Martin M. Lintner - Umweltkrise und Migration - TheoArt-komparativ

Martin M. Lintner

 

Was hat die Flüchtlingskrise mit Umweltschutz zu tun?

Umweltkrise und Migration

Die Flüchtlingskrise hält derzeit vor allem den Nahen Osten und Europa in Atem.

Eine Frage wurde bisher allerdings zu wenig thematisiert: Was hat die Flüchtlingskrise mit Umweltschutz zu tun? Mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

 

Papst Franziskus spricht in seiner Enzyklika „Laudato si’“ (LS) den Zusammenhang zwischen der ökologischen Krise und der Migration an: „Tragisch ist die Zunahme der Migranten, die vor dem Elend flüchten, das durch die Umweltzerstörung immer schlimmer wird, und die in den internationalen Abkommen nicht als Flüchtlinge anerkannt werden; sie tragen die Last ihres Lebens in Verlassenheit und ohne jeden gesetzlichen Schutz“ (Nr. 27). Er beklagt: „Leider herrscht eine allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber diesen Tragödien, die sich gerade jetzt in bestimmten Teilen der Welt zutragen. Der Mangel an Reaktionen angesichts dieser Dramen unserer Brüder und Schwestern ist ein Zeichen für den Verlust jenes Verantwortungsgefühls für unsere Mitmenschen, auf das sich jede zivile Gesellschaft gründet.“ Auch in der Botschaft zum diesjährigen Weltgebetstag für die Bewahrung der Schöpfung am 1. September rief Papst Franziskus in Erinnerung, dass der Klimawandel die „entsetzliche Migrationskrise“ mit verursacht und verlangte einen ökologischen Kurswechsel.

Die Klimaveränderungen sind in vielen Regionen Ursachen für wirtschaftliche Not. Die Armen sind diejenigen, die die Folgen der Klimaveränderungen am meisten zu spüren bekommen und die sich oft am wenigsten dagegen schützen können. In vorwiegend agrarisch geprägten Regionen sind ihr Überleben und ihre Ernährung unmittelbar abhängig von einer sicheren Wasserversorgung, von vorhandenem und für sie erschwinglichem Saatgut, von intakten Böden und Wetterbedingungen, die die Ernten nicht zerstören usw. Wetterextreme wie Dürre oder Starkregen machen weite Landflächen nicht mehr bewirtschaftbar, Landflucht oder Migration sind die Folge.

In vielen Ländern wachsen besonders die Städte an den Küsten, die wiederum vermehrt von Umweltkatastrophen wie Taifunen oder Hurrikans heimgesucht werden und die langfristig aufgrund des Anstiegs des Meeresspiegels bedroht sind. Oliver Christian Ruppel, Mitglied im Weltklimarat der Vereinten Nationen, warnte in einem Gespräch mit Radio Vatikan vom 3. September 2015, dass „Klimamigration vielleicht die nächste noch viel größere Migrationswelle ist, die folgt, und insofern sollte man frühzeitig sich darauf gefasst machen und die jetzige Flüchtlingskrise vielleicht nur als Beispiel dessen nehmen, was noch passieren könnte, wenn noch mehr Menschen auf der Welt – verursacht durch den Klimawandel – von einem Ort zum anderen migrieren müssen, und da denke ich, dass die nördliche Hemisphäre die Verantwortung hat, aus menschlicher Sicht auch diese Leute zu unterstützen.“

 

Die knappe Ressource Wasser

 

Auf die Wasserfrage geht Papst Franziskus in LS gesondert ein (vgl. Nr. 27–31). Sauberes Trinkwasser ist eine kostbare Ressource, die immer knapper wird; so sehr, dass schon seit Jahren davor gewarnt wird, dass die Kriege der Zukunft nicht mehr um Öl, Gold, Diamanten oder andere Rohstoffe, sondern um Wasser geführt werden.

