Resinger Paul - Lesekompetenzförderung bei Berufsschülerinnen und Berufsschülern durch berufsspezifische Lern-/Leseaufgaben - TheoArt-komparativ

Lesekompetenzförderung bei Berufsschülerinnen und Berufsschülern durch berufsspezifische Lern-/Leseaufgaben

Promoting reading skills of vocational school students with means of job-focused learning and reading tasks

von Paul Resinger

 

Zusammenfassung

Das in Vorprojekten bereits erfolgreich umgesetzte Konzept des Einsatzes von berufsspezifi­schen Lernaufgaben wurde im Forschungsprojekt „Lesekompetenzförderung an Berufsschulen" in Richtung Leseförderaufgaben erweitert. Das Innsbrucker Forscherteam Hans Brunner, Paul Resinger und Maria Schaffenrath an der Pädagogischen Hochschule Tirol (Österreich) unter­suchte, welcher Fortschritt hinsichtlich berufsrelevanter Lesekompetenz durch einen gezielten, regelmäßigen Einsatz von berufsspezifischen Lern-/ Leseaufgaben erreicht werden kann und entwickelte Diagnoseaufgaben, mit denen Berufsschullehrer/innen im Fachunterricht Lesedefizite der Lehrlinge rasch feststellen können. Die Daten der empirischen Untersuchung belegen, dass der Einsatz von Lern-/ Leseaufgaben bei schwachen Leserinnen und Lesern zu einer signifikanten Verbesserung der Lesekompetenz führt.

Abstract

The use of job-focused learning tasks has evolved and been successfully implemented within school development projects. The concept has now been expanded in the research project "Promoting reading at vocational schools". The Innsbruck research team Hans Brunner, Paul Resinger and Maria Schaffenrath (Pedagogical University Tyrol, Austria) have evalu­ated the improvement in vocational school students' reading skills through the trialling of specially designed job-focused learning and reading tasks (experimental groups compared to control groups). In addition they have developed a tool for vocational schools to diag­nose reading skills deficits. The data of the empirical study proves that the use of specially designed learning material leads to a significant improvement in the reading skills of students with deficits.

Schlüsselwörter

Berufsschüler/innen, Lesekompetenzförderung, Diagnoseaufgabe

Keywords

vocational school student, improving reading skills, reading skills diagnosis

Im Rahmen des auf Vorprojekten an der ehemaligen Berufspädagogischen Akademie des Bundes in Innsbruck und an der Pädagogischen Hochschule Tirol aufbauenden österreichweiten, vom Ministerium und dem Tiroler Wissenschaftsfonds geförderten Forschungsprojekts „Lesekompetenzförderung an Berufsschulen" wurden folgende Forschungsfragen untersucht:

1. Welcher Lernfortschritt hinsichtlich berufsrelevanter Lesekompetenz kann durch einen gezielten, regelmäßigen Einsatz von berufsspezifischen Lern-/ Leseaufgaben nach einem Ausbildungsjahr (Lehrgang) bei den Lehrlingen festgestellt werden?

2. Handelt es sich bei den Diagnoseaufgaben zur Feststellung der berufsre­levanten Lesekompetenz um konstruktvalide Instrumente (Überprüfung der Modellgeltung)?

3. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Lesemotivation sowie dem Lesekonzept und der Lesekompetenz der Lehrlinge?

4. Wie lässt sich ein gezielter, regelmäßiger Einsatz von berufsspezifischen Lern-/ Leseaufgaben in einem Lehrgang umsetzen?

5. Wie wirkt sich die Teilnahme am Forschungsprojekt bei den aktiven Lehrerinnen und Lehrern hinsichtlich ihrer Professionalisierung aus?

Dem Problemaufriss folgt in diesem Beitrag die Skizzierung des an der Pädagogischen Hochschule Tirol (PHT) verfolgten ganzheitlichen Förderan­satzes für Berufsschüler/innen. Nach der Beschreibung der Entwicklung der Lern-/ Leseaufgaben wird auf das Forschungsprojekt (methodischen Heran­gehensweise) sowie auf die Entwicklung der Diagnoseaufgaben eingegangen. Auf die zentralen Ergebnisse des Forschungsprojekts folgt schließlich die Überleitung zur Feststellung der berufsrelevanten Lesekompetenz mit Hilfe der Aufgabe „Jugend und Internet".

1. Problemaufriss

Die viel beachteten und breit rezipierten PISA-Studien (z.B. Baumert, 2001; Haider & Reiter, 2004) konzentrieren sich unter anderem auf die Lesekompe­tenz, bei der es um mehr geht als einfach nur lesen zu können. Lesekompetenz versteht sich als Bedingung „jeder Art selbstständigen Lernens, und ist damit eine Voraussetzung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben" (Steffens & Messner, 2003, S. 26).

An österreichischen Berufsschulen gibt es neben einer Gruppe von durchaus qualifizierten und leistungsstarken Jugendlichen einen relativ hohen Anteil an sehr schwachen Leserinnen und vor allem Lesern (Mädchen haben in Lesen einen großen Vorsprung vor den Burschen), die ernsthafte Schwierigkeiten haben, ihre Lesekompetenz als ein effektives Instrument einzusetzen, um ihr Wissen und ihre Fähigkeiten weiterzuentwickeln und somit für lebenslanges Lernen gerüstet zu sein. Es ist anzunehmen, dass diese Jugendlichen in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt sind. In Österreich gehören 20 % der Schüler/innen am Ende der Pflichtschulzeit zur Lese-Risikogruppe (Schwantner, Toferer, Schreiner, 2013), in Südkorea „nur" rund 8 %, in der Schweiz 14 % und in Deutschland 15 %.

