Stöger Peter - Lichtkind - TheoArt-komparativ

Lichtkind - Ixtlamachiliztli

Vorwort

„Das verborgene Wort“ nennt Ulla Hahn eines ihrer Werke. Davon wollen vorliegende Reflexionen erzählen.

Erzählen über Verborgenes und manchmal Geborgenes. Über Verlorenes und Geborenes. Manchmal geht dabei so etwas wie ein Schimmern durch – und ist schon wieder spurenverwischt. Manchmal mag es einem Vokabel gelingen, sein Wort zu finden…

Was da durchschimmert ist meist ein Stück Kindland. Peter Handke lässt staunen, er träumt von Kindern, die dichten. „Sie stehen da, halten die Hand in den Regen, und das ist ihr Gedicht.“ Mag sein, dass es auf dem Weg zu diesem Buch auch einmal geregnet hat.

Die Reflexionen entstanden zwischen 2005 und 2013. Gemalt und komponiert sind sie vornehmlich in Österreich und Mexiko, in Burkina Faso und Uganda.

Eine Reihe dieser Beiträge wurde in der Innsbrucker Zeitschrift „Tiroler Schule“, die heute „Aufleben“ heißt, veröffentlicht. Sie sollen hier einem weiteren Leserkreis vorgestellt werden.

Einmal beschrieb Hilde Domin den tieferen Grund, der zum Schreiben wie zum Lesen einladen mag, so:
„Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.“

Peter Stöger

 

Ixtlamachiliztli

... ein fremdländisches Wort.
Was es bedeutet, wird in der ersten Geschichte erzählt, die nach einem
Nahuatl-Herrscher aus Zentralmexiko benannt ist.
Diese und die weiteren Gedanken kreisen um den Kern von Bildung,
kreisen um Kindsein, aber auch um Gefährdungen.

 

 

Nezahualcóyotl


In den Cantares Mexicanos, einer Handschriftensammlung, die man heute in der Biblioteca Nacional in Mexico City sehen kann, heißt es:

„Ich, Nezahualcóyotl, frage es:
lebt man denn wirklich mit Wurzeln auf der Erde?
Nein, nicht für immer (ist man) auf der Erde:
nur ein wenig hier,
auch wenn Jade zerbricht,
auch wenn Gold entzweigeht,
auch wenn Quetzalfedern zerreißen,
nicht für immer auf der Erde:
nur ein wenig hier.“1

Nezahualcóyotl (1402–1472) war einer der interessantesten Herrscher im Alten Mexiko. Er war Regent und Baumeister, Dichter und Astronom – und er war Philosoph, und das in des Wortes ursprünglicher Bedeutung: Freund der Weisheit. Er liebte die Schönen Künste und schrieb auch wunderbare
Gedichte. Sie sind zum größten Teil im Codex Ixtlilxóchitl (so hieß sein Vater) überliefert.
Sein Name bedeutet „Hungriger Kojote“, denn er musste dreizehn lange Jahre warten, bis er sein Amt antreten konnte. Er war Herrscher der Acolhua, die, wie die benachbarten Azteken, zur großen Sprachfamilie der Nahua gehörten.

Er fühlte sich dem Herrn „der Nähe und des Ganzen“ besonders verbunden. Er sammelte sie um sich, die Bildner und Keramiker, die Musiker, die Juweliere und Wissenschaftler. Wissenschaft ward zu seiner Zeit Tecpillatolli, „genaue Sprache“, genannt. Die Künstler waren steuerfrei – ihr Wohlklang war ihre Steuer. Nur wenn die Musiker falsch spielten, drohten ihnen saftige Strafen. Die Wissenschaften genossen höchstes Ansehen; wenn Historiker aber die Geschichte verfälschten, ereilte sie die Todesstrafe.
Sein Herz pulsierte mit dem Universum, mit den Schmetterlingen und Melodien. Das Universum floss aus in seine Poesie von „Blume und Gesang“. Darin ist sein Weltbild, sein oft verzweifelt-sehnsüchtiges Suchen nach dem „wahren Wort“ in Farben vertont. „So lasst uns denn in unseren Liedern erkennen“ war gleichsam die Vignette über seinem Leben. Der Staatsmann und Philosoph meinte, dass es nicht die Kriege, vielmehr die Lieder seien, die dereinst vom Ruhme künden werden. Ähnlich wie es der hl. Paulus am Areopag in Athen tat, sprach er zu seiner Zeit hymnenreich von seiner Suche nach dem „unbekannten Gott“.2 Zugleich verehrte er aber auch dessen Präsenz und „Vertrautheit“.
Und er fand sie im Dienst an den Armen. Er ordnete an, dass für sie die Ränder der Straßen stets mit Bohnen und Mais zu bepflanzen seien.