Für die Verknappung des Trinkwassers sind der Klimawandel sowie der Zuwachs von bevölkerungsreichen Ballungszentren verantwortlich. Papst Franziskus prangert scharf an, dass in vielen Regionen, besonders in Afrika und in Südamerika, natürliche Wasservorkommen und die öffentliche Wasserversorgung privatisiert werden: „Während die Qualität des verfügbaren Wassers ständig schlechter wird, nimmt an einigen Orten die Tendenz zu, diese knappe Ressource zu privatisieren; so wird sie in Ware verwandelt und den Gesetzen des Marktes unterworfen. In Wirklichkeit ist der Zugang zu sicherem Trinkwasser ein grundlegendes, fundamentales und allgemeines Menschenrecht, weil es für das Überleben der Menschen ausschlaggebend und daher die Bedingung für die Ausübung der anderen Menschenrechte ist. Diese Welt lädt eine schwere soziale Schuld gegenüber den Armen auf sich, die keinen Zugang zum Trinkwasser haben, denn das bedeutet, ihnen das Recht auf Leben zu verweigern, das in ihrer unveräußerlichen Würde verankert ist“ (Nr. 30).

Ohne sie beim Namen zu nennen, bezieht er sich auf das Gebaren von internationalen Konzernen, allen voran Nestlé. Der Konzern hat in vielen der ärmsten Regionen der Welt die Wassernutzungsrechte erworben, lässt Quellgebiete und Fabriken einzäunen, verwehrt der Lokalbevölkerung den Zugang zu den natürlichen Quellen und verkauft in den Supermärkten in Plastikflaschen, oft nur für die Ober- oder Mittelschicht bezahlbar, das als „Pure life“ („Reines Leben“) angepriesene Wasser, während zugleich in öffentlichen Kampagnen vor dem angeblich gesundheitsschädlichen Konsum von Wasser gewarnt wird, das im öffentlichen Wasserversorgungssystem geliefert wird. Der Nestlé-Konzernchef Peter Brabeck-Letmathe vertritt vehement die Position, dass Wasser kein öffentliches Gut sein sollte, sondern einen Marktwert wie jedes andere Lebensmittel habe.

Da jeder Mensch sauberes Trinkwasser benötigt, steigt dessen Marktwert proportional zu seiner Verknappung. Hier werden mit der Not von Menschen systematisch Geschäfte gemacht. Seit Jahren gibt es deshalb weltweit Kampagnen, Nestlé-Produkte zu boykottieren, und es werden die skandalösen Vorgehensweisen des größten Lebensmittel- und Trinkwasserkonzerns aufgezeigt. Nestlé ist jedoch nur ein Konzern von vielen, die aus der Not bzw. auf Kosten von Menschen Profit machen, ebenso ist Wasser nicht die einzige natürliche Ressource, um die es geht.

 

„Fluch der Ressourcen“

 

Bereits 1995 haben die beiden US-Ökonome Jeffrey Sachs und Andrew Warner eine Studie über den Zusammenhang zwischen dem Reichtum an natürlichen Rohstoffen und dem ökonomischen Wachstum einer Region vorgelegt. Das Ergebnis der Studie kann mit dem Schlagwort „Fluch der Ressourcen“ benannt werden. In den meisten Ländern mit hohen Rohstoffvorkommen und -exporten profitiert die Bevölkerung davon kaum, im Gegenteil: Die lokale Bevölkerung ist leidtragend aufgrund der ökonomischen, ökologischen und sozialen Entwicklungen. Diese Länder weisen nämlich vielfach eine hohe politische Instabilität auf, leiden unter Korruption und Armut. Deshalb sind sie leicht übervorteilbare Handelspartner oder aber es profitiert vom Handel nur eine korrupte politische Oberschicht, während die betroffene Bevölkerung weder finanzielle noch politische Möglichkeiten hat, sich zur Wehr zu setzen oder ihre Rechte einzufordern. Die gemeinnützige Gesellschaft für nachhaltige Entwicklung RESET zeigt an unzähligen Beispielen, die auf der Homepage www.reset.org nachgelesen werden können, den Zusammenhang zwischen Ressourcenreichtum und gewaltsamen Konflikten auf: „Lebt ein Land überwiegend von seinen Bodenschätzen, so steigt das Konfliktrisiko von einem halben auf 23 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit für bewaffnete Konflikte liegt für diese Länder also weitaus höher als für ressourcenarme Länder. Wo es vordergründig um ethnische Konflikte geht, zeigt ein Blick hinter die Kulissen, dass es oftmals um mehr, nämlich um die Kontrolle der immer begehrteren Rohstoffe geht. Bodenschätze sind nach Meinung von Paul Collier, Ökonom an der Columbia University, ein wesentlicher Risikofaktor und mittlerweile bedeutender als historische, ethnische oder geografische Motive. Bei den vergangenen Bürgerkriegen im Kongo, in Angola und im Sudan spielten Bodenschätze eine entscheidende Rolle, wobei es vor allem um die Verteilung der Rohstoffe ging.“