Im Vergleich zu PISA 2009 reduzierte sich dieser Wert erfreulicherweise um acht Prozentpunkte, dennoch werden immer noch 26 % der Buben und 12 % der Mädchen dem Level 1 oder unter 1 zugewiesen (ebd.). Level 1 (unterteilt in Level 1a und Level 1b) bedeutet zusammengefasst, dass die Schüler/innen nur wenig komplexe Leseaufgaben bewältigen können (Heraussuchen von eindeutig angegebenen Informationen aus kurzen und einfachen Texten, die von vertrauten Gegenständen handeln, Verknüpfung mit einfachem Alltagswissen). Bei der ersten PISA-Studie zählten 30 % der Berufsschüler/innen bzw. 42 % der Pflichtschulabgänger/innen zur Risikogruppe. Im Vergleich zu PISA 2000 zeigten die Teilergebnisse der PISA-Studie 2003 zur Lesekompetenz sinkende Kompetenzwerte (Haider, Reiter, 2004). So zählten in der Berufsschule nunmehr schon 39 % zur Risikogruppe (Level 1 und unter 1), in der Polytechnischen Schule (PTS), deren Abgänger/innen zu 42 % ein Lehrverhältnis beginnen, zählten bereits 54 % zur Risikogruppe. Während sich bei PISA 2006 (BIFIE, 2012a) bei den Ergebnissen in Lesen keine wesentlichen Verbesserungen im Vergleich zu PISA 2000 zeigten, wurde bei PISA 2009 (BIFIE, 2012b) sogar eine kontinuierliche Verschlechterung der Leseleistung insbesondere in den unteren Leistungsbereichen festgestellt, sodass es über alle Schultypen hinweg zu einer deutlichen Erhöhung der Risikogruppe (28%) gekommen ist. Bei PISA 2012 (aktuelle Testung) sank dieser Wert — wie eingangs erwähnt — auf 20%, in der Berufsschule bleibt er allerdings konstant hoch: Eine Anfrage beim Bundes­institut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens zum Anteil der Berufsschüler/innen, die bei PISA 2012 in Lesen zur Risikogruppe zählen, ergab, dass 38,9% der 15-/16-jährigen Berufsschüler/innen (n=754; gewichtete Analyse) zu dieser zählen. Ein ähnlich konstantes schlechtes Bild zeigte sich bei Testung der an der PHT entwickelten Lesekom­petenzdiagnoseaufgaben. Bei dieser, in diesem Beitrag weiter unten besprochenen Diagnoseaufgabe „Jugend und Internet" (n=557) ist bei 40,1% der getesteten Berufsschüler/innen von einer geringen Fähigkeitsausprägung auszugehen.

Trotz dieser klaren Datenlage mangelt es an einigen Schulstandorten bzw. bei nicht wenigen Berufschullehrer/innen — vor allem bei jenen mit Unterrichts­gegenständen der Fachtheorie und Fachpraxis — an der Einsicht/Einstellung für die Notwendigkeit von Fördermaßnahmen: „Wer mit 16 Jahren immer noch Probleme mit Lesen und Schreiben hat, dem ist nicht mehr zu helfen!" „Wir bilden keine Kommunikationsmechaniker aus" oder wie es ein Schulleiter einer Polytechnischen Schule formulierte: „Wir bereiten unsere Schüler auf Basis seiner Stärken auf die Lehre vor und quälen ihn nicht mit Lesen und Schreiben, also mit etwas, womit er sich die ganze Schullaufbahn mühevoll, aber offensichtlich erfolglos beschäftigte." Solche Aussagen fallen auch an Berufs­schulen in Deutschland (Ballauf, 2015), es ist aber festzustellen, dass – nicht zuletzt durch gesetzliche Vorgaben – immer mehr Berufsschulen in Österreich und Deutschland die Förderung von Lese- und Schreibkompetenz bzw. breiter gefasst, die Gestaltung eines sprachsensiblen Unterrichts ernst nehmen.

Zusammengefasst kann gesagt werden, dass es an österreichischen Berufs­schulen je nach Lehrberufsgruppen viele Klassen geben wird, in denen die Hälfte der Schüler/innen große Probleme mit dem Lesen hat. Nachdem Lesen als eine Grundvoraussetzung für das Lernen bezeichnet werden kann, stellt dies ein ernsthaftes pädagogisches Problem dar. Darüber hinaus ist der Anteil von Jugendlichen mit verzögerter Bildungslaufbahn und sonderpädagogischem Förderbedarf an Berufsschulen deutlich höher als bei allen anderen Bildungs­routen im Sekundarbereich II. Auch finden sich gerade in der Berufsschule zu einem überproportionalen Anteil Schüler/innen, die negativ sozialisiert, – sowohl aufgrund der häuslichen Situation wie auch durch ihre zurückliegenden schulischen Erfahrungen – häufig „schulmüde" und demotiviert sind. „Lern-und Leistungsförderung", „Chancenausgleich" und „Integration" sind zentrale Themen, die nicht nur für Jugendliche mit mangelhaften Deutschkenntnissen relevant sind. Sie betreffen alle und sie stellen für die Berufsschulen mit ihren heterogenen Schüler/innen-Gruppen eine besondere Herausforderung dar und setzen – als eine von mehreren Basiskompetenzen – die Förderung der Lese­kompetenz von Berufsschülerinnen und Berufsschülern voraus.