Das Schöne ist ihm nicht unbedingt Pate gestanden im Leben. Seine Eltern hatten 1418 durch die Tepaneken das Leben verloren. So musste er schon als Sechzehnjähriger fliehen. Heute wäre er ein klassischer Fall für Amnesty International. Er floh in die Hauptstadt der benachbarten Azteken, in die Lagunenstadt Tenochtitlán, das heutige Mexico-City. Gott sei Dank erging es ihm dort besser als es den meisten Flüchtlingen heute ergeht. Er konnte schon in jungen Jahren erfahren, was in dem deutschen Wort „Bildung“ meisterlich zum Ausdruck kommt, nämlich, dass der Wissenserwerb mehr ist als nur Ausbildung alleine, dass Wissen in seiner Tiefe nahe der Weisheit liegt.
Die Gefahr der Tepaneken lauerte ständig, sie trachteten ihm immer wieder nach dem Leben. Tezozomocs, der Tepanekenherrscher, ließ ihn im ganzen Land suchen. Seiner habhaft geworden, ließ er ihn in Chalca in einen Holzkäfig sperren. Er sollte darin jämmerlich verhungern, doch konnte er fliehen. In einem militärischen Bündnis mit den Azteken gelang es ihm dann, seine Widersacher zu verdrängen. Bald darauf wurde er in Texcoco, heute schon lange mit Mexico-City zusammengewachsen, endlich auf den Thron gesetzt.3
Diese Jahre des Wartens haben ihn reifen lassen. Das hat seiner Amtsführung sicher gut getan. Er hat ein eigenes Poesieministerium eingerichtet. Das Kriegsministerium blieb arbeitslos und wurde daher geschlossen.4
Einmal verglich er sich mit einem Glühwürmchen, das durch die Nacht schwirrt, auf der Suche nach dem Göttlichen.

In seinem Poesieministerium wurde das gemacht, was heute die Volkshochschule tut, Erwachsenenbildung. Diese war ihm wichtig. Dabei standen zwei Fächer im Zentrum, Ixtlamachilitztli und Yolmelahualiztli, was so viel heißt wie „den Gesichtern Weisheit geben“ (erstes Unterrichtsfach) und „die Herzen aufrichten“ (zweites Unterrichtsfach). Schöner hätte er es nicht ausdrücken können, was die Mitte von Bildung und Erziehung ausmacht. So einfach, mit zwei Wörtern, ist der Kern von Pädagogik ausgedrückt.
Heute ist dieser Kern erschlagen durch Management, Controlling und Modularisierung, durch Pisa-Tests und Bologna.

Wir bräuchten mehr Glühwürmchen!

