Schluß Henning - Eine Stadt ohne Angst vor dem Fremden in ihr - TheoArt-komparativ

Eine Stadt ohne Angst vor dem Fremden in ihr

Religion und Bildung

von Henning Schluß

 

Liebe Gemeinde der Zionskirche,

das Verhältnis von Religion und Bildung wird dieser Tage häufig diskutiert. Die Ergebnisse der PISA Studie liefern hierzu zahlreiche Anlässe. Immer wieder wird sie so gelesen, dass die Kinder von Migranten, noch dazu die mit der fremden Religion, bei vergleichenden Schulleistungstests schlecht abschneiden. Wenn man genauer liest, dann sieht man, dass die Kinder des Japanischen Ehepaars, die nach Berlin zu Siemens ins Management gewechselt sind und dem Shintoismus angehören – häufig keine besonderen Bildungsprobleme haben. Offenbar handelt es sich hier weniger um ein Problem der Fremden schlechthin oder der fremden Religion, als um einen Herkunftszusammenhang, den man häufig als aus „bildungsfernen Schichten“ beschreibt. Der deutschen Schule gelingt es deutlich schlechter als anderen Schulsystemen in der OECD, diesen Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg aufzubrechen. Es verlängert die Unterschiede, die die Kinder schon von zu Hause mitbringen, statt an ihre Stelle die Unterschiede zu setzen, die sich im Bildungssystem selbst entwickeln und die wir eigentlich als Schulleistung bezeichnen sollten.

Das ist aber nicht wirklich ein Predigtthema, sondern sollte hier nur dazu dienen zu zeigen, wie sehr in der öffentlichen Wahrnehmung Fremde, Religion und Bildung zusammenhängen. Ein anderes Beispiel das in seiner Wirkungsgeschichte insbesondere für Euch als Berliner Bedeutung hatte, mag das verdeutlichen.

„Hatun Sürücü war die Tochter des Gärtnergehilfen Kerem Sürücü (1940–2007) und dessen Frau Hanım. Ihre Eltern sind sunnitische Kurden aus der ostanatolischen Provinz Erzurum in der Türkei. Sie siedelten Anfang der 1970er Jahre nach Berlin um. Acht ihrer insgesamt neun Kinder wurden in Deutschland geboren, Hatun Sürücü wuchs mit fünf Brüdern und drei Schwestern in Kreuzberg auf. Sie war das fünfte Kind der Sürücüs und ihre erste Tochter. Nachdem sie sich in der Pubertät immer mehr gegen ihre Familie aufgelehnt hatte, meldete ihr Vater sie nach der 8. Klasse des Robert-Koch-Gymnasiums in Kreuzberg ab. Im Alter von 16 Jahren wurde sie mit einem Vetter in der Türkei zwangsverheiratet, von dem sie 1999 schwanger wurde. Als sie sich mit ihm und seiner strenggläubigen Familie zerstritten hatte, kehrte sie alleine nach Berlin zurück, wo sie ihren Sohn Can zur Welt brachte. ..

Im Oktober 1999 zog Sürücü aus der Wohnung ihrer Eltern in Kreuzberg beim Cottbusser Tor aus, legte ihr Kopftuch ab und fand in einem Wohnheim für minderjährige Mütter Zuflucht. Dort holte sie ihren Hauptschulabschluss nach. Zugleich suchte sie psychotherapeutische Unterstützung. Später bezog sie eine eigene Wohnung in Berlin-Tempelhof und begann eine Lehre als Elektroinstallateurin. Sie beendete die Lehre erfolgreich und stand 2005 nur wenige Tage vor dem Abschluss ihrer Gesellenprüfung. Da sie nach wie vor von ihrer Familie akzeptiert werden wollte, hielt sie weiterhin Kontakt zu Eltern und Geschwistern. Am 7. Februar 2005 wurde sie vor ihrer Wohnung an einer Bushaltestelle an der Tempelhofer Oberlandstraße mit drei Kopfschüssen getötet. Als Tatverdächtige nahm die Polizei am 14. Februar 2005 drei ihrer Brüder fest. Als Motiv wurde ein „Ehrenmord“ vermutet, da Sürücü ihren Ehemann wie ihre Familie verlassen und sich entschlossen hatte, ein selbständiges Leben zu führen. Der Polizei waren bereits vor dem Mord mehrere Drohungen gemeldet worden.“ (Wikipedia, zugriff: 17.6.2011).