2. Ein ganzheitlicher Ansatz zur Förderung einer berufsrelevanten Lesekompetenz

In der Definition des hier vorgestellten Forschungsprojekts wird von berufsrele­vanter Lesekompetenz (Schaffenrath, 2008) gesprochen, die für die Bewältigung der berufsschulischen und insbesondere der aktuellen und künftigen beruflichen Herausforderungen sowie für einen lebenslangen Lernprozess (Franzmann u. a., 2001) erforderlich ist. Sie umfasst sechs Kompetenzbereiche, die sich auf das Lesen und Bearbeiten von berufsspezifischen Fachtexten, Gebrauchsanwei­sungen, Bedienungsanleitungen, Aufgaben und Arbeitsaufträgen sowie Plänen, Normen, Tabellen etc. konzentrieren.

Berufsrelevante Lesekompetenzförderung, wie überhaupt die Förderung von Grundkompetenzen, kann aufgrund dichter Lehrpläne bei gegebener Zeitknapp­heit in der Berufsschule als Teilzeitschule nicht in einzelne Fächer – z.B. in den Unterrichtsgegenstand „Deutsch und Kommunikation" – ausgelagert werden, sondern soll im engen Kontext mit den inhaltlichen/fachlichen Anforderungen bzw. Zielsetzungen des Unterrichts durch didaktisch-methodische Maßnahmen in möglichst allen Unterrichtsgegenständen gefördert werden. Die fachüber­greifende Förderung berufsrelevanter Lesekompetenz ist darüber hinaus auch deshalb notwendig, weil davon auszugehen ist, dass das thematische Interesse, die persönliche Bedeutsamkeit des Lerngegenstandes und damit der persönliche Nutzen sowie eine für Berufsschüler/innen relevante Zielsetzung die Voraus­setzungen für jene Lesemotivation bilden, welche positive Effekte von Lese­kompetenzförderungen erwarten lassen (Schaffenrath, 2005; Streblow, 2004).

Der hier skizzierte ganzheitliche Förderansatz wurde im Rahmen des im Folgenden beschriebenen Forschungsprojekts gezielt verfolgt.

3. Professionalisierung der Berufsschullehrerinnen und Berufsschullehrer

Professionalisierung ist eine Forderung, die gegenwärtig an die Lehrer/innen-­Bildung gestellt wird (in Österreich z.B. Schratz, Paseka, Schrittesser, 2010; in Deutschland z.B. Helmke, 2010) mit der Begründung, dass prosperierende Lern- und Bildungsgesellschaften auf Expertinnen und Experten des Lehrens- und Lernens angewiesen sind. An der Pädagogischen Hochschule Tirol, Institut für Berufspädagogik, wird im Zuge der Ausbildung auf die Entwicklung von folgenden Professionsmerkmalen besonders geachtet:

• Fähigkeiten zur Unterrichtsdifferenzierung, die gleichzusetzen sind mit der Kompetenz, sehr heterogen zusammengesetzte Schüler/innen-Gruppen lernmäßig so voranzubringen, dass alle und jede/r Einzelne profitieren – und dazu zählt die Leseförderung im besonderen Maße;

• Fähigkeit zur Reflexion und zum Diskurs: sich durch eigenes Beob­achten/Befragen, gemeinsames Reflektieren der erhobenen Daten, durch Diskussion und Erprobung möglicher Handlungsalternativen etc. situa­tives/lebendiges (statt träges) Wissen anzueignen und basierend darauf Handlungskompetenzen zu entwickeln.

Eng verbunden mit dem oben skizzierten Ansatz, im Rahmen des alltäglichen Berufsschulunterrichts Lesekompetenz fördernde Lernprozesse in Gang zu setzen und zu begleiten, konzentrieren sich unsere Bemühungen darauf, Aufgaben mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad zu konstruieren. Zusätzliche Muster- und Übungsbeispiele sollen schwächer Lernende/Lesende angemessen unterstützen, während schwierigere Aufgaben die besser Lernenden/Lesenden herausfordern. Den Schülerinnen und Schülern wird dadurch die Chance gegeben, sich ihrem individuellen Leistungsvermögen entsprechend zu entwickeln. Damit diese Chance realisiert werden kann, braucht es professionell arbeitende Lehrerinnen und Lehrer mit ausgeprägten diagnostischen und sicheren didaktisch-metho­dischen Kompetenzen (Schaffenrath, Wieser, 2005). Allein die begründete Entscheidung für eine bestimmte Lern-/Leseaufgabe „setzt die Fähigkeit voraus, selbst ähnliche Aufgaben für ein effektives Unterrichtsarrangement konzipieren zu können" (Stäudel u.a., 2012). Studierende der Ausbildung entwickeln daher im Rahmen des Moduls „Methoden, Medien und Bildungsstandards in der Berufsbildung" alleine, zu zweit oder in kleinen Gruppen selbst Lernauf­gaben. Zusätzlich bedarf es der Bereitschaft und des Könnens, gesetzte didaktische Maßnahmen wiederholt auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen, wobei die jeweiligen Erkenntnisse zu immer neuen Überarbeitungen/Verbesserungen der Lern-/Leseaufgaben führen (Wieser, Schaffenrath, 2008). Die von den Studie­renden entwickelten Lernaufgaben werden daher im Rahmen des Folgemoduls „Leistungsfeststellung und Evaluation" im Unterricht getestet und evaluiert.

Durch die gemeinsame Entwicklungsarbeit von Lern-/Leseaufgaben in den Lehrveranstaltungen entfaltet sich die didaktisch-methodische Handlungskom­petenz der Studierenden. Weiterführend trägt diese an den Schulstandorten zur Entwicklung einer fächer- und stufenübergreifenden Aufgabenkultur und zur Entwicklung eines gemeinsamen schulischen Lernrahmens (Bestand an Lehr-­Lern-Formen) bei.