Bunny im Klassenzimmer

Es stimmt schon: Das Alter verklärt und produziert auch gerne jenes positive Vorurteil, dass früher alles besser war.
Aber eines lasse ich mir nicht nehmen und werde es bis zum Lebensende weiterpflegen: Ähnlich wie ja auch das gute alte Tafelbild seine Fürsprecher hat, breche ich stets für die alten Dias eine Lanze. In einer ungleich schlechteren Ausgangsposition jedoch. Denn selbst wenn die schwarzen Tafeln schon aus vielen Unterrichtsräumen verbannt und durch weiße ersetzt worden sind, und statt Kreide Filzschreiber herhalten müssen, so lässt sich darauf doch noch immer ein Tafelbild zeichnen, bei dessen Entwicklung Kinder „live“ dabeisein können.
Bei den Dias ist das etwas anders. Die Zeit für diese Bildersorte ist endgültig vorbei. Wenn ich sie auch heute noch verwende, so entdecke ich, dass dieses didaktische Instrument schon den allermeisten nicht mehr bekannt ist. Gelegentlich meine ich blinzelnd, dass der Diaprojektor (immer mein eigener) eine Leihgabe aus dem Technischen Museum sei. Die wenigsten Schulen besitzen noch einen und auch in Erwachsenenbildungs häusern ist er, wenn, dann nur noch in der Rumpelkammer zu finden.
Natürlich könnte ich all die Dias beamergerecht ummodeln. Fällt mir nicht im Schlaf ein! Ich bemerke auch, dass, wenn ich dieses so altmodische Gerät mitbringe, mir durchaus die studentische Aufmerksamkeit gehört. Mal was Neues! Das Beamen, das kennen sie ja schon zur Genüge, ja bis zum Überdruss. Aber stehende Bilder? Ruhende Bilder? Sie kennen die Beamervorträge, wo man all das an der Wand lesen kann, was LehrerIn gerade spricht, wo halbbesoffene Buchstaben von oben links nach unten rechts purzeln und von unten links nach oben rechts hinauftänzeln und sich überschlagen. Es heißt doch schon in einem Tiroler Adventlied: „Die Engelen, dö googelen ganz haufenweis hervor.“ Das einzig Unterhaltsame bei Beamern ist doch nur, wenn sie, hier kann ich selten eine gewisse Schadenfreude unterdrücken, beim Probelauf zwar funktionieren und nur, wenn es ernst wird, streiken. (Wobei ich der Objektivität halber nicht verhehlen möchte, dass auch der Diaprojektor seine Tücken hat, und schon auch mal Dias steckenbleiben können.) Bei der Diaprojektoren-Lehrergeneration war es irgendwie anders.
Beamerabhängige LehrerInnen kommen ins Straucheln, bei beamerunabhängigen erhöht sich durch ein streikendes Gerät oft schlagartig die Qualität des Vortrags. Bei Beamereinsatz bemerke ich oft ein Desinteresse vonseiten der Schüler oder Studenten, dem armen schwitzenden Lehrer zu helfen, einfach deshalb, weil der Apparat für sich schon eher einer Black Box gleicht. Bei den Dias hingegen fällt mir im Rückblick auf, stets von hilfsbereiten Technikern umgeben gewesen zu sein. Das Gerät war überblickbar. Der Apparat wollte ein Dia nicht mehr hergeben, hatte es verschluckt, oder ein neues Foto hatte sich über ein altes geschoben und nun bockte das Gerät, weil vielleicht alles verklemmt war. Dem Konsilium interessierter Schüler – meist bildete sich eine ganze Traube um das Gerät – gelang es fast immer, das manchmal nur leicht verbogene oder angekratzte Dia herauszukitzeln. Kluge Lehrer stellten spätestens dann von der Automatik (der Bildzufuhr) auf Handbetrieb um. Insgesamt war die Stunde durch solche Zwischenfälle oft aufgewertet. Die SchülerInnen konnten an der Unterrichtsrettung mitwirken und die Message der Bilder, nach erfolgtem Technikeinsatz, kam besonders gut rüber. Wiewohl die Unterbrechung ihren Unterhaltungswert hatte, so fühlte sich doch das Kollektiv für den guten Aus- und damit Weitergang mitverantwortlich.
Es sind ja wahrscheinlich doch eher die älteren LeserInnen unter Ihnen, die sich noch recht gut an die alten Projektoren erinnern können. So in den Neunzigern passierte der technische Umbruch endgültig und unumkehrbar. Dias hatten ausgedient. Den Jüngeren sei es erklärt: Ja, es gab sie, die Zeit vor den Beamern. Da wurden kleine Fotos verglast und auf dem Kopf stehend in einen Schlitz auf einem Scharnier montiert. Und dann schob LehrerIn selbst mit dieser Schiebevorrichtung die Dias hin und her, jeweils neu eingelegt von links nach rechts und von rechts nach links. Das knackste meistens beim Bildwechsel. Der Apparat wurde gekühlt mit einem kleinen Gebläse und wenn einmal ein Dia nicht auf dem Kopf stehend, also gerade stehend, eingeschoben war, dann jubelten die Schulkinder, denn nun stand das Bild wirklich kopf. (Aber, diese Bemerkung sei erlaubt: Müssten wir nicht öfters einen Kopfstand machen, um manche aufgerichteten, auf-richtigen, will sagen richtig und zu-recht eingelegten Bilder wieder richtig sehen zu können?)
Unabsichtlich sorgten fast alle LehrerInnen, die ein solches Gerät bedienten, für stets willkommene Heiterkeit in der nun farbgetupften Monotonie „Unterricht“.
Lustig auch, wenn einmal Leerlauf war und die Leinwand durch die starke Lampe des Projektors besonders erhellt war. Dann gab es Fingerschattenspiele. Die Kinder sprangen in den Lichtkegel und zauberten allerhand Figuren auf die hell erleuchtete Wand.
Bunnies waren wegen der langen Löffel besonders beliebt. Fingerschnippen verlieh ihnen ihr kurzes Leben. Bis LehrerIn, sich räuspernd, das nächste, das „richtige“ Bild zur Wand brachte. Ähnliche Spiele geschahen auch bei Filmstunden, dann, wann der Filmapparat, nachdem der Filmabspann beendet war, noch leer lief und noch ein wenig gemütlich vor sich hinknurrte und -knatterte …
Ach, das sind sie, die kleinen Seligkeiten eines Lehrers im Rückblick auf seine eigenen optischen Sozialisierungsgeschichten.
Das Leben – eine Diashow? Ob Show, weiß ich nicht so recht, aber Bilderfolge schon. Von der Bildsprache der DNS bis hin zu jenen Bildreihen, von denen uns die Sterbeforschung berichtet. Wenn Dia und Diaprojektor, Leinwand und Bilderzeuger eins sind, wenn das Leben nochmals in Bildern abläuft ... bis hin zu jenem Bild, von dem wir kein Bild haben.