Soweit die Geschichte, an die sich viele von Euch noch erinnern werden. Es war nicht der erste und nicht der letzte sogenannte „Ehrenmord“ in Berlin, aber er hatte Weiterungen. Ich zitiere weiter aus Wikipedia: „Weitere Aufmerksamkeit erregte der Fall durch die Diskussion in einer achten Klasse der Thomas-Morus-Oberschule in Berlin-Neukölln, in der drei Schüler den Mord billigten („Die hat doch selbst Schuld. Die Hure lief rum wie eine Deutsche“), woraufhin der Schuldirektor Volker Steffens einen offenen Brief an die Eltern schrieb („Diese Schüler zerstören den Frieden des Schullebens, wenn sie den Mord gutheißen. Wir dulden keine Hetze gegen die Freiheit.“). Damit löste er eine bundesweite Reaktion in den Printmedien und eine erneute Diskussion über ein Pflichtfach Wertekunde an Berliner Schulen aus.“ In der Tat hat dann in Berlin die Debatte um die Einführung von Ethik als für alle verbindliches Fach an Fahrt aufgenommen. Immer wieder wurde auf die Ermordung Hatun Sürücüs Bezug genommen. An dieser Stelle soll nicht die Einführung des Ethik-Unterrichts debattiert werden, sondern das Beispiel kann veranschaulichen, wie wir das Verhältnis von Bildung Religion und Fremden in der Stadt zu allermeist diskutieren. Da sind die Fremden, die haben aufgrund ihrer anderen Religion und Kultur gar keine Vorstellung von unseren Werten, den universalen Menschenrechten – deshalb braucht es Bildung für sie, damit sie sich in unserer Gesellschaft normkonform bewegen. Das Verhältnis von Bildung Religion und Fremdheit ist zumeist so bestimmt, dass wir von den Fremden fordern, dass sie sich bilden, damit sie so werden wie wir. Ob die Fremden dazu von Ihrer Religion lassen müssen, das ist dann eine Frage der eigenen Einstellung. ‚Wir leben ja in einer säkularen Gesellschaft, also müssen auch die Fremden ihre Religion überwinden‘ – kann man aus den Vereinigungen engagierter Atheisten hören. Wir Evangelischen fordern zumindest gern einen „aufgeklärten Islam“ und diagnostizieren, dass dem Islam eben die Aufklärung gefehlt habe, er deshalb nicht zwischen Staat, Gesellschaft Kultur und Religion unterscheiden könne, sondern, wie im Europa vor dem Investiturstreit – oder wahlweise vor den Religionskriegen – eine Art „reichskirchliches Weltganzes“ (wie das Boeckenfoerde genannt hat) im Auge hat. Immerhin können wir da auch auf jüdische Historiker wie Dan Diner verweisen, die diese Thesen unter Titeln wie: „Versiegelte Zeit – Über den Stillstand in der islamischen Welt“ klug belegen. Umso überraschter sind wir, von dem „arabischen Frühling dieser Tage. Furcht und Hoffnung halten sich in der Pressekommentaren zumindest die Waage. Ob ein gemäßigter Diktator im nahen und mittleren Osten nicht doch besser ist als eine Demokratie, bei der niemand weiß was rauskommt? Das von uns Evangelischen propagierte Mittel ist deshalb auch prompt: „Bildung“ nun allerdings nicht als Ethikunterricht für alle, sondern als islamischer Religionsunterricht der unter anderem die Aufgabe hat, über die eigene Religion aufzuklären. Die religiöse Bildung muss aus den Moscheen heraus in die öffentliche Schule geholt werden. Dort hat islamischer Religionsunterricht genauso ein Recht, wie katholischer, jüdischer und evangelischer, so die seit Jahren vertretene Position der EKD. Natürlich muss diese religiöse Bildung der Fremden in der öffentlichen Schule in deutscher Sprache stattfinden. Und so die Hoffnung, die z.B. auch von meinem Kollegen am Wiener Lehrstuhl für islamische Religionspädagogik immer wieder ausgesprochen wird, wird sich eine Art aufgeklärter Euro-Islam bilden, mit hier ausgebildeten Imamen und Religionslehrkräften, die ihre Religion nach den Maßstäben des Grundgesetzes zivilisieren.

