Schlattner Eginald - Freiheit und Literatur - TheoArt-komparativ

Freiheit und Literatur

Gedanken und Anregungen eines Schriftstellers und Gefängnispfarrers

Ein Gespräch mit Eginald Schlattner

 

Man muss die künstlerische Freiheit wieder zurück auf den Boden holen.
Herta Müller
… und die Wahrheit wird euch frei machen.
Joh 8,32

 

Im Folgenden spricht Eginald Schlattner über die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit. Ausgeleuchtet finden sich seine Erfahrungen in einer aufregenden Roman-Trilogie, die in der internationalen Feuilleton-Landschaft heftige Reaktionen auslöste und Dokumentar-Filmer wie Literaturkritiker kontrovers zu Stellungnahmen herausforderte. Sigrid Löffler äußerte beim Dichterfest in Erlangen 2001: „Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen ist offensichtlich zu Ende. Aber dieses Ende ist in den Romanen von Eginald Schlattner exemplarisch aufgehoben – im Hegel’schen Sinne.“
Eginald Schlattner ist 1933 geboren, Siebenbürger Sachse und als Gefängnispfarrer in Rumänien tätig. In persönlichen Aufzeichnungen beschreibt er einen Teil seines Lebensweges wie folgt:

1973 geschah etwas, ich war 40, was ich dezidiert als Ruf zur Nachfolge Christi auffasste. Somit ließ ich voll heiligen Schreckens alles stehen und fallen und begann, neuerlich Theologie zu studieren – in Hermannstadt (hier ist der Evangelische Bischofssitz). Zwischen 1978 und 1999 war ich Pfarrer in Rothberg und Neudorf, später Burgberg. Diese stattlichen Gemeinden sind nach dem Ende der Diktatur 1989 infolge des Massenexodus ruckartig geschrumpft: Noch gibt es in Rothberg fünf sächsische Seelen zwischen 70 und scheintot (wie jemand feststellte, ich mitten drin), Tendenz fallend. Nach der blutigen Wende 1989 war ich zehn Jahre Redakteur des Amtsblattes Landeskirchliche Information. Es ist eine Chronik des Untergangs unseres Volkes und der Verwandlung unserer Kirche in etwas Ungekanntes.

Seit über 20 Jahren bin ich Gefängnispfarrer der Evangelischen Kirche Augsburger Bekenntnisses in Rumänien, zuständig für alle 44 Haftanstalten des Landes. Zusätzlich begleite ich im Gefängnis Straßburg am Mieresch-Aiud-Nagyengyed und Klausenburg-Cluj-Kolozsvar seelsorgerlich und diakonisch 40 bis 50 nicht-evangelische Frauen. Und betreue die Bundesdeutschen, die hier einsitzen. In den letzten fünf Jahren geht es um ökumenische Gruppen. Evangelische Sachsen sind rar geworden. Unsere Kirche besteht landesweit aus 13.000 Seelen, mittleres Alter 60 Jahre, folglich kaum noch kriminelle Energie.

In einem Gespräch zum Thema „Freiheit und Literatur“ äußert sich Schlattner wie folgt:

P.T.: Herr Schlattner, worin sehen Sie einen wesentlichen Impuls und eine besondere Motivation für Ihr eigenes literarisches Schaffen?

