Dunkel angeheischt worden, ihren Isaak herzugeben, und hier gilt’s, nur der Einzelne selber könne erdenken, was eben für ihn mit Isaak gemeint ist. Aber in all jenen Zeiten gab es auch, den Herzkammern der Menschen eingetan, Bilder des Absoluten, teils blasse, teils krasse, allesamt untreu und doch richtig, vergänglich wie ein Traumbild und doch in der Ewigkeit beglaubigt. Wie unzulänglich diese Präsenz auch war, dennoch brauchte einer, sofern er sie konkret im Sinne trug, nur an sie zu appellieren, um dem Trug der Stimmen nicht erliegen zu müssen. Das ist anders geworden, seit nach Nietzsches Wort „Gott ist tot“, das heißt, realistisch gesprochen, seit die Bildkraft des menschlichen Herzens im Absterben ist – seit die geistige Pupille die Erscheinung des Absoluten nicht mehr auffängt. Die falschen Absoluta gebieten über die Seele, die nicht mehr fähig ist, sie durch das Bild des Wahren in die Flucht zu treiben. [...] Und sie bringen das Opfer zuverlässig: im Bereich des Moloch lügen die Aufrichtigen und lügen die Barmherzigen und meinen wirklich und wahrhaftig, der Brudermord werde der Brüderlichkeit den Weg bereiten! Es scheint vor dem übelsten der Götzendienste kein Entrinnen zu geben.
Es gibt vor ihm kein Entrinnen, bis das neue Gewissen des Menschen erstanden ist, das ihn aufruft, sich mit der Urgewalt seiner Seele der Verwechslung von Bedingtem mit dem Unbedingten zu erwehren, den Schein zu durchschauen und zu überführen.“[13]

Nach 1945 sieht sich Nelly Sachs „gezwungen“, die Abraham-Erzählung „neu“ zu definieren und mit Blick auf die jüngere Vergangenheit zu deuten. In dem Gedicht Landschaft aus Schreien (aus dem Zyklus Und niemand weiß weiter, 1957) quält Nelly Sachs „Abrahams Herz-Sohn-Schrei“, der „am großen Ohr der Bibel“ bewahrt liegt.[14] Und in dem späten Gedicht Unbekannt (aus Teile dich Nacht, 1966), worin sie vom „Berg Morija mit der Gnadenkrone“ spricht und an die „Wendung im Blick in der Opferzeit“ erinnert, gemahnt die Lyrikerin an die „Vergebung in der Bitternis Minute“, die in Stücke reißt, „denn Liebe weiß vom Sterben / den schrecklichen Grund“[15].

Abraham der Engel!
Anders gehorcht er
Und in schrecklichem Befehl,
Wie mit Stricken geworfen durch die Nacht.[16]

Für jüdische Dichterinnen und Dichter nach 1945 gilt die vergegenwärtigende Erinnerung an Judenvernichtungen, die Shoah, als ein zentrales Anliegen. Jakob J. Petuchowski argumentiert in seinem literarischen Testament Mein Judesein, die Zerstörung des deutschen Judentums – als ein Bestandteil des europäischen Judentums – werde fälschlicherweise „Holocaust“ genannt und Ideologien von Juden wie auch von Christen seien darauf aufgebaut.[17] „‘Holocaust‘ ist eine aus dem Griechischen stammende edle technische Bezeichnung für ein religiöses Opfer [holocaútoma], kein Name, der für gelenkten Irrsinn und den ‚Wind aus der Schwärze‘ angemessen ist“, mahnt George Steiner.[18] Es sei unumgänglich, böses Vergangenes dem Verschweigen und Vergessen zu entreißen.
Erich Fried wählt in seinem dem Band Anfechtungen (1967) eingebundenen Gedicht Schlaglicht den Indikativ: „Abraham opferte.“ Fried sieht in der Bindung Isaaks die Erschütterung, welche die biblische Erzählung ursprünglich prägte, infolge der Wendung hin zu der Nicht-Opferung Isaaks als nivelliert und beschönigt, d.h. den nachfolgenden historischen und vor allem modernen Befund nicht mitgedacht, ihn in der Tragödie des Nicht-Wahrhaben-Wollens vielleicht auch verschüttet und verdrängt[19]:

Abraham

opferte seinen Sohn Isaak
da brach aus dem Busch ein Widder
und leckte das Blut auf
und die Sonne

verklärte das rote Messer
so hatten Licht und Schönheit
wieder gesiegt

So ein Sieg
wird auch unser Leben werden
auf den Stufen
unserer Wandeltreue

und ich freue mich
atemlos wie als Kind
vor dem Erwachen
eines schreienden Traumes