Gegen den Trend

Josef Pieper und Peter Handke ... Was sie nur gemeinsam haben? Beide sind wertekonservativ und zugleich – wie alle, die wirklich konservativ genug sind – umstürzlerisch. Beide formulierten Gedanken zu dem, was wir eine „Pädagogik der Werte“ nennen können. Ihr Zentrum: Ehrfurcht, Staunen und Dankbarkeit.
Pieper sagte: „Ehrfurcht ist keine Angst, aber doch wahre Furcht vor einem Wesen, das wir niemals ganz begreifen noch in seiner grenzenlosen Majestät erfassen.“ Hier sind sie also, die altmodischen Wörter: Ehrfurcht und Majestät. So gar nicht trendy ...
Und Handke lässt staunen. „Die Kinder als Dichter“, schreibt er, „sie stehen da, halten die Hand in den Regen, und das ist ihr Gedicht.“ Gibt es denn etwas Nutzloseres als das? Trotzdem: Ein solches Kind ist gebildet, sein Staunen majestätisch und sein Herz dankbar. Nicht ohne Zufall hat die Sprache die Wörter denken und danken, think und thank, sprachverwandt gemacht. Deshalb darf Bildung primär nutzlos sein, sonst gehen Staunen und Dankbarkeit verloren. Wenn dann Bildung in weiterer Folge jemandem „etwas bringen“ darf – Einsicht, Heilung, Sachkunde und anderes mehr –, so darf es ein Geschenk sein. Aber an den Saum Seiner Majestät reicht kein Nutzen, nur die kleine Hand des Kindes.