E.S.: Die neugewonnene politische Freiheit nach dem blutigen Sturz der Ceausescu-Diktatur im Dezember 1989 war der notwendige Grund. Doch nicht hinreichend.
Man konnte zwar nun alles sagen, was man vier Jahrzehnte lang verschweigen musste. Oder was ausgesprochen ein Jahr an Haft einbrachte.
Nur erwies sich nach der ersten Euphorie für uns nahezu allesamt der Umgang mit der Freiheit als anstrengend, ja belastend. Es stellte sich heraus, dass der Mensch keineswegs zur Freiheit geboren ist, sondern dass er das Handwerk der Freiheit mühsam erlernen muss. Ja, es gibt eine Nostalgie nach den Zeiten der Diktatur, wo einem alles diktiert worden ist: Was man zu denken und zu essen hatte, wie man seine Arbeit verrichten musste und wie es galt zu schlafen und zu lieben. Der Mensch wurde zu seinem Glück gezwungen. Was die Freiheit so anstrengend, ja bedrohlich sein lässt, ist, dass man Entscheidungen treffen muss. Und jede Entscheidung ist ein Vorgriff auf die Zukunft mit ungewissem Erfolg, oft mit unerwünschtem Ausgang.
Der hinreichende Grund, das auslösende Moment zum Schreiben jedoch war jeweils etwas anderes:
Verzweiflung beim Roman Der geköpfte Hahn (Paul Zsolnay Verlag, Wien 1998), als ich als Pfarrer plötzlich nach dem fluchtartigen Exodus meiner Landsleute und Kirchenkinder in den Jahren 1990 bis 1992 vor leeren Bänken sang, sagte und segnete.
Im Roman Rote Handschuhe (ibid 2001) war es der Anruf, mir in schonungsloser Offenheit Rechenschaft zu geben, was in den zwei Jahren Zellenhaft bei der Securitate in Stalinstadt von 1957 bis 1959 mit mir und durch mich geschehen ist.
Im Roman Das Klavier im Nebel (ibid 2005) war es das Motiv der Abbitte an einen geliebten Menschen, den ich in Konstanza am Schwarzen Meer vor der
Konditorei Crysantema habe stehen lassen, ohne Wiedersehen.

Gibt es Werke aus Literatur, Musik und anderen Künsten, die Ihr schriftstellerisches Wirken besonders prägten?

Die Russen. Die Literaturkritik stellt den Roman Rote Handschuhe, der, wie gesagt, autobiografisch und mit radikaler Redlichkeit die zwei Jahre Zellenhaft bei der Securitate thematisiert, in die Reihe mit fünf Autoren, davon drei Russen: Dostojewski, Aus einem Totenhaus; Tschechow Die Insel Sakhalin; Solschenizin, Die Krebsstation. Ferner Zweig und Kafka – und wo die Analogien darin bestehen: Wie man mit der Freiheit umgeht, die einem genommen worden ist. Oder anders: Wie man trotzdem freibleibt, selbst wenn man räumlich und physisch der Freiheit zur Gänze beraubt worden ist. So viel zum Thematischen.
Von der Konkretheit des Dargestellten her ist es Oskar Walter Cisek gewesen, Bukarester deutscher Autor (Strom ohne Ende), Kleistpreis etc., der mir Mut machte zu der Freiheit einer äußersten sinnlichen Bildhaftigkeit.
Zu dem Thema „Musik“ in der Schriftstellerei zitiere ich aus einer Vorlesung von Dr. Rolf Willaredt zum Roman Das Klavier im Nebel, Temesvar, wo er im Instrument Klavier das Leitmotiv des ganzen Romans zu erkennen meint: „Im symphonischen Zusammenklang der Bilder, Themen und Charakteristika der
Figuren des Romans spielt das Klavier das Soloinstrument. In seinem Klang, in seiner Mechanik, in seiner Handhabung verkörpert es den Gang und Sinn der Handlung.“
Musik, die den Vorgang des Schreibens begleitet? Sie erwarten Mozart, Bach. Eher beflügelten mich Mendelssohn Bartholdy und Chopin. Und neuerlich die sogenannte ‚verfemte Musik‘: Stücke jüdischer Komponisten, Viktor Ullmann, Gideon Klein, Pavel Haas, Hans Krása, entstanden in den Vernichtungslagern; wobei deren Anhören einen spüren lässt, dass es selbst im Angesicht rauchender Todesschlote das Bewusstsein von Freiheit und Befreiung geben kann im Schöpferischen. Für mich ist eine Antinomie von Freiheit die Angst, die Angst als Wort von Enge. Musik ist es, die in Situationen der inneren Bedrängnis befreit, Trost spendet, fast im Sinne des Schlagers: Sing ein Lied, wenn du mal traurig bist … Wobei Trost eine andere Dimension der Freiheit ist: Ohne dass sich etwas an der Lage formal verändert hat, die dich in Bedrängnis bringt, erfährst du von innen her das beglückende Gefühl des Freiseins – als Trotzdem. Eine Erfahrung während der zwei Jahre Zellenhaft: ein Motiv im Roman Rote Handschuhe. In der Zelle wurde nicht nur gelitten, sondern auch gelacht.

Was verstehen Sie persönlich unter „Freiheit“?