4. Entwicklung von berufsspezifischen Lernaufgaben/Leseaufgaben

In Analogie zu den in der dualen Bildung üblichen „Meisterstücken" bezeichnet das Forscherteam an der Pädagogischen Hochschule Tirol Lernaufgaben/berufs­spezifische Leseaufgaben als „didaktische Meisterstücke". Der damit assoziierte hohe Qualitätsanspruch ist durchaus beabsichtigt, erfordert das duale Bildungs­system doch eine hochkarätige Didaktik, einen „meisterhaften Umgang" der Lehrenden mit den ihnen anvertrauten äußerst heterogen zusammengesetzten Lernendengruppen. Das Augenmerk bei Lernaufgaben, welche wir als Kern­stück eines kompetenzorientierten Unterrichts ansehen, „wird dabei – anders als bei Testaufgaben – nicht auf die Überprüfung von Wissen, sondern vielmehr auf das Bereitstellen gestaltungs- und kompetenzorientierter Lernsituationen gelegt" (Bloemen, Schlömer, 2012, S. 128). Sie fungieren in gewisser Weise „als Bindeglied zwischen den Performanzen beruflichen Handelns und den zur Bewältigung von Aufgabenstellungen notwendigen Kompetenzen" (ebd.). Lern­aufgaben bzw. berufsspezifische Leseaufgaben verstehen sich „als Prototypen, als Muster, Modelle, Vorbilder. Sie setzen bei jenen Lehrplanbereichen an,

• die eine hohe allgenneinbildende und berufsbildende Relevanz haben und

• die erfahrungsmäßig häufig Schwierigkeiten verursachen, d.h. von Lehr­lingen nicht beherrscht, aber von den Betrieben eingefordert werden" (Schaffenrath, Wieser, 2005, S. 108).

Grundlegende Anforderungen für die Entwicklung von Lernaufgaben/ berufsspezifische Leseaufgaben finden sich in einem aufwändig entwickelten „Raster" bzw. einer Handlungsanleitung. Diese Strukturvorgabe dient den Studierenden/Lehrerinnen und Lehrern vorab als erste Entscheidungshilfe. Die dann einsetzende Entwicklungsarbeit basiert auf Gestaltungsprinzipien, die auch das didaktische/fachdidaktische „Know How" der am Forschungsprojekt beteiligten Fachdidaktiker/innen, Berufsschullehrer/innen und Studierenden einfordern. Folgende didaktische Gestaltungsprinzipien dienen als Orientierung (Wieser, Schaffenrath, 2008):

• Ist der Inhalt der Lernaufgabe von Relevanz? Bezieht er sich also auf eine Kernkompetenz/Basisqualifikation, die in der Berufsschule vom Lehrplan gefordert und vom Berufsbild her unverzichtbar ist?

• Erfüllt die Lernaufgabe die Forderungen nach Lebensnähe/Sinnhaftigkeit? Ist sie also, lernbiographisch betrachtet, für die Schüler/innen attraktiv/ interessant? Regt sie dazu an, ihre alltäglichen Erfahrungen zu reflektieren und auf Basis neuer Inhalte zu interpretieren? Spüren die Schüler/innen, dass die Beschäftigung mit der Lernaufgabe der eigenen beruflichen und/oder privaten Entwicklung dient?

• Ist es nachvollziehbar, welche Lernprozesse durch die Aufgabe in Gang gesetzt bzw. welche Verhaltensänderungen initiiert werden sollen? Ist die Lernaufgabe auf höhere Lernniveaus ausgerichtet (z.B. Anwendung von Tech­niken, Probleme analysieren, Lösungswege suchen, entdecken, begründen usw.) und weist sie ein ansprechendes Maß an Offenheit auf? (Offenheit in Bezug auf den Problem- und/oder Lösungsweg als auch Ergebnisoffenheit)?

• Werden didaktisch-methodische Grundanliegen berücksichtigt und entspre­chende Hinweise gesetzt? Ist die Lernaufgabe ansprechend gestaltet, beinhaltet sie klare Arbeitsanweisungen und verständliche Texte, Hinweise zu weiterführenden Quellen (nicht das Ganze zur Bearbeitung erforderliche Wissen soll „präsentiert" werden), hinlängliche Übungsmöglichkeiten, Aufforderungen zu kritischem Hinterfragen, Anregungen zu selbststän­digem und/oder kooperativem Arbeiten sowie Selbstkontrollen?

• Wird die Aufgabe unterschiedlichen Anspruchsniveaus gerecht? Ist die Lernaufgabe von den Voraussetzungen der Schüler/innen her bewältigbar? Wird die Aufgabe auf möglichst verschiedenen Lernniveaus angeboten und wird, um der erforderlichen „Passung" Genüge zu tun, der Schwie­rigkeitsgrad (vor)eingeschätzt? Dieser Aspekt ist wichtig, denn nicht jede Lernaufgabe, die bestimmte Kompetenzen erfordert, fördert diese auch, etwa dann, wenn sie über- oder unterfordert.

• Bietet die Lernaufgabe ausreichend Möglichkeiten, lernschwierigen Schüler/innen Erfahrungen mit selbstständigem Lernen und Arbeiten machen zu lassen?

• Enthält die Lernaufgabe Anhaltspunkte für die Feststellung von Leistungen bzw. Kriterien, ab wann das Arbeitsergebnis und/oder die Arbeitsweise den Erwartungen entsprechen? Wie können allfällige Fehler thematisiert, möglichst einer Analyse unterzogen und durch ausreichende Übungen minimiert werden?