Der Logotherapeut Viktor E. Frankl resümiert in seinem Stück Synchronisation in Birkenwald (1948), einer „metaphysischen Conférence“: „Ich bin verurteilt – zum Leben verurteilt“; er umkreist den Zwiespalt der Dialektik, Leben könne Tod und Tod könne Leben bedeuten: „Ist das die Gnade? Gnade wäre der Tod gewesen. Aber das Weiterleben? Wozu soll ich es überleben – dieses Sterben?!“ In Nacht (1958), dem ersten Teil seiner Trilogie Die Nacht zu begraben, Elischa, schreibt Elie Wiesel: „Ein Lastwagen näherte sich dem Erdloch und schüttete seine Ladung aus: Es waren kleine Kinder. Säuglinge! Ich hatte sie mit eigenen Augen gesehen ... Kinder in den Flammen.“[20] Wiesels Erzähler, „Elieser, Sohn der Sarah“[21], stellt die Frage nach der Anwesenheit Gottes: „‚Wo ist Gott?‘ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: ‚Wo er ist? Dort – dort hängt er, am Galgen.‘“[22] Im zweiten Teil der Trilogie, Morgengrauen (1960), mahnt der Dichter: „Vielleicht ist Gott dort, wo der Henker keinen Hass gegen sein Opfer und das Opfer keinen Hass gegen seinen Henker empfand.“[23]
Wie diese und andere Erinnerungs- und Aufarbeitungstexte lesen sich letzte literarische Aufzeichnungen von Stefan Zweig, die 1942 unter dem Titel Die Welt von Gestern publiziert wurden. Als „das Tragischste in dieser jüdischen Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts“ bezeichnet Zweig, „dass, die sie erlitten, keinen Sinn mehr in ihr finden konnten und keine Schuld. All die Ausgetriebenen der mittelalterlichen Zeiten, ihre Urväter und Ahnen, sie hatten zumindest gewusst, wofür sie litten: für ihren Glauben, für ihr Gesetz. […] Selbst Freud, das klarste Ingenium dieser Zeit, mit dem ich oft in jenen Tagen sprach, wusste keinen Weg, keinen Sinn in diesem Widersinn. Aber vielleicht ist es gerade des Judentums letzter Sinn, durch seine rätselhafte überdauernde Existenz Hiobs ewige Frage an Gott immer wieder zu wiederholen, damit sie nicht völlig vergessen werde auf Erden.“[24]
Der Begriff „Opfer“, nach 1945, im Angesicht der Shoah gesehen, drängt jüdische Autorinnen und Autoren, Unsagbares zu „schreiben“, um es dem Verschweigen und Abgleiten in das Unbewusste zu entreißen und den Menschen künftiger Generationen als mahnendes Bild vor Augen zu führen. Martin Buber spricht von einer „Verfinsterung des Himmelslichts“: „Gottesfinsternis“ sei „in der Tat der Charakter der Weltstunde, in der wir leben.“[25]
Paul Celan verdichtet das Anliegen, die Erinnerung wachzuhalten, in dem Opfergedicht Füll die Ödnis (aus Eingedenk, 1968)[26]:

Füll die Ödnis in die Augensäcke,
den Opferruf, die Salzflut,

komm mit mir zu Atem
und drüber hinaus.

Der kanadische Sängerpoet Leonard Cohen fordert in Story of Isaac ein für alle Mal[27]:

You who build the altars now
To sacrifice these children
You must not do it anymore

Jahrzehnte zuvor konnte Else Lasker-Schüler in ihrer Ballade Abraham und Isaak (um 1912) noch andere Wegmarken anzeigen und das Gottesbild des Opferbereiten preisen[28]:

Abraham
trug den einzigen Sohn gebunden auf den Rücken
Zu werden seinem großen Herrn gerecht –
Der aber liebte seinen Knecht

Dieses (Gott-)Vertrauen vermag spätere Dichtung nicht mehr zu erkennen; es wird, wie in dem Kurz-Gedicht Zu Tal (1987) von Karl Lubomirski, ins völlige Gegenteil eines „Gott-ist-tot-Denkens“ umgekehrt[29]:

Abraham schritt hinter Isaak
auf den Schultern
seinen toten Gott

Lubomirskis Text lädt ein, sich das eindrucksvolle Gedicht Psalm von Georg Trakl (1912 [?]; Fassung II) in Erinnerung zu rufen, das mit den folgenden Versen endet:

Wenn es Nacht wird, siehst du mich aus vermoderten Augen an,
In blauer Stille verfielen deine Wangen zu Staub.

So leise erlöscht ein Unkrautbrand, verstummt der schwarze Weiler im Grund
Als stiege das Kreuz den blauen Kalvarienhügel herab,
Würfe die schweigende Erde ihre Toten aus.[30]

Auch ein stummes Innehalten, ein anderes Absterben, gilt es, mit Blick auf Gen 22, zu bedenken: ein langsames Sterben und einen persönlichen Verlust, wenn Felix Mitterer in seinem Drama Abraham (1993) nicht in erster Linie die Frage nach dem verlorenen Gott, sondern nach dem verlorenen Sohn, ja einer ganzen verlorenen Generation aufgreift – ein Motiv, das sich in der österreichischen Literatur immer wieder findet; zum Beispiel bei Franz Werfel in seinem Roman Höret die Stimme (1937) und beim Kärntner Slowenen Florjan Lipuš, einem Autor, der seine Werke ausschließlich in Slowenisch verfasst, in seinem Roman Der Zögling Tjaž (1972, dt. 1981), von Peter Handke übersetzt.
Eine kultur- und gesellschaftskritische Variante scheint von besonderem Interesse, weil sie eine Grundtendenz der oben angeführten Deutungsmöglichkeiten eines „alten Textes“ in die Moderne hinein überträgt und vor Augen führt, wie leidenschaftlich mahnend Künstlerinnen und Künstler auf brennende Probleme wie Krieg, Krankheit und Isolation aufmerksam machen. Benjamin Britten unterlegte die Offertorium-Sequenz seines War Requiem, das 1962 in der im Jahre 1941 bei einem Bombenangriff zerstörten Kathedrale von Coventry uraufgeführt wurde, mit Versen von Wilfried Owen, die dieser während des Ersten Weltkriegs verfasste, The Parable of the Old Man and the Young, um die Sinnlosigkeit des Krieges als verantwortungslose Opferung der jüngeren Generation durch die ältere anzuprangern. Brittens und Owens Abraham bricht auf, nimmt Feuer und Holz; Isaak fragt nach dem Opferlamm und Abraham bindet ihn; der Engel ruft und gebietet Einhalt; die Realität des Krieges ist jedoch eine vernichtende[31].

Then Abraham bound the youth with belts and straps,
And builded parapets the trenches there,
And stretchèd forth the knife to slay his son.
When lo! an angel called him out of heaven,
Saying, Lay not thy hand upon the lad,
Neither do anything to him, thy son.
Behold! Caught in a thicket by its horns,
A Ram. Offer the Ram of Pride instead.

But the old man would not so, but slew his son,
And half the seed of Europe, one by one.