Ich habe nur persönlich gefärbte, existentiell bestimmte Vorstellungen – wohlgemerkt: Vorstellungen – von dem chamäleonartigen Begriff „Freiheit“.
Trotzdem gibt es einige Aussprüche als Markierungspunkte, die in bestimmten Lebenslagen weitergeführt haben, ja herausgeführt haben, rettend zur Hand waren, dass ich mich im labyrinthischen Areal der Freiheit zurechtfinden konnte.
Unser Vater ließ uns wissen, dass man die Freiheit am Verbot erkenne (Der geköpfte Hahn). Hätte es im Paradies kein Verbot gegeben, hätte das erste Menschenpaar seine Freiheit nicht erkennen können und hätte diese Freiheit auch nicht verspielen können. Übrigens handelt es sich im Garten Eden um eine primäre Freiheit, die – bis auf das eine Verbot – unbegrenzt war, weil sie zum Himmel hin offen stand; den Unterschied zwischen Himmel und Erde kannte sie nicht. Im sogenannten Sündenfall profiliert sich als Gegenteil zur Freiheit die Entfremdung. Eine dreifache Entfremdung, die sich darin kundtut, dass die Menschen sich verbergen, verkriechen, ein Versteck suchen. Und sich ausdrückt als Entfremdung zu Gott hin: Man flieht seinem Ruf; als Entfremdung zum Lebenspartner hin: Man fürchtet die Blöße des anderen; als Entfremdung zu sich selbst hin: Man schämt sich. Und noch etwas zeigt diese emblematische Geschichte: Frei ist man in der ersten Entscheidung. Das Folgende unterliegt der Zwangsläufigkeit dieses ersten Schrittes der Mündigkeit.
Ein anderes Wort als Orientierungshilfe, sinngemäß von Rosa Luxemburg etwa so gesagt: Meine Freiheit endet dort, wo ich die Freiheit des anderen störe oder einschränke. Das sieht man in Rumänien anders! Zum Beispiel heißt es hier selbstbewusst: In meinem Haus und Hof kann ich schalten und walten nach Belieben. Die Musik dröhnen lassen übers ganze Dorf und meine Kinder prügeln nach Belieben. Was man nicht einmal als Wort hierzulande kennt, ist der Begriff „Rücksicht“, die selbstgewollte Einschränkung meiner Freiheit aus Rücksicht auf den andern. Dagegen: Ehe ich meine Freiheit in Anspruch nehme, vergewissere ich mich, ob ich damit niemandem verquer komme, einen anerkannten Kanon nicht verletze. Freiheit wird damit ein Ordnungssystem, das einen allgemeinen Konsens voraussetzt. In meiner Kindheit hieß es, wenn man sich gegenüber dem geltenden Ordnungskodex, der Etikette, dem guten Ton eine Freiheit herausnahm: „Ich bin so frei.“ Unüberbietbar bestimmt die Grenzen der Freiheit – und dass Freiheit Grenzen kennen muss, um Freiheit zu bleiben – der kategorische Imperativ. Für den einfachen Menschen die Goldene Regel: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füge keinem anderen zu.“