Von der Bürokratie und dem Vogel auf dem Baum

Was ist nur mit der Bürokratie, an der jeder halbwegs kreative Mensch leidet, und die einem zuwider ist wie eine Fieberblase vor dem ersten Rendevous?
Die Bürokratie hat „System“, überall. Sie dient ja auch dem (will sagen: jedem) System. Und dieses tendiert zum Eigenleben, ja zu einem „Parallelleben“ (ähnlich wie Computer, die ja dauernd zwischen Trotzphase und Pubertät pendeln und erziehungsresistent sind, vor allem, wenn sie von PädagogInnen bedient werden). Das wundert nicht, denn das Leben ist kreativ. Bürokratie nährt sich von der Macht und die schmeckt süß und „macht besoffen“, wie mein alter Religionslehrer an der LBA einmal sagte. (Für die jüngeren LeserInnen: LBA, das war die alte Lehrerbildungsanstalt; da sind wir als neue Lehrer herausgerollt wie frische Bäckersemmelen, die allermeisten knusprig und nur ganz wenige angebrannt).
Bürokratie, als Klebemittel des Systems, sorgt dafür, dass Lehrende all ihre Kraft wiederum zum System von Machterhalt bündeln, um aus der Sicht manch systemgetreuer Bildungsoberaufseher keine Zeit zu haben, die Anvertrauten mit kritischen Fragebazillen zu infizieren, wie zum Beispiel: Stimmt alles, was auf dem Fremdenverkehrsprospekt steht? Wegen dieser Frage – „linke Ideen!“, „gesellschaftsdestabilisierend!“ – hätte vor Jahren einmal eine Lehrerin fast ihren Job verloren, hätte sie nicht Hilfe vom Bürgermeister bekommen.
Ein Landesschulinspektor, der nach dem Krieg für Tirols Gymnasien zuständig war, hat seine Lehrpersonen mit Galeerensträflingen verwechselt. Einer vom System halt, denn dieses hat ihn ja gehalten und offenkundig noch gehätschelt. Das Herzflattern seiner ProfessorInnen hat ihm wohl signalisiert, den humanistischen Idealen der Bildung wieder nähergekommen zu sein. Ein Lehrer, der einmal eine kritische Bemerkung zum Leistungsdruck äußerte, war schon ein Linksextremer. Ehe man einen solchen in den sechziger Jahren befördert hätte, hätte man damals noch einen Geräteschuppenleiter der nächsten Baumschule mit einer pädagogischen Leitungsfunktion beauftragt.
Besagtes Systemklebemittel will auch verhindern, auf die Idee zu kommen, für die Bildung bedürfe es der Liebe (Adorno). Bildung hat primär nichts mit Administrierung zu tun, sondern mit Solidarität, hat primär nichts mit Management und Controlling (die Sprache für sich ist schon verräterisch) zu tun, sondern damit, wieder das Staunen zu lernen, so wie es kleine Kinder tun, wenn sie erstmals einen Christbaum sehen und die Sternspritzer darauf; oder die Ehrfurcht wiederzuentdecken, die einen überkommt in einem Sterbezimmer; oder wieder Dankbarkeit wertzuschätzen, wenn man daran denkt, dass doch die Eltern die ersten waren, die uns Bildung beigebracht haben: „Schau, das ist ein Vogel, da oben auf dem Baum! ... Hörst du ihn auch?“

Ein umfassender Brief

„Sehr geehrter Herr Prof. Stöger“, begann ein Brief, der mich neulich erreichte. „Können Sie folgende Fragen beantworten? Danke für ihre Hilfe. Mfg“, so setzte sich der Brief fort. Angeschlossen vier Fragen, eher knapp. Der ureigentliche Umfang der nachgestellten Fragen war es nicht.
So lauteten sie:

(1) Wie definieren Sie Integration?
(2) Was soll unter Religion verstanden werden?
(3) Welche Rolle spielen die Religionen im Integrationsprozess?
(4) Wie beeinflusst die Religion das Zusammenleben der Gesellschaften?