Die Kraft des literarischen Plädoyers, die in der musikalischen Realisierung eindringlich vor Augen tritt, findet in den 80er-Jahren eine Fortsetzung, die Vereinsamung und Isolation vor Augen führt. Die filmische Version des War Requiem von Derek Jarman, der die von Britten dirigierte Platteneinspielung sowie Filmmaterial aus dem Ersten Weltkrieg verwendete, zeigt Trostlosigkeit und Resignation, völlige Hoffnungslosigkeit, ein Ab-Leben, dem jegliche Zukunft verweigert ist. In einem Gewirr von Realitäten und Alptraumbildern sind und bleiben diejenigen, die an den Hebeln der Macht sitzen, mit ihren strukturerhaltenden Befehlen, zumindest für die unmittelbare Gegenwart, die Sieger. Der junge Mensch bleibt auf der Strecke. Er ist „Opfer“.
Nach Auffassung der Psychologin Alice Miller ist es im Besonderen die Doppelbödigkeit der Gesellschaft, die irritiert und beängstigt. Nicht länger könne „der alte Abraham, der zum Himmel schaut und nicht sieht, was er tut“, die Gesellschaft vor atomaren und anderen schrecklichen Katastrophen bewahren, sondern einzig und allein Isaak, der „vielleicht, so müssen wir hoffen, die Fähigkeit zu fühlen nicht vollständig eingebüßt hat“; denn nur, „wenn Isaak imstande ist, sich über das ungeheuerliche Vorhaben seines Vaters zu entsetzen und die Empörung zu fühlen, ohne dieses Gefühl abzuwehren oder auszuagieren, dann wird diese Erfahrung ihn zu Erkenntnissen bringen, die seinem Vater während seines ganzen langen Lebens verwehrt geblieben sind. Es ist die Erfahrung des Fühlens, die uns ermöglicht, die richtigen Verknüpfungen herzustellen. [...] Erst diese schmerzhafte Erfahrung ist es, die Isaak vom Opfer zum Handelnden macht, nachdem sie ihm die Augen geöffnet hat.“[32]

In der modernen Literatur fungiert die Abraham-Isaak-Erzählung als ein Paradigma unterschiedlichster Problemfelder, seien es kirchlich-religiöse, soziologisch oder politisch bedingte wie auch psychologisch auszudeutende. Autorinnen und Autoren dient Abrahams Gehorsam auch als Vorlage für religions- und kirchenkritische Varianten. Aus religions- und kulturpessimistischer Perspektive ist ein Buch des Psychoanalytikers Tilmann Moser zu nennen, das er mit dem folgenden Motto beginnt: „Freut euch, wenn euer Gott freundlicher war.“ In Gottesvergiftung klagt er den Gott seiner Kindheit, auch unter Anspielung auf die Abraham-Isaak-Geschichte, an und fragt ihn: „Hast du vielleicht nur ein unverschämtes Glück gehabt, dass dir in letzter Sekunde die Idee kam, einen Engel an den Ort des geplanten Gemetzels zu schicken?“[33]

III.

Themen wie Krieg und blinder Gehorsam, Krankheit und Isolation, Glaubenszweifel und Unsicherheiten, die von Motiven wie Resignation und Verzweiflung, Trauer, Mutlosigkeit und Zorn, aber auch von Hoffnung auf einen Neubeginn begleitet sind, bringt moderne Literatur mit Bezug auf den Abraham-Isaak-Text für das „Heute“ zur Sprache.
Rezeption, Variation, Deutung, Umdeutung, Gegendeutung, Anspielung wechseln einander ab, auch möglichen Spielarten eines genus literariums scheinen kaum Grenzen gesetzt: Wir finden in unterschiedlichen Kulturräumen vielschichtige Deutungsideen, sei es in Romanen, Erzählungen, Kurzgeschichten, Dramen oder Gedichten. Mag der Sinn der Bibelstelle ursprünglich und später dann sowohl in der Ausdeutung jüdischer Gelehrter als auch aus der Perspektive der typologischen Sichtweise der frühen Kirche mit Begriffen wie „Gottesfurcht“, „Prüfung“ und „Gehorsam“ umschrieben sein und ziehen Kirchenväter Vergleiche zwischen Isaak und Christus heran, so ändert sich das mit der modernen Literatur drastisch. Die biblische Erzählung erweist sich unter moderner Rücksicht als eine Geschichte, die Anstoß zum Ärgernis bietet, die zum Nachdenken über das Gottes-, Welt- und Weltbild aufruft, zum Nach- und Vordenken hinsichtlich möglicher künftiger Entwicklungen. Den Sinn der Geschichte gilt es immer wieder neu zu hinterfragen, zu entdecken und entsprechend zu deuten. Eine moderne Passage finden wir – in das Folgende einstimmend – in dem Roman Nachtzug nach Lissabon von Pascal Mercier:

Ich verehre Gottes Wort, denn ich liebe seine poetische Kraft. Ich verabscheue Gottes Wort, denn ich hasse seine Grausamkeit. Die Liebe, sie ist eine schwierige Liebe, denn sie muss unablässig trennen zwischen der Leuchtkraft der Worte und der wortgewaltigen Unterjochung durch einen selbstgefälligen Gott. Der Hass, er ist ein schwieriger Hass, denn wie kann man sich erlauben, Worte zu hassen, die zur Melodie des Lebens in diesem Teil der Erde gehören? Worte, an denen wir von früh auf gelernt haben, was Ehrfurcht ist? Worte, die uns wie Leuchtfeuer waren, als wir zu spüren begannen, dass das sichtbare Leben nicht das ganze Leben sein kann? Worte, ohne die wir nicht wären, was wir sind?
Aber vergessen wir nicht: Es sind Worte, die von Abraham verlangen, den eigenen Sohn zu schlachten wie ein Tier. Was machen wir mit unserer Wut, wenn wir das lesen? Was ist von einem solchen Gott zu halten?[34]