Bildung zivilisiert die Religion und ist so in der Lage, die Fremden etwas weniger fremd zu machen. Genau dann – um nochmal das Thema der Reihe aufzugreifen, müssen wir auch weniger Angst vor ihnen haben. Wir machen die Fremden uns ähnlich, durch Bildung, um uns die Angst vor ihnen zu nehmen. Durch die kurze Zusammenfassung mag das etwas karikierend gewirkt haben, was nicht heißt, dass an diesen Überlegungen nichts dran ist. Ich fasse das so kurz zusammen, weil das eigentliche Thema meiner Predigt ein anderes sein soll. Wenigstens drei Bedenken möchte ich aber noch mit auf den Weg geben.

1. Wenn wir so wie eben über Bildung reden, dann reden wir vor allem über die Vermittlung von Kenntnissen, neuerdings auch verstärkt von Kompetenzen, die insofern über Kenntnisse hinausgehen, als sie nicht nur ein Kennen sondern auch ein Können beschreiben sollen. Aber Kenntnisse über eine Sache oder auch das Können garantieren nicht ein entsprechendes Verhalten. In dem Dialog „Protagoras“ lässt Platon seinen Sokrates mit Protagoras über die Frage diskutieren, ob denn die Tugend überhaupt lehrbar sei. Das Ergebnis der Diskussion ist die Umkehrung der Ausgangslage, Sokrates sieht, dass es an der Tugend lehrbare Anteile gibt, nämlich zu wissen, was tugendhaft ist, und Protagoras, der als Tugendlehrer sein Geld verdient, gibt zu, dass man tugendhaftes Verhalten nicht lehren könne. Das mag uns eine kleine Mahnung sein, die Erwartung nicht zu überschätzen, durch die Installation von Unterrichtsfächern direkt auf Verhalten durchgreifen zu können.

2. Der Bildungsgedanke, wie er seit dem 19. Jh. im deutschen Sprachraum Verwendung findet, hat eine zentrale Pointe darin, dass Bildung die Aufgabe des Subjekts ist. In diesem Sinne kann einen kein anderer bilden, sondern man kann sich nur selbst bilden. Der moderne Bildungsgedanke verweist deshalb eher auf die Bildsamkeit als auf die Bildbarkeit. Es weiß weder Mutter noch Vater, weder Lehrerin noch Lehrausbilder, was aus dem Individuum wird, sondern dieses muss seinen Lebensweg selbst gehen, sich selbst mit der Welt auseinandersetzen und somit sich selbst bilden. Bildung, in diesem Sinne, kann also keine Garantie für eine bestimmte Einstellung, Haltung, Auffassung sein. Bildung ist deshalb immer riskant – weil man gerade nicht weiß, was herauskommt. Die Hoffnung, durch Bildung die Fremden zu zivilisieren, indem man sie uns ähnlich macht, hat jedenfalls einen normativen Subtext, der dem Bildungsgedanken gerade widerspricht. Insofern waren unsere absolutistischen Staatslenker schon gut beraten, die Allgemeine Bildung auf ein Mindestmaß zu beschränken, denn gebildete Untertanen können der eigenen Macht gefährlicher werden als ungebildete.