Ferner, es soll von Lenin stammen: Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Ich habe zwei Jahre und zwei Tage in ein und derselben Zelle verbracht, ohne Hofgang, ohne einen Sonnenstrahl, Gott Lob, selten allein; drei Schritte auf, drei Schritte ab; mehr als drei Schritte waren es allein dann, wenn sie dich wie einen Blinden mit Blechbrillen zweimal am Tag aufs Klosett geleiteten oder zu den Verhören schleppten. Nach einigen Wochen hatte ich erkannt, dass diese 7m2 auf ‚unbegrenzt‘ mein Logis sein würden. Und sagte mir, und dadurch habe ich überstanden: „Diese Zelle ist deine ganze Freiheit. Eine andere Freiheit außerhalb gibt es nicht. Nun sieh zu, was du aus dieser Freiheit machst.“ Es bietet sich bei Lenin ein Freiheitsbegriff an, der die Notwendigkeit, auch in Form übermächtiger Not, anerkennt. Und indem ich sie annehme, gewinne ich im Rilke‘schen ‚Weltinnenraum‘ eine inkommensurable Freiheit, die von keiner Macht der Welt angetastet werden kann: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘, selbst wenn sie mit Füßen getreten wird.
Ferner: Nie war ich so luzide, das heißt, geistig und intellektuell so frei, wie in der Zelle. Ich löste im Kopf partielle Differentialgleichungen II. Grades (wo ich heute mit Ach und Krach eine Textaufgabe der 8. Klasse bewältige). Genervt habe ich die Zellengenossen mit dem Satz: „Genießt den Knast, die Freiheit wird furchtbar sein!“ Alles lechzt im Gefängnis nach der Freiheit. Wobei sich selbstredend die Frage nicht stellt: Freiheit wovon? Nur weg, wohin immer! Und noch weniger kommt hinter Gittern die Frage auf: Freiheit wozu? An der ‚Freiheit wozu‘ scheitern die meisten Freigekommenen, damals und jetzt, was ich als Gefängnispfarrer bestätige. Nochmals: In der Zelle als Weltinnenraum wurde nicht nur gelitten, sondern es konnte auch gelacht, gedacht, gedichtet und komponiert werden. Das ‚befreiende Lachen‘ ist eine Ingredienz der Freiheit und weist darüber hinaus auf die Spur der Engel.
Ferner: Die Wahrheit wird euch frei machen! (Joh 8,32b) Eine Dimension der Freiheit ist die Wahrheit. Wer sich zur Wahrheit bekennt, schafft um sich einen Raum der Freiheit: Er setzt sich zwar Angriffen aus, indem er die Dinge beim Namen nennt; aber er ist unverletzlich. Lügner sind Feiglinge! Sie leben in Angst, entdeckt zu werden, büßen die Freiheit ein, freie Menschen zu sein. Die johanneische Wahrheit aber meint Gott als den Inbegriff der Liebe. Diese Weise von Freiheit quillt aus dem Wesen Gottes und enthebt den Menschen der Wechselfälle der Unfreiheit. Oder anders: Wo wahre Liebe obwaltet, ist der Mensch frei. Oder noch anders: Die Echtheit einer Liebe erweist sich darin, dass man sich im Angesicht des anderen frei fühlt, sich nicht verstecken muss, dass die dreifache Entfremdung abfällt, man sich vor dem anderen, vor Gott und vor sich selbst nicht mehr zu verstecken braucht, der Hauch des Paradieses weht einen an.
Und hier ist der Ort für den Kernsatz aus Martin Luthers Abhandlung Von der Freiheit eines Christenmenschen: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr
über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller und jedermann untertan.“ Damit wird die höchste Form von Freiheit angesprochen: Die Freiheit, im Geiste der Liebe dem anderen zu Diensten zu sein. Wozu einen die Freiheit befähigt, die ihren Grund im Glauben hat.
Und denkbar. Es steht uns auch noch die Freiheit des Sterbens ins Haus, die Dietrich Bonhoeffer in seinen Stationen auf dem Wege zur Freiheit im Kapitel Tod postuliert:

Komm nun, höchstes Fest auf dem Weg zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
unseres vergänglichen Leibes und unserer verblendeten Seele,
dass wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen missgönnt ist.
Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.

Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach der Begriff der Freiheit in der europäischen Literatur- beziehungsweise Kunstgeschichte? Welche Rolle kommt dabei dem Begriff der Widerstandsfähigkeit zu, dem „Resilienz“-Gedanken?

Weiß ich? – Literatur- und Kunstgeschichte, unter dem Begriff der Freiheit angeschaut, so scheint es mir, handeln von einem Freiwerden. Wovon? Von kanonisierten Formen. Die Inhalte bleiben sich gleich: Es geht um den Weg von der Wiege bis zur Bahre im Widerspiel von Müssen und Können, von Bestimmtwerden und Handeln, von Widerstand und Ergebung, von ... Nur, wie gebe ich das zum Besten? Das ist die Aufgabe, die sich stellt. Inwieweit füge ich mich den tradierten, ritualisierten, klassischen, akademischen Formen, dem eben gültigen Kanon der Darstellung? Und: Inwieweit weiche ich ab, mache ich mich frei, rebelliere ich und begründe eine neue Schule, eine Richtung, erfinde Namen von -ismen? – Das Was ist das Standbein, das Wie ist das Spielbein, wo ich mich in Freiheiten ergehe. Wo auch der Rückgriff auf das Klassische ein Akt der Freiheit sein kann und sollte.
Und hier kommt der Resilienz-Gedanke ins Spiel, ich kenne den Begriff nicht, kann mir aber etwas darunter vorstellen. Denn es geht nicht nur um ein Aufbegehren gegen das Herkömmliche, ein Neugestalten im Formalen, ein verspieltes Sichversuchen in neuen Darstellungsweisen bis Dada und Oskar Pastior. In der Literatur und Kunst steht auch die politische Dimension zur Diskussion, wird in Frage gestellt, wird angeprangert, ja bekriegt. Jedes Machtsystem, selbst Demokratien, Horte der Freiheit, fürchten den Künstler. Warum wohl? Weil er das gegebene Ordnungssystem in Frage stellen könnte, sogar stürzen könnte? Ich erinnere mich nicht, dass Werke der Literatur oder Kunstwerke Revolutionen ausgelöst hätten, selbst Pamphlete oder die Karikatur nicht. Stimmt das, was ich sage, so ergibt sich die Frage: Warum dann so viel Angst vor den subversiven Autoren und rebellischen Künstlern, die gegen das Regime antreten, so sie antreten? Beginnend mit den Bücherverbrennungen und dem Stigma der ‚Entarteten Kunst‘ im Dritten Reich, bis zu den Abweichlern vom sozialistischen Realismus hinter Gittern und bis hin zum Index der katholischen Kirche gab es drastische Konsequenzen für die Aufrührer im Kultur- und Kunstbetrieb, sogar Kerker und Hinrichtungen. Warum eigentlich, wenn nichts geschieht? – Aber vielleicht irre ich mich und unterschätze den Grad an Sprengkraft des Künstlerischen.

Sehen Sie einen erkennbaren Zusammenhang zwischen einer „Freiheit der Kunst (Literatur)“ und einer „Freiheit in der Kunst (Literatur)“?

Vielleicht so: „Freiheit der Kunst“ scheint mir die unbeschränkte, frivole, verantwortungslose Freiheit zu sein, alles zu sagen, was gesagt werden kann (bis hin zu den ‚Feuchtgebieten‘). „Freiheit in der Kunst“, meine ich, heißt zu begreifen, dass Literatur, aber auch die Kunst, davon lebt, was nicht gesagt wird: Unausgesprochen bleibt, was zwischen den Zeilen steht, was zwar jeder weiß, aber dennoch ungesagt bleiben möge. Eine andere Deutung wäre, dass Freiheit in der Literatur beinhalten sollte, den lesenden Menschen zu befreien: von den Ängsten, von den Bedrohungen, vom Tiefsinn, von der Verzweiflung, von der Sinnlosigkeit, von Kitsch und Banalem; ich meine – als ein Nichtliterat von der Profession her, man bedenke dieses in allen meinen Anmerkungen –, dass es zur vornehmen Freiheit in der Literatur gehört, dem Menschen Freude und Mut zu schenken, ihm das Lachen zu lehren und in ihm die Hoffnung wach zu halten.
In der NZZ wurde Der geköpfte Hahn gefeiert als eine literarische Überraschung aus einem vergessenen Winkel der Welt. Aber ich glaube mich zu erinnern, dass es in jener Rezension auch hieß, die Gespräche über Gott könne man ruhig überblättern. Nun, ich weiß von mehreren Sterbenden, die als letztes Buch ihres Lebens diesen Roman gelesen, auch oder gerade wegen der scheinbar überflüssigen Seiten, aber auch weil es gelang, zuletzt und vor dem Ende noch einmal zu lachen: ein Lachen vor dem Tode, in diesem Fall als eine Form vorweggenommener Transzendenz.

Welche Rolle spielt der Aspekt „Freiheit“ in Ihrem schriftstellerischen Schaffen? Wo fließt er besonders in Ihre Dichtung ein?