Fragen wir nach der Alterität des alten Textes, also danach, wie er sich im Laufe der Zeit verwandelt und „modern“ fortgeschrieben werden kann, so laden zahlreiche Beispiele aus dem 20. Jahrhundert ein, die (oben zur Sprache gebrachte) Auffassung von Alice Miller zu teilen: Etwa der Roman 1. Mose 22 (1967) der ungarischen Schriftstellerin Magda Szabó, die in Anspielung auf den Bibeltext einen Generationenkonflikt im Ungarn der 1950er-Jahre erzählt und mit Referenz auf den Kontext wie folgt schließt:

Da nahm Isaak das Schwert aus seines Vaters Hand, und er sagte: Nur dich kannst du opfern, mein Vater, wenn du dem Willen Jehovas gehorchen willst, denn siehe, ich will nicht sterben für deinen Gott. Ich werde einmal für meinen Gott sterben, so lass mich denn gehen, auf dass ich ihn suche.
Und Isaak machte sich auf, ging allein den Weg zurück. Abraham aber blieb an der Stätte des Altars und weinte.[35]

Auch Felix Mitterer schildert in seinem bedrückenden Aids-„Stück über eine Liebe“ Abraham (1993) ein Familiendrama. Es endet tödlich. Der Ruf des Engel-Retters, hier in Gestalt eines Transvestiten: „Nein! Tu es nicht!“, bleibt ohne Wirkung. Die Jugend, die nicht nach dem Willen der Väter-Generation lebt, wird geopfert.[36]
In die Opferrolle sehen neuere literarische Werke zunehmend Frauen gezwängt – schon aus der klassischen antiken Literatur, der Lysistrate des Aristophanes, kennen wir eine gemeinschaftliche Auflehnung von Frauen gegen ihre Männer ob der von ihnen angezettelten Kriege. In modernen Varianten der Abraham-Isaak-Erzählung gewinnen die Figuren der „Mutter“ sowie der „Gattin“ an Bedeutung. Der Totenklage der modernen (biblischen) Mutter Sara, die in ihrem Schmerz um den toten Sohn einsam zurückbleibt, wies Jarmans War-Requiem-Verfilmung einen eindrücklichen, stillen Platz zu: Er folgt unmittelbar auf das Abraham-Isaak-Zitat.
Hervorzuheben ist unter anderem der französische Autor Gilles Rozier mit seinem Roman Abrahams Sohn (2005; dt. 2007), der hauptsächlich in Jerusalem spielt. Das einzige Kind und das Ein und Alles von Sharon ist Eli, er wird bei einem Attentat, in einem Bus sitzend, getötet. „Sharon wusste nicht, ob der Zionismus mit dem Judentum unvereinbar war. Eli hatte die Armee gewählt, aber er hatte sie nicht gemocht. Er wollte nur mit dem Land im Einklang sein, dessen Bürger er war.“[37] Sharon findet auf Umwegen ins Leben zurück. Dabei stützen sie ein Ehepaar aus ihrem Wohnviertel (Magda und Itsik) und in einem Altersheim, wo sie als Köchin arbeitet, besonders ein Rabbiner, ein alter Dichter und ein junger Mann, Amos.

Als Sharon ging, sagte sich Magda, dass sie ihr die Frage nicht gestellt hatte, die ihr auf den Lippen brannte. Sie wollte wissen, was man beim Verlust eines Kindes empfindet, aber als sie ansetzte, hatte ihr der Mut gefehlt. Sie fand die Frage wieder schamlos: Was hätte Sharon gesagt? Es ist schrecklich, es ist grauenvoll, es ist wie Hiroshima im Kopf, ein Glied, das man dir abreißt, ein Granatsplitter, der dich anstarrt, unendlicher Schmerz morgens, mittags und abends, und auch in der Nacht, ein mächtiger Druck auf dem Herzen sogar an den Festtagen, Alpträume ohne Ende, das Gefühl des Verlustes, man klammert sich an seine Tasche, an sein Portemonnaie, man hebt irgendwelche unwichtigen Bindfäden auf, weil sie einen an etwas erinnern, die Einschulung, den ersten herausgefallenen Zahn, man möchte die Kleidung aufheben, die vom Geruch des toten Sohnes durchdrungen ist, aber das darf man nicht: Das wäre dann der echte Wahnsinn. Magda stellte es sich vor.[38]

In der neueren deutschsprachigen Literatur hat die Büchner-Preis-Trägerin von 2008, Claudia Schreiber, in dem Roman Ihr ständiger Begleiter (2007) auf die Rolle der Mutter aufmerksam gemacht. Zwischen ihr und ihrem Sohn steht „Er“, ihr Gott – als „ständiger“ Begleiter –, den sie, weil es ein personaler Gott ist, mit DU ansprechen darf. Holländer ist er, und gemeinsam sehen sie sich das Endspiel der Fußball-WM 1974 in Deutschland an. „In der Pause trank er viel, reichte auch ihr missmutig ein Bier, sprach aber nur mit seinen Freunden“, was eben auch nichts nützen sollte. Gerd Müllers Tor besiegelte die Niederlage, und „in der zweiten Hälfte schimpften alle Holländer über einen, der Sepp Maier hieß. Weil dieser Sepp ihn hatte, den Ball.“[39]
Die Handlung wird eingerahmt durch die schockierende Fragestellung des Prologs und die auflösende Antwort im Epilog, die das Dazwischen mit einschließen. Gezielt wählt die Autorin (wie schon Magdá Szabó) die Genesis-Stelle als Ausgangspunkt und Schlussakkord. Im Prolog lesen wir:

Da prüfte Gott Johanna und sprach zu ihr: „Johanna! Johanna!“ Sie antwortete: „Hier bin ich!“ „Nimm deinen Sohn, den Einzigen, den du lieb hast, den Ben, gehe mit ihm über die Straße, und lass ihn unter die Räder kommen.“ Johanna stand früh an diesem Morgen auf und begleitete ihren Sohn zur Schule, obwohl er das sehr lästig fand und mit ihr darüber in Streit geriet. So gingen sie beide hintereinander. Als sie an die Kreuzung kamen, die Gott ihr gesagt hatte, sah sie den Tankwagen kommen, sah sie ihren Sohn gehen, der Kopfhörer trug. Da aber rief kein Engel Jahwes vom Himmel her zu ihr, und niemand sprach: „Nun weiß ich, dass du Gott fürchtest.“ Deshalb gab sie sich selbst als Schlachtopfer hin, auf dass ihr Sohn am Leben bliebe. Johanna stürzte auf die Straße, warf ihren Sohn ins Leben, auf dass der Tankwagen sie selbst überrollte.[40]

Der Epilog, über zweihundert Seiten später, antwortet darauf:

Als Johanna die Augen öffnete, riss ein scharfer Luftzug an ihren Haaren. Dicht vor ihren Augen donnerte ein Tankwagen vorbei, fast wäre sie von ihm mitgerissen worden.[…]
Ben war unversehrt. Er schaute wütend zu ihr zurück und riss seine Kopfhörer aus den Ohren.
„Was machst du hier“, schimpfte er, „bist du bescheuert?“
Jetzt wärst du fast unter die Räder gekommen! Ich bin doch kein Kind mehr, lass mich endlich in Ruhe!“
Johanna stöhnte auf vor Erleichterung, sie konnte ihren Blick nicht von ihm lösen.
Ben musste glauben, sie habe immer noch nicht begriffen, deshalb brüllte er: „Hau ab, du kannst mich mal!“
„Du mich auch!“, rief sie fröhlich zurück und winkte ihm.
„Du mich auch!“
Dann drehte sich Johanna lachend um und schritt entschieden davon, schwingend, tanzend. Ohne Schmerzen, kein Humpeln mehr. Der Tisch daheim würde noch gedeckt sein und der Kaffee warm. Ihr Mann kam heute früher heim, sie würde ihm erzählen vom Harmonium, das sie immer noch unter ihren Füßen spürte, die Lieder noch im Ohr.[41]

Auch die „Vater-Perspektive“ des Dahingebenden und die „Kind-Perspektive“ des Dahingegebenen finden sich in moderner Literatur thematisiert (ob der Begriff des Opfers jeweils zutreffend ist, mag von Fall zu Fall unterschiedlich gesehen werden).
Eine Erzählung von Friedrich Christian Delius, die 1994 publiziert wurde, schildert die „Kind-Perspektive“: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde.[42] Der Verfasser lässt seinen Erzähler, elfeinhalb-jährig, in der Ich-Form erzählen. Als einstimmendes Motto wählt er aus dem Prosagedicht Jugend von Wolfgang Koeppen den Satz: „Zum Hafen führt es abwärts, ich hoffe, ich fürchte, es geht in die Welt.“
Wie jeder andere Sonntag, so beginnt auch dieser besondere Tag in dem Pastorenhaus – in dem es ein wenig an einer Muttersprache zu mangeln scheint – mit „Regeln im Kopf“ und unter dem allgegenwärtigen Auge Gottes. Das Kind hat sich unauffällig zu verhalten, es solle da sein, wo die „Mitte“ ist. An diesem 3. Juli 1954 entscheidet es sich, in den Elterngottesdienst zu gehen und erkennt dort die Stimme des Vaters nicht wieder, die „von oben herab“ (47) tönt und ihn an das noch größere Schicksal anderer, nämlich von Kindern „mit toten Vätern“, denken lässt. Dem Kind scheint die gebotene Religion fremd, warum „einen Toten anbeten“ (46), einen „Foltergott“ (58f), wie ihm bei Betrachtung eines Bildes von Schnorr von Carolsfeld angstvoll bewusst wird. Das Kind leidet, es fühlt sich schwach, in einer Außenseiterrolle, es stottert und gerade dieses „gestörte Sprechen“ (60f) bietet sich ihm immer mehr als ein Rettungsanker und Fluchtweg an und ein neu erfahrenes Gemeinschaftsgefühl als Lösung. Dem Sohn ist erlaubt, die Radioübertragung des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft anzuhören; er vermag es, sich ganz und gar mit dem offensichtlichen Außenseiter zu identifizieren, spielt gleichsam selbst an Leib und Seele mit und lebt für sich und sein realiter völlig chancenloses Team die Rolle des „Isaak“ wie im alltäglichen Leben:

Ich war Isaak, der Sohn, der Vater griff seinen Sohn und fasste das Messer, weil sein Gott ihm befohlen hatte, dass er seinen Sohn schlachtete [...], wie weit würde mein Vater gehen in einer vergleichbaren Situation, wäre ihm Gott lieber als seine Kinder, als ich, gab es nicht irgendwo in der Bibel den Satz: wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert, und warum wurde jeder Geburtstag früh morgens von der übrigen Familie, die in Schlafanzügen, Bademänteln oder in Tageskleidern antrat, mit dem Choral Lobet den Herrn geweckt, der mit der Zeile Abrahams Namen oder Abrahams Samen an das Messer zwischen Vater und Sohn erinnerte, mein Vater hatte die Choräle und die Gewalt auf seiner Seite, das Messer sonntags am Braten, manchmal hatte er mich geschlagen, mit der Hand auf den Hintern, mit dem Teppichklopfer auf den Hosenboden, bis ich schrie und schrie und er die Lüge oder den kleinen Diebstahl genug bestraft fand, oder er stimmte mit der Mutter ab, ob ich fünf oder zehn oder zwanzig Schläge bekommen sollte und führte den Beschluss aus gegen mein Wimmern und Schreien, wie weit ließ sich die Gewalt steigern, dass er seinen Sohn schlachtete, wir lebten in anderen Zeiten […], was für ein Gott, der auch die Väter foltert und ihnen das Schlachten der eigenen Kinder befiehlt, als ob es keine anderen Beweise für die Gottesfurcht gäbe […]. (74-78)