3. Gerade an diesem Ort darf eine Erinnerung an die Zeit von vor über 20 Jahren ausgesprochen werden. Auch die Machthaber damals hatten gehofft, die Religion, wenn schon nicht durch Bildung, dann wenigstens durch Erziehung einhegen zu können. Sie haben sich glücklicherweise getäuscht. Auch Religion sollte in einem Rechtsstaat die Möglichkeit zustehen, Politik zu kritisieren und sich ihr nicht nur unterzuordnen, wie die Politik auch die Religionen kritisieren kann.

Diese skeptischen Einwände sollen nicht so verstanden werden, als ob man deshalb die Fremden lieber ungebildet lassen sollte, damit sie uns nicht gefährlich werden sollen – vielleicht würde das World Trade Center noch stehen, wenn die Hamburger Universität Mohamed Atta die Studienzulassung verweigert hätte – sondern sie sollen darauf hinweisen, dass wir mit Bildung vielleicht vorschnell Hoffnungen auf Assimilation verbinden, die mit dem Bildungsbegriff keineswegs gegeben sind.

Eine ganz andere Perspektive auf das Verhältnis von Bildung, Religion und Fremden kann man in unserem Predigttext aufspüren:

Der Text (Mk. 7,24-30)

Die Heilung der Tochter der Syrophönizierin nach der Übersetzung Walter Grundmanns im Theol. Handkommentar zum NT

Par: Matth. I5,2I-28

(24) Von dort stand er auf und ging fort in das Gebiet um Tyrus. Und er ging hinein in ein Haus und wollte, dass es niemand erführe, und er konnte nicht verborgen bleiben.

(25) Vielmehr hörte sofort eine Frau von ihm, deren Tochter einen unreinen Geist hatte; sie kam und fiel zu seinen Füßen.

(26) Die Frau aber war Griechin, Syrophönizierin von Geburt. Und sie bat ihn, dass er den Dämon aus ihrer Tochter austriebe.

(27) Und er sagte ihr: (Lass zuerst die Kinder satt werden. Denn) es ist nicht recht, das Brot der Kinder zu nehmen und es vor die Hündlein zu werfen.

(28) Sie aber antwortete und sagt zu ihm: Ja, Herr. (Aber) Auch die Hündlein fressen unter dem Tisch von den Bissen der Kinder.

(29) Und er sagte ihr: Um dieses Wortes willen gehe hin, ausgefahren ist aus deiner Tochter der Dämon!

(30) Und sie ging in ihr Haus und fand ihr Kind auf dem Lager liegend und den Dämon ausgefahren.

Erläuterungen zum Kontext

(24) Von dort stand er auf und ging fort in das Gebiet um Tyrus. Und er ging hinein in ein Haus und wolIte, daß es niemand erführe, und er konnte nicht verborgen bleiben.

„Von dort“, das bezeichnet ein Streitgespräch, das Jesus in der Markinischen Komposition unmittelbar vor unsere Geschichte setzt. Wieder einmal hatte sich Jesus mit Schriftgelehrten und Pharisäern gestritten. Diesmal hatten sie ihn gefragt, weshalb seine Jünger sich nicht vor dem Essen die Hände waschen, wie die Reinheitsgebote es verlangten und nach einigem hin und her ist Jesus förmlich der Kragen geplatzt und er hat behauptet, der Mensch könne gar nicht durch das verunreinigt werden, was in ihn hineinginge, nur das was aus ihm herauskommt, das mache wirklich unrein. Nicht mal die Jünger hatten ihn verstanden und so fährt er sie auch an und erläutert gereizt, was er meint. Was man zu sich nimmt, an Essen und Trinken, das gehe durch den Menschen hindurch. Es komme am anderen Ende wieder hinaus, tangiere aber nicht die Lebensmitte des Menschen, sein Herz, das was den Menschen wirklich ausmacht. Ganz anders ist es mit den Dingen, die Menschen tun und sagen. Diese kommen aus ihnen selbst, für die sind sie selbst verantwortlich und alles das, „böse Gedanken, Hurerein, Diebstähle, Morde, Ehebrüche, Habgierigkeiten, Bosheiten, Falschheit, Schwelgerei, neidischer Blick, Lästerung, Überheblichkeit, Unvernunft, alle diese bösen Dinge kommen von innen heraus und verunreinigen den Menschen“ (Mk 7, 22-23).
Wir merken es, Jesus ist aufgebracht und er muss weg, weg von diesen Leuten, die ihn nerven mit ihrer aufgesetzten Frömmigkeit. Sie haben offenbar nichts von dem verstanden, worum es wirklich geht. Sie halten sich an Äußerlichkeiten fest und verstehen nicht, dass es nicht um diese Äußerlichkeiten geht, sondern dass sie lediglich der Ausdruck dessen sind, worum es wirklich geht. In diesem Fall darum, was Gott eigentlich von seinen Menschen will und mit ihnen will. Jesus in seinem Element, Jesus als der Lehrer mit mehr oder weniger unbelehrbaren Schülern. Eine pädagogische Grundsituation. Wir würden am liebsten die Tür vom Gemeinderaum zuknallen, die Tür des Klassenzimmers ins Schloss schmeißen und erstmal durchatmen. So macht es auch Jesus:

„Von dort stand er auf und ging fort in das Gebiet um Tyrus.“

Tyrus, heute Sûr, eine Stadt im Libanon mit 120.000 Einwohnern, am Mittelmeer gelegen, in unmittelbarer Nähe der Grenze zum nördlichen Israel. Damals war sie die wichtigste Stadt der Phönizier. Schon damals also eine Stadt an der Grenze. Eine Stadt, die durchaus noch im kulturellen Einflussgebiet Israels stand.

(25) Vielmehr hörte sofort eine Frau von ihm, deren Tochter einen unreinen Geist hatte; sie kam und fiel zu seinen Füßen.

(26) Die Frau aber war Griechin, Syrophonizierin von Geburt. Und sie bat ihn, daß er den Dämon aus ihrer Tochter austriebe.

Die Hoffnung des lokalen Prominenten Jesus, sich zurückzuziehen und seine Ruhe zu haben, erfüllt sich nicht. Kaum ist er angekommen im Ausland, schon kommt eine Frau, die ihn kennt, von ihm gehört hat und ihn um etwas bittet. Die Heilstaten Jesu hatten sich herumgesprochen, sogar hier in so genanntem heidnischem Gebiet. So sehen wir schon bei Mk 3, 8, wo in Galiläa viel Volk Jesus umdrängt die nicht nur aus Israel, sondern auch aus dem griechischen Ausland kamen.

Was dann passiert ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte Jesu, wir hätten das so nicht erwartet, es ist doch ein Skandal, wie der Jesus mit der Frau umgeht. Ja klar, wir sind auch manchmal gereizt, aber Jesus? Und warum wird es dann auch noch aufgeschrieben, in dieses „Heilige Buch“. Die Geschichte, wie Jesus ausfällig gegenüber einer fremden Frau wurde und die sich unterwürfig ihm andient.

Bernd Albani, der spätere Pfarrer der Gethsehmanekirche im Prenzlauer Berg, schrieb in einer Predigt über diesen Text, die er 1988 bei einem Friedensseminar in Meißen hielt in einem „Monolog an Jesus“ folgende Sätze: „Ja, du regst mich auf, Jesus. Das passt nicht in mein Bild von dir. Das Bild des freundlichen, des liebevollen Jesus. Das Bild von einem Jesus, der auf der Seite der Erniedrigten steht. Wie kannst du nur so hart sein zu dieser Frau, so abweisend, so ausgrenzend, so beleidigend? Wie kannst du nur so reden?“1