Mittlerweile ist das Geschäft beispielsweise mit den sogenannten Blutdiamanten weltweit verpönt. Diese werden oft illegal geschürft und verkauft, mit dem Erlös finanzieren sogenannte Warlords (Kriegsherren) Rebellen- oder Invasionstruppen. Die politische Instabilität von Regionen mit Rohstoffvorkommen ist ihnen dabei nur willkommen, weil dadurch der Abbau von Rohstoffen unter Missachtung von Umweltauflagen sowie von sozialen Mindeststandards in Bezug auf Sicherheit und Entlohnung der Arbeiter betrieben werden kann.

 

Gibt es „faire Smartphones“?

 

Vielfach arbeiten in den Bergwerken Kinder, nicht nur auf der Suche nach Diamanten, sondern beispielsweise auch beim Abbau von sogenannten „Seltenen Erden“ und Metallen wie Kobalt, Coltan und Tantal. Diese sind wichtige Bestandteile von Lithium-Ionen-Akkus für Mobiltelefone, Laptops oder Digitalkameras. Kongo und Sambia gewinnen und exportieren etwa die Hälfte des weltweiten Bedarfs an Kobalt. Wie die Initiative makeITfair des Germanwatch-Netzwerkes nachgewiesen hat, arbeiten in den Kobalt-Minen im Kongo schätzungsweise 50.000 Kinder. Ohne Schutzkleidung und ohne Atemschutz atmen sie die giftigen Dämpfe ein, die bei der Kobalt-Gewinnung entstehen. Böden und Gewässer in den Minenregionen sind infolge der Abbau- und Verhüttungsprozesse verseucht.

Da die Rohstoffe mehrheitlich nach China exportiert und dort verarbeitet werden, lässt sich in der Regel trotz akribischer Nachforschungen die Herkunft der Materialien nicht rückverfolgen. Man muss unumwunden feststellen, dass in allen Smartphones und Laptops Materialien verarbeitet sind, die aufgrund von Ausbeutung von Minen- und Fabrikarbeitern hergestellt wurden.

Selbst die 2010 gestartete niederländische Firma „Fairphone“, die sich zum Ziel gesetzt hat, faire Handys zu produzieren, muss zugeben, dass auch sie nicht umhin kann, Materialen zu verwenden, bei denen sie nicht hundertprozentig ausschließen kann, dass sie unter unfairen und menschenrechtswidrigen Bedingungen gewonnen und veredelt worden sind. Eigentlich müsste auf jedem Handy ein Warnhinweis stehen: „Mit dem Kauf dieses Produkts unterstützen Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Kinderarbeit, menschenrechtsverletzende Arbeitsbedingungen und Umweltzerstörung.“

 

Agrarpolitik und Fischereirechte provozieren Hunger

 

Ein letztes Beispiel: Senegal in Westafrika grenzt an den fischreichen Atlantischen Ozean, doch immer mehr einheimische Fischer mit ihren kleinen Booten sind gezwungen, ihre Arbeit aufzugeben. Der Staat hat die Fischereirechte an rund 20 ausländische Konzerne, mehrheitlich aus Europa, Russland und Japan, verkauft, die mit ihren riesigen Fischkuttern und Fangflotten das Meer leerfischen. Ein einziges dieser hochtechnisierten Fischfangschiffe fängt und verarbeitet am Tag ca. 200 Tonnen Fisch, mehr als ein ganzes Fischerdorf in einem ganzen Jahr zu fangen imstande ist. Ganze Fischerdörfer in vielen afrikanischen Staaten an der Atlantik- und Mittelmeerküste sind aufgelassen, die Fischer haben ihren Beruf aufgegeben. Viele verkaufen ihre nutzlos gewordenen Fischerboote an Schlepperbanden oder verdingen sich selber als Schlepper, verdienen sie dabei doch ein Vielfaches der Fischereierträge.