Lernaufgaben tragen zur Differenzierung und Individualisierung des Lehr-/Lerngeschehens bei, sie unterstützen Lehrende bei der Verwirklichung didaktischer Kernanliegen und erhöhen somit die von ihnen erwartete unterricht­liche Professionalität (Thonhauser, 2008; Teml, 2006). Eine Gefahr bei der Konzipierung von solchen Aufgaben ist es, dass durch die Didaktisierung des Materials die Texte in einer (zu) einfachen, leichten Sprache präsen­tiert werden und daher nicht mehr authentisch sind. Angestellte bestimmter Berufsgruppen haben es oft mit sprachlich komplizierten linearen und nicht linearen Fachtexten zu tun. In der Berufswelt werden den Lehrlingen diese Texte auch nicht umformuliert (Ballauf, 2015). Ziel muss es sein, „authen­tische und oft sperrige fachsprachliche Texte knacken zu können" (ebd., S. 40f.). Schließlich ist bei der Gestaltung von Lernaufgaben auch wichtig, einerseits die Balance zu finden zwischen gut strukturierten, eindeutigen Lerninputs und Arbeitsanleitungen und andererseits Freiräumen, in denen die Schüler/innen Selbstständigkeit und Eigeninitiative entwickeln können. Letz­teres ist nicht selten damit verbunden, dass immer wieder Übungen ange­boten bzw. verlangt und Fehleranalysen gemacht werden – ohne dass die Lust am Lernen vergeht. Worauf es ankommt, ist die verlässliche Lernbe­gleitung, die prinzipielle Nachfragemöglichkeit, die immer wieder erfolgende Ermutigung.

An der PHT gibt es bereits einen größeren Pool an Lern-/Leseaufgaben, welche die Berufsschullehrerinnen und Berufsschullehrer im Unterricht einsetzen können (frei zugängliche Lernaufgaben unter http://pht-lehrmittel.tsn.at/).

5. Ziele des Forschungsprojekts und methodische Herangehensweise

Die zentralen Ziele des begleitenden Forschungsprojekts sind es, zu unter­suchen, welcher Lernfortschritt hinsichtlich berufsrelevanter Lesekompetenz durch einen gezielten, regelmäßigen Einsatz von berufsspezifischen Lern-/Leseaufgaben nach einem Ausbildungsjahr (Lehrgang) bei den Lehrlingen festgestellt werden kann (siehe Forschungsfrage 1) und Diagnoseaufgaben zu entwickeln, die ein rasches, gezieltes Erkennen von Lesedefiziten ermöglichen und darauf aufbauend eine gute Grundlage zur Bestimmung von spezifischen Fördermaßnahmen bieten (siehe Forschungsfrage 2).

An der ersten Projektphase (Projektstufe 1), welche im Studienjahr 2009/10 begann und im Frühjahr 2011 abgeschlossen wurde, nahmen österreichweit elf Berufsschulen mit jeweils einer ersten Klasse teil (n = 245), die im Lehrgang (mehrere Wochen ausschließlicher Schulunterricht) ausbilden. Die in diesem Zeitraum den Anforderungen der Lehrpläne entwickelten berufsspezifischen Lernaufgaben/Leseaufgaben (siehe Kapitel 4) wurden von den Lehrerinnen und Lehrern an ihren Berufsschulen in ersten Klassen im Unterrichtsgegenstand „Wirtschaftskunde mit Schriftverkehr" der Fachgruppe 1 eingesetzt (Treatment). Da dieser Unterrichtsgegenstand in allen gewerblichen Berufsschulen (für unter­schiedliche Lehrberufe) unterrichtet wird, war es möglich, in allen Versuchs­gruppen dieselben berufsspezifischen Leseaufgaben gleich oft einzusetzen. Zur Feststellung der Wirksamkeit wurden Daten zu zwei Messzeitpunkten erhoben: Eingangserhebung mittels zweier Diagnoseaufgaben (siehe Kapitel 6) zu Beginn des Lehrgangs in der ersten Ausbildungswoche, Abschlusserhebung mittels zweier Diagnoseaufgaben am Ende des Lehrgangs in der zehnten Ausbildungs­woche. Die Diagnoseaufgaben wurden ebenfalls im Unterrichtsgegenstand „Wirtschaftskunde mit Schriftverkehr" der Fachgruppe 1 eingesetzt.

An der zweiten Projektphase (Projektstufe 2) im Zeitraum 2011-2013 nahmen nur noch zwei Tiroler Fachberufsschulen der Berufssparte „Tourismus" teil, die ebenfalls im Lehrgang ausbilden. An beiden Tiroler Fachberufsschulen wurden jeweils zwei Versuchsgruppen (vier erste Schulklassen, n = 90) zu unterschied­lichen Zeitpunkten geführt, in denen berufsspezifische Lern-/Leseaufgaben mehrmals wöchentlich im Unterrichtsgegenstand „Wirtschaftskunde mit Schrift­verkehr" eingesetzt wurden (Treatment). In den Kontrollgruppen (vier erste Schulklassen, n = 89) erfolgte kein Treatment. Sie wurden zwar an denselben Schulen, jedoch zeitlich nicht parallel zu den Versuchsgruppen, geführt. Zur Prüfung der in der Projektphase 2 aufgestellten Hypothese wurde in den vier Versuchsgruppen und vier Kontrollgruppen wieder eine Lesekompetenzmessung mittels derselben Diagnoseaufgaben zu zwei Messzeitpunkten (Eingangs- und Abschlusserhebung) durchgeführt, wobei die Aufgabenpaare dieses Mal in umgekehrter Reihenfolge eingesetzt wurden.