Exegese

Für mich selber ist im Zusammenhang mit dieser Geschichte eine Erfahrung beim Bibliodrama wichtig geworden. Ich wählte die Rolle der Frau, weil ich ihre Selbsterniedrigung nicht verstand. Wie kann sich ein Mensch nur selbst so schlechtmachen, die Erniedrigung durch einen anderen nicht nur über sich ergehen lassen, sondern sie sogar noch aufnehmen. Im Prinzip sagt sie doch, ja, Du hast Recht Jesus, ich bin ein Hund. Indem ich diese Frau gespielt habe passierte mir etwas Eigenartiges. Ich hatte damals noch keine Kinder und doch fühlte ich, als ich als sie agiert habe, dass ich das alles nicht für mich tat, sondern für meine Tochter. Die liegt krank und stirbt vielleicht und die einzige Hoffnung ist dieser Mensch da, der mich beleidigt – in dem Moment war mir das aber völlig egal, mir ging es um meine Tochter und ich versuchte alles, um ihn umzustimmen. Dass es eine Beleidigung war, habe ich gar nicht so sehr mitbekommen und habe vielmehr nur registriert, wie gut sich das Argument so drehen lässt, dass Jesus vielleicht doch noch aufspringt, doch noch seine Meinung ändert.

Deshalb mobilisiert sie alle Kräfte, nimmt alle Beleidigungen in Kauf um ihrer Tochter zu helfen. Auf sich nimmt sie keinerlei Rücksicht. Ehrbegriffe verblassen einfach vor dieser existentiellen Notwendigkeit, dem eigenen Kind das Leben zu retten.

Exegetisches

Als Theologen schauen wir freilich immer erstmal in unsere textkritischen Kommentare und erleben da, dass die dort vorgestellten Deutungen die Anstößigkeit unserer Geschichte erheblich abschwächen.

(27b!) „Denn es ist nicht recht, das Brot der Kinder zu nehmen und es vor die Hündlein zu werfen.“

Dass da von Hündlein die Rede ist, ist nicht niedlich gemeint, sondern ist möglicherweise überhaupt eine gebräuchliche Form zu der Zeit oder es bezeichnet die Haushunde im Unterschied zu den streunenden Wildhunden, denn im sprachlichen Bild befinden wir uns ja bei der Mahlgemeinschaft im Haus.

Dieses Sprachbild war ähnlich bekannt, wie das unsrige von den „Perlen vor den Säuen“, wenngleich es stärker noch auf existentielle Grundbedürfnisse verweist. Der Vergleich von Heiden mit Hunden bewegt sich sicher nicht erst heute jenseits jeder political correctness, sondern war damals schon verletzend und diskriminierend. Jesus in den Mund gelegt ist dieses Wort eine gezielte Provokation in der Verhältnisbestimmung von Dazugehörenden und Draußen Stehenden. Diejenigen, die Drinnen stehen, bestimmen, wer dazu gehören darf und wer Draußen stehen muss. Zugespitzt geht es um die Frage, ob das Brot des Reiches Gottes auch Nichtjuden gegeben werden kann. Sie spiegelt die Auseinandersetzung in den frühen Gemeinden: Auf der einen Seite diejenigen mit der Botschaft „Jesus ist der Messias nur für Israel!“ gegen die auf der anderen Seite, die proklamierten „Der Gott Israels will Heilung für alle, die ihrer bedürfen – auch für die Menschen aus nichtjüdischen Völkern!“.

Vielleicht ist es Markus selbst, der in die Geschichte schon eine gewisse Deutung einträgt,. Die Textkritische Forschung legt nahe, dass der Vers 27a aus der Redaktion des Markus stammt. Mit diesem Versteil klingt die Geschichte so:

(27) Und er sagte ihr: Laß zuerst die Kinder satt werden. Denn es ist nicht recht, das Brot der Kinder zu nehmen und es vor die Hündlein zu werfen.

Markus würde dann eine der zeitlichen Reihenfolge eintragen. Das ist nicht mehr so ausschließlich, wie das strikte; „es ist nicht recht“ sondern ganz im Sinne des Paulus wird hier eine Abfolge beschreiben, zuerst die Juden, dann die Welt.