Den letzten Hinweis dieser Passage, wonach das Ungeheuerliche „das Spiel mit der Grausamkeit“ war, „das Spiel mit dem Leben des Kindes“, und „dass der Schrecken des Kindes keine Rolle spielte in der Geschichte und ich mit dem Schrecken allein blieb“ (78), führt der Erzähler – scheinbar nahtlos – über in die Radioreportage des Endspiels und zu der brennenden Frage des Kindes: „Sind die Ungarn zu stoppen?“ Noch zwei Stunden bis zur Übertragung, und das Kind lenkt sich während des mittäglichen Ruhegebots im Pfarrhaus ab, indem es in die nahegelegenen Felder und Wiesen zieht, Abstand sucht „von Gebeten und Altären, von Messern und Opfern“ (80) und beim Passieren der Dorfhäuser und deren damit verbundenen „Geschichten“ daran erinnert wird, dass der Krieg „einen eingeschläferten Hass“ hinterließ (87). Sein Laufen empfindet es nicht als Flucht, sondern nur als „die in Bewegung übertragene Sehnsucht, die angestaute Gottgefälligkeit abzuwerfen und in einer grünen, helleren Umgebung aufzuatmen“ (81). Die existentiell anmutende persönliche Frage des 11-Jährigen: „Was kann ich tun, die Ungarn zu stoppen?“ (78), gibt Einblick in seinen aktuellen Seelenzustand – der Reporter „wusste, wie ich fühlte“ (98). Das Kind ist verblüfft, denn es fallen immer öfter Wörter, die ihm in völlig anderem Zusammenhang eingebläut wurden: „Wunder“, „Gott sei Dank“, „beten“, und unbegreiflich ist ihm, „dass der Reporter das Wort glauben mit mehr Inbrunst als ein Pfarrer oder Religionslehrer aussprechen konnte“ (93; spätestens hier mag einem Das Wunder von Bern, Film wie auch Doku, in den Sinn kommen). Was er hört, ist „meine frohe Botschaft“ (97)! Auf die Frage seines Vaters, „Schon vorbei, dein Fußball?“, erschrickt er selber über die unmittelbare Antwort, die er spontan zu geben vermag: „Nein, Halbzeit … zwei zu zwei“; überrascht zugleich von des Vaters wohlwollendem Interesse und seiner Zustimmung, brachte er die schwierigsten Wörter über die Zunge, ohne zu stottern.
„Der Außenseiter hat gleich gute Chancen“ (105) und das gegen eine seit Jahren unbesiegte „Angriffsmaschine“, deren Spieler nur darauf warteten, „im entscheidenden Moment zuzustoßen, auch wenn sie keine Messer hatten und nicht gerade Abraham hießen“ (108). Nach dem Führungstor seiner Mannschaft versteht er nun plötzlich den Sinn des Bibelwortes „Die Letzten werden die Ersten sein“. In diesem Sinne schließt die Erzählung. Erlösung, Gnade eröffnet sich ihm, dem vormaligen Außenseiter, als er doch nicht vergeblich auf Freunde wartet, die mit ihm Freude und Glück teilen wollen:

So stand ich drei, vier Minuten auf dem Platz, bereit, die ganze Welt zu umarmen, meine Freude zu zeigen und zu teilen, bereit, mich in jede Richtung zu wenden außer zurück zum Haus, aus dem ich gelaufen war, jede Richtung, aus der ein Mensch näherkommend mich und meine Gefühle begreifen könnte, und endlich taumelten aus Sennings Gastwirtschaft drei Männer auf die Straße, in denen ich trotz der Sonntagsanzüge drei Spieler des F.C. Wehrda erkannte, und liefen, Kuhfladen und Schlaglöchern ausweichend, an der Post vorbei, auf den Kirchplatz zu, wie ich es gewünscht hatte, mir entgegen, und nach ihnen tauchten, bald aus der einen, bald aus der anderen Richtung, die Freunde Herwig, Horst, Gerhard, Helmut und Wolfgang auf, und als wir uns, wie blöde geworden, Wortbrocken wie „Weltmeister“! und „Deutschland!“ und „Dreizuzwei!“ zuriefen, mit dem Geschrei die Spatzen aufscheuchten und, von der ungewohnten Wucht der Worte mitgerissen, aus den genormten Sonntagsbewegungen kippten und lachten und johlten, war ich, ohne es zu begreifen, der glücklichste von allen, glücklicher vielleicht als Werner Liebrich oder Fritz Walter. (120)