Darüber muss ich nachdenken: Vielleicht im Roman Der geköpfte Hahn; die Erfahrung der jüdischen Schulkollegin, die die Deutsche Schule verlassen musste, nur weil sie in der falschen Wiege gelegen war; ihr wurden elementare Freiheiten entzogen, letztendlich sogar die Freiheit zum Leben verweigert. Oder die Freiheit als Tat der Solidarität im Sinne von Wahrheit und Liebe, als sich der Ich-Erzähler, mein alter ego, 15-jährig, freimachen konnte vom ideologischen und kasernenmäßigen Drill des Hitlerjungen und gegen alle verhängte Ordnung und Strafe den Mut aufbrachte, sich zu dem jüdischen Mädchen zu bekennen. – Freiheit auch als Mut zum Einzelgang.
Im Roman Rote Handschuhe die Grunderfahrung, dass es keine Zwangssituation gibt, wo es nicht ein Minimum an infinitesimaler Freiheit gibt, die dich deine Entscheidungen in eigener Verantwortung treffen lässt. Und damit Freiheit als Rettung der Persönlichkeit. Denn wenn man alles der Unfreiheit in die Schuhe schiebt, was das eigene Schicksal betrifft, dann demontiert man sich selbst als Persönlichkeit. Wenn immer nur der andere, das Außen Schuld ist an meinem Lebensweg, ich mich immerfort in der Opferrolle gefalle, dann verliere ich Gesicht und Charakter. Ich kenne das als Gefängnispfarrer: „Ja, ich habe ihn umgebracht, aber der Tote ist schuld!“ – Die Freiheit als unabdingbarer Ort der Persönlichkeit.
Und in dem Buch, das meinem Gemüt am nahesten steht, Das Klavier im Nebel, so meine ich, ist ein Akt der rebellischen Freiheit jener Ausbruch des jungen Klavierspielers, der in die Tasten des Klaviers hämmert, auf Teufel komm raus, während die anderen von Securitate-Soldaten in die Viehwaggons eingepfercht werden, um deportiert zu werden; und eben in dieser Schluss-Szene die Tat der jungen Serbin, die einem der Häscher die messerscharfe Schere ins Herz stößt und aufrechten Ganges im Nebel verschwindet: Freiheit als Tat im Sinne des Existenzialismus, aber auch der Humanität. – Langer Rede kurzer Sinn, oder als Quintessenz Paul Verlains Sentenz: La liberté est un état de l’esprit.

 

Coda – nach Eginald Schlattner

Tagebuchnotiz Rothberg, Pfarrhof, 11XII2009

Herta Müller: Auf meinem fernen Pfarrhof erwischte ich die Szene im TV, als Herta Müller den Preis aus der Hand des Königs entgegennahm. Ich bewunderte die genaue und fehlerlose Regie der Hände (es heißt, der Zeremonienmeister des Hofes übe das vorher mit den Preisgekrönten ein. Günther Grass soll sich Leukoplast an die Schuhsohlen geklebt haben, um auf dem königlichen Parkett nicht zu Fall zu kommen).

Wie dem auch sei: Mich rührte diese Szene. Ich kenne Herta Müller persönlich von gemeinsamen Lesungen mancherorts. Ihre filigrane Gestalt strahlte bei diesem hohen Akt so viel Gelassenheit aus, eine Ruhe von innen her, gepaart mit Demut und stilisierter Anmut.

Und wie sie sich verbeugte: vor dem König genauso hoheitsvoll wie zu den erlesenen Gästen hin im Halbkreis, dreimal. Das war gelebte Würde in Freiheit, herabgeholt auf den kunstvollen Boden eines Schlosses.

Ich nehme ihr ab, dass der noble Preis ihr Leben nicht verändern wird.

Ja, und als sie dann das Millionenpublikum beruhigte, sie würde sich für das Preisgeld „keine Yacht kaufen“, fiel mir erst ein, dass es hier um schwindelnd hohe Gelder geht: ein Dazu an Freude.

Gewandet war sie, comme d‘habitude, in Schwarz. Aber das ansonsten ‚Ganz in Schwarz‘ war diesmal garniert mit Weiß, verheißungsvoll.

Ja, es bewegt mein Gemüt, dieser Staatsakt im prunkvollen Schloss in Stockholm um das Mädchen aus Nitzkydorf.

Ich war einige Male in Nitzkydorf zu Gange. Jedes Mal war da ein Touch von Poesie mit im Spiel: so in den 60er-Jahren bei einer ‚Kerweih‘. Wir waren Gäste in einem schwäbischen Haus, das geliebte Mädchen aus Gnadenflor und ich. Einquartiert wurden wir in der guten Stube. Wir verbrachten die Nacht zu zweit auf einem schmalen Sofa. Währenddessen im altdeutschen Bett ein schwäbischer Großvater verstarb, unter einem
Jägerhut und bei Kerzenlicht. Nun also: Nitzkydorf.

„Tempi passati“, sagte meine Großmutter. Und manchmal ergänzte sie: „Finita la commedia!“