Eine andere Interpretationsmöglichkeit bezieht sich darauf, dass Jesus sich ja mit seinen Jüngern zurückziehen wollte, um sich auf ihm und ihnen bevorstehendes vorzubereiten. Dann würde die Frau ihn einfach in der Klausur mit den Jüngern stören, zu der er sie sich zurückgezogen haben. Das ist ja nun wirklich unverschämt. Wie würden wir reagieren, würde jemand in die andächtige Stille des Gottesdienstes platzen und wollte, dass der Pfarrer Enger mal eben seine Tochter, die zu Hause daniederliege, heile? Wir würden doch auch sagen, gute Frau, sie sehen doch, wir sind gerade alle in der Andacht, kommen Sie doch in einer halben Stunde nochmal wieder.

Für welche Interpretation man sich auch entscheidet, der Frau in unserem Text hilft die wie auch immer begründete Abwehrhaltung von Jesus in ihrer konkreten Not herzlich wenig. Sie interveniert:

(28) Sie aber antwortete und sagt zu ihm: Ja, Herr. (Aber) Auch die Hündlein fressen unter dem Tisch von den Bissen der Kinder.

Das „Aber“ ist nicht von allen Varianten des Urtextes bezeugt. Im Nestle-Aland ist es darum nicht mit in den Haupttext aufgenommen in der Übersetzung von Walter Grundmann fehlt es auch, aber die Lutherbibel fügt es ein und ich finde sie hat inhaltlich in jedem Fall recht, denn schlagfertig nimmt die Frau das Niveau auf, stimmt ihm Ehr erbietend (Ja, Herr) zu und findet mit dem widerständigen Wort „aber“ Augenhöhe – „aber die Brosamen“. „Danke, Herr, die Brosamen reichen – mehr wollen wir nicht, das hilft uns schon!“. Brosamen oder „Kleine Bröckchen“ (psichioi) deuten tatsächlich eher darauf, dass dieser Tisch in einer armen Familie steht.

Und schließlich führt die Argumentation der Frau zum Erfolg:

(29) Und er sagte ihr: Um dieses Wortes willen gehe hin, ausgefahren ist aus deiner Tochter der Dämon!

Das Wort „Glauben“ verwendet Markus nicht, aber doch, so die Kommentare, geht es hier um den Glauben. Es sei kein Verdienst, welcher die Heilung durch Jesus bewirke, sondern ihr Zutrauen zu ihm. Der Sache nach, nicht dem Begriff nach, ist eben dieses Zutrauen das was den Glauben ausmacht.

Jesus lernt

Jesus ist abweisend, arrogant, fremdenfeindlich in dieser Geschichte, das haben wir gesehen. Aber wie in vielen Begegnungsgeschichten gibt es eine Veränderung. Menschen begegnen Jesus und ändern ihr Leben – nicht alle tun das, manche ziehen auch traurig von dannen, wie der reiche Jüngling, gerade weil sie Jesus verstanden haben, andere kehren um, tuen Buße wie es heißt, sie ändern ihr Leben, geben die Hälfte ihres Besitzes den Armen, wie Zachäus, nachdem Jesus sich bei ihm zum Essen eingeladen hatte. Dass sich etwas ändert, ist also doch eigentlich nichts Besonderes in dieses Jesusgeschichte?

Besonders ist aber, was sich hier ändert. Sonst ist es in der Regel Jesu Gegenüber, die oder der eine neue Einsicht gewinnt. Sei es, wenn auf einer Hochzeit Wasser zu Wein wird oder wenn der zwölfjährige Jesus im Tempel die Schriftgelehrten belehrt. In unserer Geschichte aber ist es Jesus, der sich verändert. Jesus kommt als ein anderer raus aus dieser Geschichte, als der er hineingegangen ist. Er hat etwas gelernt durch die Begegnung mit dieser ausländischen Frau. Dabei hat er nicht irgendetwas gelernt, ein Wort auf Griechisch meinethalben, das ihm die Frau beigebracht haben könnte, sondern er hat eine Erfahrung gemacht, die den Kern seines Lebens betrifft. Diese Begegnung, so meine Interpretation, hat Jesu Leben verändert und zwar an dem wichtigsten Punkt überhaupt, an dem, was seine eigene Botschaft angeht. Die Beziehung zu dieser ausländischen, fremdgläubigen Frau lässt ihm klarwerden, dass sein bisheriges Welt und Selbstkonzept – er ist geschickt zu den Kindern Israels – Unsinn ist. Er versteht; Gott ist viel größer, als er bislang von ihm gedacht hat. Die Begegnung mit dieser Frau macht nicht, dass Jesus irgendetwas dazulernt, sondern es ist eine sehr eigene, sehr grundsätzliche Lernerfahrung die Jesus macht.