Ein Beispiel noch, anders akzentuiert als die vorangehenden, aber wie diese mitten im Alltag verankert: „Der Bundespräsident saß hinter dem Pult im Ledersessel. Er war am Ende. Er hatte keine Kraft mehr. Er liebte sein Land, seine Frau, und die Dämmerung liebte er auch.“[43]
Mit diesem Stimmungsbild beginnt der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann seinen Roman Der große Kater (1998; verfilmt mit Bruno Ganz in der Rolle des „Katers“), der die Vater-Perspektive in den Vordergrund rückt und die Innensicht der Gattin und Mutter damit verknüpft. Mit „Kater“ ist ein poetisch gedachter Schweizer Bundespräsident gemeint. Drei Mottos zeigen den Weg des Dramas, der Tragödie, an: Das Zitat Gen 22,1f weist auf das Schicksal eines der Söhne des „Großen Katers“ hin, ein zweiter Text nennt Kierkegaards Furcht und Zittern und bringt Abrahams dramatischen Kampf mit der „Zeit“ in einen Zusammenhang mit dem Hauptprotagonisten, ein Zitat aus Dornröschen der Brüder Grimm – „Rings um das Schloss aber begann eine Dornenhecke zu wachsen“ – verweist auf die Gattin des Präsidenten, Marie, und deren Gefühlslage.
Die Rahmenhandlung des Romans bildet ein Besuch des spanischen Königshauses in der Schweiz. Den Bundespräsidenten plagt jedoch ein eigenartiges Gefühl. Er meint hintergangen zu sein und vermutet in „Pfiff“, dem früheren Verlobten seiner Marie, seinem Freund und ehemaligen Schulkameraden in Maria Einsiedeln, den „Versucher“ und Urheber einer Intrige. In der Schule ließ er sich zum „Vasenmann“, zum Mann der Mitte, erziehen. Die Devise hieß: „das Vergangene vergessen“, „den Engel abstreifen“ (147). Denn er war ja „wortlos bereit“ gewesen, „seiner Liebe den besten Freund zu opfern“ (121). Zunehmend alkoholgetränkt tappt Kater in Traum- und Alptraumbildern wie benommen durch Nacht und Nebel und sieht sein Ende nahen.
Im Verlauf des Romans tritt der Zusammenhang mit der biblischen Erzählung immer deutlicher und bedrohlicher vor Augen. Das „Damenprogramm“ wurde von Pfiff abgeändert, statt eines Besuchs in einer Fabrik steht ein Besuch in Bossis Klinik an. Dort liegt der jüngste Sohn des Präsidentenehepaars im Sterben, für drei Tage kümmert sich sein älterer Bruder – der Erzähler im Roman – um ihn. Kater ahnt, Marie vermute in ihm „eine Art Abraham, der bereit ist, den eigenen Sohn zu opfern – auf dem Altar der Öffentlichkeit“ (48). Die drei Tage des Staatsbesuchs entpuppen sich als eine moderne Reise zum Berg Morija, hier nun, in Begleitung des spanischen Königs, zum „Col des Mosses“; auch Abraham und Isaak wanderten drei Tage, der Widder war als Ersatzopfer bereitgestellt; hier allerdings, für den „modernen“ Abraham, ist ein Ersatzopfer nicht in Sicht: „Er brauchte ein Tier. Ein Tier, das sich als Schlachtopfer abstechen und fettzischend verbrennen ließ“ (165). Aber die Zukunft arbeitet gegen ihn. Der Sohn stirbt, Krankheiten nehmen ihm die Kraft und Marie steht ihm leidenschaftslos bei. Die gesellschaftliche Öffentlichkeit findet fortan ohne ihn statt.

Der Roman schließt mit dem folgenden Stimmungsbild:

Wohin?
Ach ja, leierte sie weiter, leise wie zuvor, fast tonlos, das sei auch so ein Problem, immer öfter verlaufe er sich, ziehe über Felder, hocke in Gastwirtschaften, gebe Runden aus, rede Unsinn, bringe Frauen zum Lachen, aber bitte, was sein muss, muss sein, was kommen muss, kommt, und ein Hirn, das geht, kann niemand aufhalten, niemand, auch sie nicht, also schweige sie, schäme sich und hoffe inständig, dass er die nächste Operation besser überstehe, keine Narkose, Gott sei Dank, nur eine örtliche Betäubung, die Netzhaut, die Augen, das habe er nun davon, sie habe es immer gesagt, mit diesen Uhren, Liebling, zerstörst du deine Augen.
Die Zeit ging im Kreis, der Winter verwich, der Frühling kam, der Sommer, und die Spalierrosen, die das Haus umrankten, wurden höher von Jahr zu Jahr, erreichten bald das Dach und wucherten über die Ziegel. Marie lebte oben, las Bücher, dachte an früher, und voller Stolz empfing sie zum Jahreswechsel einen Gruß der spanischen Königin, natürlich gedruckt, aber immerhin, der spanische Hofstaat hatte sie nicht vergessen. Der Alte lebte unten, meist am Pult, und wiewohl er die Frau, wenn sie mal über den Teppich kam, nicht mehr sah, konnte er doch riechen, dass sie sich seit dem Tod des Sohnes nicht verändert hatte – das gleiche Parfüm, das gleiche Spray, dieselbe Perücke, und wenn er sich nicht täuschte, knisterten um den schlanken Leib noch immer die Sommerseiden von Emilio Pucci, wehende Schleier und helle Farben.“ (235f)

Dichterische Anspielungen auf Gen 22,1-19 bieten vielfältigen Erkenntnisgewinn auch hinsichtlich einer Erfassung des biblischen Kontexts. Auffallend an modernen literarischen Beispielen ist fast durchgängig eine Auflehnung gegen Gesellschaft, Familie, vereinzelt auch gegen den Zwang, der „Mitte“ zu folgen und herrschende Strukturen unhinterfragt gutzuheißen. Auffallend mag sein, dass der Aspekt einer Kirchen-Kritik nur selten vorkommt. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Autorinnen und Autoren mittlerweile derart kirchenfern sind, dass es ihnen kaum in den Sinn kommt, daran Kritik zu üben. Jedenfalls darf angenommen werden, dass die Stelle Gen 22 vor allem auch deshalb für eine literarische Rezeption von Interesse ist, weil der mögliche Aussagegehalt gerade für moderne Zeiten stimmig ist und sich für ein Spiegelbild gesellschaftlicher Phänomene anbietet.
Vertreterinnen und Vertreter der Künste sehen sich gedrängt, Menschen mit dem Sinn des Lebens und in diesem Zusammenhang mit biblischen und religiös gebundenen Themen, Stoffen und Motiven, die sie in unterschiedlichsten Variationen aktualisieren und umdeuten, zu konfrontieren. Als ein Buch, das Kulturen prägte, bietet die Bibel einen Impuls, den Dialog zwischen den Völkern und den verschiedenen Religionen zu intensivieren und auf aktuelle Brennpunkte hinzuweisen. Antrieb und Motivation kann ein diesbezügliches Ansinnen auf unterschiedliche, manchmal überraschende Art und Weise erfahren. Paul Josef Cordes spricht in seinem Buch Die verlorenen Väter. Ein Notruf von einer „Verlustgeschichte“.[44] Das scheint im Besonderen für moderne literarische Deutungen der Abraham-Isaak-Erzählung zu gelten: Gen 22,1-19 ist eine Verlustgeschichte. Wir können deuten, drehen und wenden, exegetisch, apologetisch, literarisch argumentieren und textieren, wie wir wollen, es geht hier immer um Verlust. Um Tragödien. Das scheint mit offenem Blick auf die Bibelstelle und literarische Neu- und Fortschreibungen der „Punkt“, die Conclusio.