Nach positiver Prüfung der Modellgültigkeit für die Diagnoseaufgabe „Jugend im Internet" wurde diese inhaltlich aktualisiert, leicht adaptiert und im Zuge einer dritten Projektphase (Projektstufe 3) im Zeitraum 2014-2015 in neun ersten Klassen (n =192) an sieben Salzburger und Tiroler Berufsschulen erneut getestet.

6. Entwicklung der Diagnoseaufgaben

Zur Untersuchung der Wirksamkeit der im Unterricht an Berufsschulen einge­setzten berufsspezifischen Lernaufgaben/Leseaufgaben wurden gemeinsam mit Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern der Pädagogischen Hochschule Tirol sowie mit Lehrerinnen und Lehrern an Tiroler Fachberufsschulen vier Diagnoseaufgaben (Resinger, Schaffenrath, 2011) nach dem oben beschriebenen Konzept entwickelt.

Die Diagnoseinstrumente (exemplarisch dafür die Diagnoseaufgabe „Jugend und Internet" in Tabelle 1) haben Items mit dichotomen Antwortalternativen und Items im halboffenen Format mit eindeutigem Lösungsweg, sodass kein Inter­pretationsspielraum bei der Auswertung zugelassen wurde. Die einzelnen Items wurden auf Basis theoretischer Annahmen und auf Grundlage der Einschätzung der Fachdidaktiker/innen den Kategorien „Lineares, selektives Leseverständnis" und „Nicht lineares, selektives Leseverständnis" zugeordnet und überprüfen folgende Kompetenzen:

• Informationen aus dem Fließtext entnehmen;

• Informationen aus einem nicht linearen Text entnehmen;

• Aufbereitete Inhalte zum Text (als Aussagen oder in einem Diagramm/einer Tabelle) auf ihre Richtigkeit hin überprüfen und — in Abhängigkeit der Aufgabenstellung — richtigstellen.

Schwierigkeitsgrad Wörter Lineares, selektives Leseverständnis Nicht lineares, selektives Textverständnis Punkte gesamt
mittelschwer 653 Sechs Aufgaben:
davon drei halboffene Formate mit eindeutigem Lösungsweg und drei Aufgaben mit dichotomen Antwortalternativen; max. Punktezahl pro Aufgabe: fünf; Summe: 14 Punkte
Vier Aufgaben:
drei Aufgaben mit dichotomen Antwortalternativen zu je einem Punkt; eine Aufgabe im halboffenen Format mit eindeutigem Lösungsweg zu zwei Punkten; Summe: 5 Punkte
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Tabelle 1: Übersicht über die Diagnoseaufgabe „Jugend und Internet"

 

7. Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung im Überblick

Die Ergebnisse der ersten Projektphase (ausführlich in Resinger, Schaffenrath, 2012) belegen, dass durch einen gezielten, regelmäßigen Einsatz von berufs­spezifischen Lern-/ Leseaufgaben ein signifikanter Lernfortschritt hinsichtlich berufsrelevanter Lesekompetenz erreicht wird und dass besonders Lese­schwache von den Fördermaßnahmen profitieren. Die gemessene Entwicklung unterscheidet sich in den untersuchten elf Klassen (n = 245) jedoch signifikant voneinander. Bei Betrachtung der Effektstärke zeigte sich, dass der Faktor „Klasse" stark auf die unterschiedlichen Entwicklungen wirkt. Ein Grund für die Klasseneffekte liegt in der Person der Lehrerin / des Lehrers (unterschiedliche Eingangsvoraussetzungen in Bezug auf den Einsatz der entwickelten Lern-/Leseaufgaben, Einstellung der Lehrperson zur Lesekompetenzförderung im Allgemeinen und zu Lernaufgaben im Besonderen, Personeneigenschaften etc.).

Im Zuge des Forschungsprojekts wurde auch überprüft, ob ein signifi­kanter Zusammenhang zwischen der Schüler/innenselbsteinschätzung und der gemessenen Lesekompetenz besteht. Ein solcher konnte nicht nachge­wiesen werden. In Bezug auf die Ergebnisse der Schüler/innenbefragung darf vermutet werden, dass die befragten Lehrlinge sich in ihrer Selbstwahrneh­mung tendenziell überschätzen – „Ich lese viel und gerne und bin ein guter Leser" –, was zu einer mangelnden Bewusstseinsbildung hinsichtlich der Notwendigkeit von Leseförderung als auch zu einer verzerrten Wahrnehmung hinsichtlich bestehender Lern- bzw. Leistungsschwächen führen kann: So kann vom Betroffenen – als auch von der Lehrperson – eine fachliche Schwäche vermutet werden, ohne zu erkennen, dass die Hauptursache in der mangelnden Lesekompetenz liegt.

Der Vergleich von Versuchsgruppen (n = 90) mit Kontrollgruppen (n = 89) in der zweiten Projektphase bestätigt erneut, dass Lehrlinge, welche mit berufsspezifischen Lern-/Leseaufgaben im Unterricht lernen, einen signifikant höheren Lernfortschritt hinsichtlich berufsrelevanter Lesekompetenz erzielen als Lehrlinge in den Kontrollgruppen (ausführlich in Resinger, Schaffenrath, 2013). Der stärkere Leistungsabfall in den Kontrollgruppen sowie die signifikante Häufung von sehr schwachen Leser/innen, die ihre Lesekompetenz im Verlauf des Lehrgangs nicht weiterentwickelten, lassen den Schluss zu, dass diese Schü­lergruppe sprichwörtlich „durch den Rost fällt", wenn keine Fördermaßnahmen gesetzt werden. Da die Vergleichswerte für „Nicht-Treatment"-Schüler/innen aus nur vier Klassen derselben Berufssparte sowie aus demselben Bundesland stammen, handelt es sich hierbei jedoch nicht um ein repräsentatives Sample.