Was bedeutet das für unser Thema, Religion und Bildung in Bezug auf die Angst vor Fremden? So wie ich es vorhin kurz zusammengefasst habe, ist unsere Perspektive auf Religion, Bildung, Fremde zumeist: Die Fremden sollen sich bilden, dann müssen wir auch weniger Angst vor ihrer Religion haben. An dieser Geschichte mit Jesus sehen wir eine ganz andere Perspektive: In der Begegnung mit der Fremden, lernt Jesus etwas über seine eigene Aufgabe. Wenn man so will, lernt Jesus hier etwas über seine Religion. Jesus lernt von einer Fremden, was Gottes Wille mit ihm und mit der Welt ist. Das Heil ist nicht beschränkt auf sein Volk, sondern Gottes Heil ist für alle Menschen gemeint. Das lernt Jesus nicht im Dialog mit den Schriftgelehrten oder Pharisäern, nicht von Johannes dem Täufer und nicht im Gespräch mit seinen Freunden, den Jüngerinnen und Jüngern – er weiß es auch nicht schon aus sich selbst oder aus der göttlichen Eingebung, sondern er lernt es von dieser Fremden. Genau dieser Fremden, die er ersteinmal sehr barsch abgebürstet hat, die er mit einem Hund verglichen hat. Wir nichtjüdischen Christen können dieser Frau aus Syrophönizien zu Dank verpflichtet sein. Wir können aber auch von ihr lernen. In der Begegnung mit den Fremden können wir uns selber bilden. Wir können etwas über Religion lernen. Nicht nur über die Religion der Anderen, sondern, das zeigt diese Geschichte von Jesus, wir können etwas über unsere eigene Religion lernen. Nicht nur etwas nebensächliches, sondern sogar noch etwas da, wo es ans Eingemachte geht, wo der Kern unseres Glaubens berührt wird. Wen meint Gott mit seiner Guten Botschaft? Er meint alle, auch die vermeintlich Fremden. Jesus hat bei dieser fremden Frau so viel Glauben gefunden, wie bei vielen nicht, die er eigentlich als seine Landsleute, seine Volk, seine Gemeinde hätte bezeichnen können. So lasst uns die Begegnung mit den Fremden nicht scheuen, nicht nur, damit sie etwas lernen und wir etwas von ihrer Religion lernen, sondern wir dürfen hoffen, etwas über uns selbst, über unseren eignen Glauben in der Begegnung mit anderen zu erfahren.

Das eröffnet auch nocheinmal eine andere Perspektive auf das Verständnis von Mission. Mission und Bildung werden da zuweilen in einem Atemzug genannt. Gewöhnlich verstehen wir Mission so, dass wir den Fremden, den Unentschlossenen, den Atheisten etwas nahebringen von der Guten Botschaft Gottes. Diese Geschichte zeigt uns, in der Begegnung mit ihnen können wir etwas lernen über Gottes Absichten mit der Welt und mit uns.

Amen.

 

Anmerkungen

1 Predigt vom 17.4.1988 beim Friedensseminar in Meißen (Thema: "Überwindung von Abgrenzungen - mit Grenzen leben") gehalten hatte. (veröffentlicht in der Samisdat-Zeitschrift "Aufrisse 2" 1988)