 

 

1 E . Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Zürich 1977, 5-27 (daraus die folgenden Zitate).

2 I . Kant, Werke. Sechs Bände. Bd. 6. Hg. W. Weischedel. Darmstadt 1966, 333.

3 E bd., Bd. 4, 861.

4 G .W.F. Hegel, Theologische Jugendschriften. Hg. H. Nohl. Frankfurt a.M. 1966, 245.

5 L . Kolakowski, Der Himmelsschlüssel. Erbauliche Geschichten. München 1966, 26-30.

6 W. Allen, Ohne Leit kein Freud. Reinbek b.H. 1988, 27-29.

7 J.P. Sartre, Drei Essays. Frankfurt a.M. 1986, 13-15; S. de Beauvoir, Soll man de Sade verbrennen? Reinbek b.H. 1986, 214.

8 P. Tschuggnall, Das Abraham-Opfer als Glaubensparadox. Bibeltheologischer Befund – Literarische Variation – Kierkegaards Deutung. Frankfurt a.M. 1990.

9 S . Kierkegaard, Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio. Hg. L. Richter. Frankfurt a.M. 1984, 12.

10 F. Kafka, Vor dem Gesetz. In: ders., Ein Landarzt und andere Prosa. Hg. M. Müller. Stuttgart 2009, 20f. J.P. Mautner, „Aber sein Endurteil war es nicht.“ Jacques Derrida liest einen Text von Franz Kafka. In: P. Tschuggnall (Hg.), Religion – Literatur – Künste II. Ein Dialog. Mit einem Grußwort v. A. Kothgasser. Anif/Salzburg 2002, 190-201.

11 F. Kafka, Briefe 1902-1924. New York 1958.

12 T h. Mann, Joseph und seine Brüder I. Die Geschichten Jaakobs. Frankfurt a.M. 1997, 105f.

13 M. Buber, Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie. Zürich 1953, 143f.

14 N . Sachs, Fahrt ins Staublose. Frankfurt a.M. 1961, 221.

15 N . Sachs, Suche nach Lebenden. Hg. M. u. B. Holmqvuist. Frankfurt a.M. 1971, 157.

16 N . Sachs, Fahrt ins Staublose. Frankfurt a.M. 1961, 202.

17 J.J. Petuchowski, Mein Judesein. Wege und Erfahrungen eines deutschen Rabbiners. Freiburg i.B. 1992, 146.

18 G . Steiner, Grammatik der Schöpfung. München 2001, 9; ders., Unter Druck. München 1992, bes. 131-147 („Aschensage“).

19 E . Fried, Anfechtungen. Gedichte. Frankfurt 1991, 38.

20 E . Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa. Frankfurt a.M. 1987, 53f.

21 Ebd. 345.

22 E bd. 94.

23 Ebd. 242.

24 St. Zweig, Die Welt von Gestern. Frankfurt a.M. 1988, 484-486.

25 M. Buber, Gottesfinsternis. Betrachtungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie. Zürich 1953, 31.

26 P. Celan, Gesammelte Werke. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1986, 149.

27 L. Cohen, Story of Isaac. In: Voices Within the Ark. The Modern Jewish Poets. Hg. H. Schwartz u. A. Rudolf, New York 1980, 750f.

28 E. Lasker-Schüler, Hebräische Balladen. Faksimile der Handschrift. Hg. N. Öllers. Marbach a.N. 1986, o.S.

29 K. Lubomirski, Licht und Asche. Wien 1987, 79.

30 G. Trakl, Werke, Entwürfe, Briefe. Hg. H.-G. Kemper u. F.R. Max. Stuttgart 1984, 166ff; G. Kaiser, Christus im Spiegel der Dichtung. Exemplarische Interpretationen vom Barock bis zur Gegenwart. Freiburg i.B. 1997, 124-131.

31 W. Owen, The Parable of the Old Man and the Young, zit. nach M. Niehaus u. W. Peeters (Hg.), Mythos Abraham. Texte von der Genesis bis Franz Kafka. Stuttgart 2009, 148. D. Jasper, „The old man would not so, but slew his son“: A Theological Meditation on Artistic Representations on the Sacrifice of Isaac. In: Religion and Literature 25,2 (Summer 1993) 123-130.

32 A. Miller, Der gemiedene Schlüssel. Frankfurt a.M. 1996, 178f.

33 T. Moser, Gottesvergiftung. Frankfurt a.M. 1980, 20f.

34 P. Mercier, Nachtzug nach Lissabon. München 2006, 199.

35 M. Szabó, 1. Moses 22. Frankfurt a.M. 1973, 215f.

36 F. Mitterer, Abraham. Stück über eine Liebe. Innsbruck 1993, 75.

37 G. Rozier, Abrahams Sohn. Köln 2007, 22.

38 Ebd. 154.

39 C. Schreiber, Ihr ständiger Begleiter. München 2008, 55f.

40 Ebd. 8f.

41 Ebd. 219f.

42 F.C. Delius, Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Reinbek b.H. 2010 (daraus die Seitenzahlen).

43 Th. Hürlimann, Der große Kater. Zürich 1998, 9 (daraus die Seitenzahlen).

44 P.J. Cordes, Die verlorenen Väter. Ein Notruf. Freiburg i.B. 2002, 106-125. P. Tschuggnall, Das Sohnesopfer in moderner Literatur. In: Religionsunterricht an Höheren Schulen 53 (2010) 330-337.