Die Prüfung, ob es sich bei den Diagnoseaufgaben zur Feststellung von berufsrelevanter Lesekompetenz um konstruktvalide Instrumente handelt, erfolgte mittels Modelltestung nach dem ordinalen Rasch-Modell (ausführ­lich in Resinger, 2014). Die Modellgültigkeit wurde für die Diagnoseaufgabe „Jugend im Internet" angenommen. Sie ist im Vergleich zu den anderen im Zuge des Forschungsprojekts entwickelten Diagnoseaufgaben am besten geeignet, Defizite in der Lesekompetenz von Berufsschüler/innen der ersten Klasse festzustellen.

8. Modelltestung für die Diagnoseaufgabe „Jugend und Internet"

Hypothesen:

H0 Mit dem vorhandenen Datensatz lässt sich die Diagnoseaufgabe „Jugend und Internet" konstruktvalide erklären.

H1 Mit dem vorhandenen Datensatz lässt sich die Diagnoseaufgabe „Jugend und Internet" nicht konstruktvalide erklären.

Anzahl lterationen 64
Item fit nach Q-index Item 1: 0.1520; p = 0.7865
Item 2: 0.1120; p = 0.2844
Item 3: 0.1944; p = 0.3099
Item 4: 0.2172; p = 0.8397
Item 5: 0.3069; p = 0.5307
Item 6: 0.2972; p = 0.4192
Item 7: 0.2871; p = 0.5228
Item 8: 0.2513; p = 0.6880
Item 9: 0.3099; p = 0.4415
Item 10:0.1552; p = 0.5180
Goodness-of-Fit CAIC 3354
p = 0.575 (Pearson x2-Test)
p = 0.275 (Cressie-Real)
ANOVA Reliabilität 0.747
Andrichs-Reliabilität 0.661

Tabelle 2: Diagnoseaufgabe „Jugend und Internet" – Modelltestung (n = 192)

Als Prüfgrößen für die Modelltestung wurden der Pearson χ2 Test und Cressie Read Test herangezogen (globale Modelltests mittels bootstrap-Methode). Der Modelltest ist im Rahmen des Rasch-Modells nicht signifikant (Tabelle 2). Da beim Modellgeltungstest nicht die Alternativhypothese H1, sondern die Nullhypothese HO belegt wird, legt das Ergebnis nahe, das Modell anzunehmen.
Als Maß für den Item-Fit (Trennschärfe der Items) wurde der Q-Index herangezogen, da dieser den Vorteil hat, „dass ein Signifikanztest zur Verfügung steht, der prüft, ob ein Antwortmuster signifikant von dem unter dem Rasch-Modell erwarteten Antwortmuster abweicht" (Bühner, 2006, p. 366). In Tabelle 2 sind die Q-Indizes sowie die Überschreitungswahrscheinlichkeit dargestellt. Der Signifikanztest zeigt keinen Item-Overfit bzw. Intem-Underfit.
In Bezug auf die Messgenauigkeit wurden gute Werte ermittelt. Bei der Andrichs-Reliabilität handelt es sich um einen populationsspezfischen Kennwert, der angibt, wie genau die Diagnoseaufgabe in der Population „Berufsschüler/innen der ersten Klasse" im Mittel misst. Der Kennwert von 0.7 sagt aus, dass die Diagnoseaufgabe bei Berufsschüler/innen der ersten Klasse akzeptabel misst, der Test für diese Zielpopulation daher geeignet ist. Die ANOVA-Reliabilität ist ein populationsunabhängiger Wert, der aussagt, wie genau die Diagnoseaufgabe unabhängig von der Population (Berufsschüler/innen der ersten Klasse) im Mittel misst. Der Kennwert von 0.8 sagt aus, dass es sich um ein zuverlässiges Diagnoseinstrument handelt.

Durch die Kenntnis der Itemschwierigkeit und Personenfähigkeit kann ermit­telt werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Person die einzelnen Items löst (Rost, 2004). Über die Differenz der Personenparameter kann eine Aussage über die unterschiedlichen Fähigkeiten der Testpersonen in der jeweiligen Merkmalsausprägung gemacht werden; und zwar unabhängig vom Schwie­rigkeitsgrad der Items.

Das Rasch-Modell errechnet für alle Berufsschüler/innen, die aus der Lösung der zehn Items einen bestimmten Score erzielten, jeweils einen Fähigkeitswert in einem Bereich von plus und minus unendlich, in der Regel aber zwischen plus drei und minus drei. Negative Werte kennzeichnen Berufsschüler/innen mit geringerer Lesefähigkeit, positive Werte Berufsschüler/innen mit höherer Lesefähigkeit. Dem Ziel der Diagnoseaufgabe folgend, wird in Tabelle 3 nur ein Wert angegeben, nämlich der Schwellenwert, der die Grenze zu einer geringen Lesefähigkeit markiert. Dieser Schwellenwert (Punktescore) für die Defizitdia­gnose wurde zum einen von den geschätzten Personenparametern abgeleitet und zum anderen dienten Ergebnisse der PISA-Studien zur Lesekompetenz als Außenkriterium (siehe dazu die statistischen Zahlen im Problemaufriss dieses Beitrags; Schaffenrath, 2008).