Wow, dachte ich mir. Der traut sich was!
Die Beantwortung jeder einzelnen Frage ist schon ein mehrbändiges Lebenswerk für sich. Und dann hab ich es doch gewagt, im Bewusstsein, dass ich nur in kurzen Sätzen, nur vom Bauch heraus werde antworten können (aber vielleicht hat das die Sache gerettet).
Hier der übermittelte Versuch, nicht weniger gewagt als das Anfragen:
Zur 1. Frage (Definition von Integration):
Integration heißt, das Zusammenfließen aller abgespaltenen Teile in mir, die ich dann als ein Ganzes zurückschenken kann, in einen Prozess des Zusammenwachsens und des Von-einander-Lernens. Es sind die nicht integrierten Anteile meiner selbst, die mich selbst wie Killersatelliten umkreisen und mich mit tödlichen Laserstrahlen beschießen. Wenn ich diesen Krieg, eigentlich ein Bürgerkrieg, erkenne, ist der wichtigste Schritt zum Einswerden meiner mit mir selbst getan, ist die Basis für Integration geschaffen.
Zur 2. Frage (was denn unter Religion zu verstehen sei):
Religio heißt, wortwörtlich, Zurückbindung. In dem Maße, in dem ich an das Leben zurückgebunden bin, bin ich auch an die Liebe zurückgebunden. Diese Bindung macht das Wesentliche der Religion aus. Benennungen und Definitionen spielen dabei keine Rolle. Freilich stellt sich die Frage, was denn mit Leben gemeint sei. Uns Christen begegnet dabei das Wort Christi: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Die Religionen sind Einladungen, dem Leben lebensspendende Antworten zu geben. Der Tod ist dabei mit hereingenommen, geht es doch um das ungeteilte Leben, für das das Sterben nur eine Passage, ein Wohnungswechsel zurück zum Hauptwohnsitz ist. Eigentlich sind Religionen zutiefst antikapitalistisch. Leben in Gott ist nicht käuflich, auch wenn das ein Ablasshandel früher einmal so meinte. Religion hat vielmehr mit dem „to be“ (ganz im Sinne Erich Fromms) zu tun.
Zur 3. Frage (Rolle der Religionen im Integrationsprozess):
Religionen spielen dabei eine sehr wichtige Rolle. Ohne intra- und ohne inter-religiösen Frieden wird es keinen regionalen und keinen internationalen Frieden geben können. Das Zentrale ist, dass die Religionen innerhalb ihrer selbst friedvoll und respektvoll miteinander umgehen und vor allem das tun, wovon sie reden. Den einfachen Leuten sei gesagt, dass sie es sind, die den Glauben tragen. Deshalb sollen sie sich nicht verschüchtert zeigen, wenn auch innerhalb der Religionen traurige Dinge passieren. Diese sind vielmehr immer Verrat am Kern des Religiösen.
Zur 4. Frage (Einfluss der Religion auf das Zusammenleben der Gesellschaften):
Sie beeinflusst das Zusammenleben vielfach und tief. Vor allem beeinflusst sie das Zusammenleben durch die Authentizität, mit der das Liebesgebot als Zentrum alles Religiösen auch gehandelt wird (und nicht nur besprochen). Sie liefert Angebote zu einem In-die-Mitte-Kommen. Das geschieht nur durch die Verknüpfung zweier Linien: Mensch-Gott und Mensch-Mensch. Dadurch ist das Spirituelle mit dem Sozialen in einem Kreuzungspunkt verbunden. Das ist der Kern von Martin Bubers „Die-Welt-Ansehen“. Kirchenvater Augustinus (354–430) hat den religiösen Gehalt einer relationalen Mensch-Gott-Beziehung, die als Vertikale mit der Horizontalen einer Mensch-Mensch-Beziehung den Angelpunkt des religiösen Herzens bildet, in seinen Confessiones 1,1 zu fassen versucht: „Du willst, dass es Freude bereitet, dich zu loben, denn du hast uns zu dir hin geschaffen und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir.“

Ja, das war mir die einzige Möglichkeit zu antworten, auf Fragen, die an sich die Welt aus den Angeln heben. Im Grunde waren es Fragen, die wohl immer unbeantwortbar bleiben. Trotzdem versuchte ich, „trotzdem“ zu antworten.

„Ich hoffe, ich konnte ein bisschen dienlich sein. Peter Stöger“, so endete der Brief, der seinen Anfang erst suchen wird müssen.

 

Anmerkungen:

1 José Luis Martínez (1972): Nezahualcóyotl. Vida y obra, México D. F. (Fondo de cultura economica), S. 147; zu Nezahualcóyotl siehe auch: H. Krumpel (2010), Mythos und Philosophie im alten Amerika: Eine Untersuchung zur ideengeschichtlichen und aktuellen Bedeutung des mythologischen und philosophischen Denkens im mesoamerikanischen und andinen Kulturraum, Frankfurt am Main, Peter Lang, S. 130–135, und Alfredo López Austin (1985): La educación de los antiguos nahuas 2, México, D. F. (Secretaría de Educación Pública – Ediciones El Caballito), S. 57 ff.

2 Vgl. J. L. Martínez (1972), S. 74–85.

3 Siehe auch: Miguel León-Portilla: Toltecáyotl. Aspectos de la cultura náhuatl, México, 1980 (Fondo de cultura económica), S. 293, 295f, 395–400; Viola König (1986): Schrift und Literatur, in: Glanz und Untergang des Alten Mexiko, Mainz, 1986 (Verlag Philipp von Zabern), S. 140–154.

4 Ernesto Cardenal hat dies in seinem Büchlein „Man muß Fische säen in den Seen“ (Wuppertal 1973, S. 43–58) in eine poetische Form gegossen.