  Summenscore Punkte Kumulative Prozent Personenparameter für 9 Punkte Standardfehler
  9 40.1 -0.0234 0.420
Schwellenwert
(Gesamtpunktescore)
für die Defizitdiagnose
<= 9 von 19 möglichen Punkten      

Tabelle 3: Diagnoseaufgabe „Jugend und Internet" – Parameter für geringe Personenfähigkeit (n = 192)

Erreicht ein/e Berufsschüler/in einer ersten Klasse einen Gesamtsummens­core < 9, ist von einer geringeren Fähigkeitsausprägung auszugehen (Fähig­keitswert liegt mit 95% Wahrscheinlichkeit zwischen 0,82 und -0,86). Zur genaueren Bestimmung der Leseleistung werden den Berufsschullehrerinnen und Berufsschullehrern im Auswertungsteil der Diagnoseaufgabe deskriptive Daten zu den zwei Kompetenzbereichen „Lineares, selektives Lesen" und „Nicht lineares, selektives Lesen" zur Verfügung gestellt (siehe Tabelle 4). Die Lesekompetenzdiagnoseaufgabe ermöglicht somit ein rasches, gezieltes Erkennen einer Leseschwäche und bietet auch eine gute Grundlage zur Bestimmung von spezifischen Fördermaßnahmen. Für den Einsatz im Unterricht wird die Lese­kompetenzdiagnoseaufgabe inklusive Anleitung, Lösungs- und Auswertungs­blatt unter folgendem Link zur Verfügung gestellt: http://bs-leseprojekt.tsn.at/

  Lineares, selektives Lesen Nicht lineares, selektives Lesen
Max. Punktescore in den zwei Kompetenzbereichen 14 5
Deskriptive Auswertung 26% erzielten 5 Punkte oder weniger
51% erzielten zw. 6 und 9 Punkte
20,3% erzielten zw. 10 und 12 Punkte
2,7% erzielten 13 oder 14 Punkte
31,8% erzielten 2 Punkte oder weniger
42,2% erzielten 3 oder 4 Punkte
26% erzielten alle Punkte

Tabelle 4: Diagnoseaufgabe „Jugend und Internet" — Deskriptive Statistik (n = 192)

 

9. Zusammenfassung und Anschlussfragen

Die Ergebnisse aus dem fünfjährigen Forschungsprojekt „Lesekompetenzför­derung an Berufsschulen" zeigen, dass der Einsatz von Lern-/ Leseaufgaben bei schwachen Leserinnen und Lesern zu einer signifikanten Verbesserung der Lesekompetenz führt. In der ersten Projektphase wurden standortspezifische Unterschiede in der Entwicklung der Lesekompetenz bei den Schülerinnen und Schülern herausgearbeitet, die es in einem nächsten Schritt näher zu untersu­chen gilt — insbesondere der Einfluss der Lehrperson auf Erfolg / Misserfolg im Unterricht.

Mit dem vorliegenden Diagnoseinstrument „Jugend und Internet" ist durch den gezielten Einsatz zu Beginn eines Lehrgangs bzw. zu Schuljahresbeginn in ersten Klassen im Unterrichtsgegenstand „Deutsch und Kommunikation" oder „Wirtschaftskunde mit Schriftverkehr" eine rasche Diagnose von Lesekompe­tenzschwächen möglich. Die Entwicklung weiterer Diagnoseaufgaben sowie Förderaufgaben insbesondere für starke Leserinnen und Leser soll Gegenstand in einem Folgeprojekt sein. Dabei soll auch untersucht werden, ob die durch den gezielten, regelmäßigen Einsatz von berufsspezifischen Lern-/ Leseauf­gaben festgestellten Lesefortschritte sich über die Zeit in der Berufsschule weiterentwickeln oder zumindest halten.

 

10. Literatur

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- BIFIE: PISA 2006 - die wichtigsten Ergebnisse für Österreich kurz zusammengefasst. Salzburg 2012a. Abgerufen am 15. Dezember 2012 von https://www.bifie.at/nodel92

- BIFIE (2012b). PISA 2009 - die wichtigsten Ergebnisse für Österreich kurz zusammengefasst. Salzburg 2012b. Abgerufen am 12. Jänner 2013 von https://www.bifie.at/node/91

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- Rost, Jürgen: Lehrbuch Testtheorie - Testkonstruktion. Bern 2004.

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- Schaffenrath, Maria: Lernen müssen, lernen können, lernen wollen? In Silvia Exenberger, Paul Schober (Hg.): Baustelle Lehrlingsausbildung. Innsbruck 2005, S. 146-152.

- Schaffenrath, Maria, Wieser, Ilsedore: Basiskompetenzen für lebenslanges Lernen aufbauen. In Silvia Exenberger, Paul Schober (Hg.), Baustelle Lehrlingsausbildung. Innsbruck 2005, S. 108-145.

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- Teml, Hubert: Erfolgreiche Unterrichtsgestaltung. Wege zu einer persönlichen Didaktik. Innsbruck 2006.

- Thonhauser, Josef: Aufgaben als Katalysatoren von Lernprozessen: eine zentrale Komponente organisierten Lehrens und Lernens aus der Sicht von Lernforschung, allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik. Münster 2008.

- Wieser, Ilsedore, Schaffenrath, Maria: Aufgabenentwicklung als Beitrag zur Professionalisie­rung. In Josef Thonhauser (Hg.): Aufgaben als Katalysatoren von Lernprozessen. Münster 2008, S. 219-240.