An vielen innerkontinentalen Seen ist die Lage ähnlich. So sind etwa die Fischereirechte am Viktoriasee oder am Tschadsee meist an ausländische Konzerne verkauft worden. An beide Gewässer grenzen politische Krisenregionen mit gewaltsamen Konflikten, die mit den Gewinnen aus den Fischereilizenzen finanziert werden. Die einheimischen Fischer mit ihren kleinen Schiffen hingegen können kaum überleben. Die Bevölkerung, die seit Generationen von den Fischbeständen dieser Seen lebt, sieht von den Erträgen der ausländischen Konzerne nichts: Dieser Fisch wird fast zur Gänze in Europa und Russland zu Tiermehl verarbeitet.

Es sind handfeste wirtschaftliche Interessen, die auch die Agrar- und Fischereipolitik der EU in Afrika bestimmen. Provokant, aber weitgehend zutreffend, bringt es Jean Ziegler in seinem Buch „Das Imperium der Schande – Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung“ auf den Punkt: „Die Heuchelei der Kommissare in Brüssel ist abscheulich. Einerseits organisieren sie durch ihre Agrarpolitik die Hungersnot in Afrika, auf der anderen Seite kriminalisieren sie die Hungerflüchtlinge.“

 

Ursachen von Migration und Flucht

 

Es gibt viele Ursachen dafür, dass Menschen ihre Heimat und damit ihr soziales und kulturelles Umfeld und ihre Familien verlassen. Die meisten tun dies nicht freiwillig, bzw. sie würden in ihrer Heimat bleiben, wenn sie dort für sich und ihre Familien ausreichend Zukunftsperspektiven sehen würden. Die Beweggründe für Migration reichen von Kriegen, wirtschaftlicher Not, Naturkatastrophen, politischer oder religiöser Verfolgung, sozialen Gründen wie Familienzusammenführung bis hin zu persönlichen Interessen wie Abenteuerlust, Ausbildung und Beruf im Ausland etc. Die genaue Einteilung in Kriegs-, Wirtschafts-, Armuts- oder Klimaflüchtlinge ist oft nicht leicht. Die Grenzen sind verschwimmend.

Eine besondere Form von Wirtschafts- und Armutsflüchtlingen sind die Hungerflüchtlinge. Nach Angaben des UN-Hochkommissariats gab es 2007 beispielsweise 22.000 Hungerflüchtlinge aus Somalia, Eritrea und Äthiopien. Viele von ihnen wollten Europa erreichen. Nach Schätzung der UNO fand jedoch jeder sechste den Tod, entweder durch Verhungern und Verdursten auf der Flucht oder durch Ertrinken auf der Fahrt über das Meer. Jean Ziegler, von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, kämpft seit Jahren – bislang erfolglos – für die internationale Anerkennung eines temporären Asylrechts für Hungerflüchtlinge.

 

Flüchtlinge weltweit

 

Die UNO-Flüchtlingshilfe bezifferte Ende 2015 die Zahl der Flüchtlinge weltweit auf 63,5 Millionen. 2014 waren es 59,5, vor zehn Jahren 37,5. Der massive Zuwachs ist durch den Syrienkrieg mit insgesamt 11,5 Mio. Flüchtlingen bedingt.

Besonders schwer wiegt, dass 86 Prozent der Flüchtlinge (neun von zehn) in Entwicklungsländern leben und ca. 50 Prozent der Flüchtlinge weltweit Kinder sind. Die meisten Flüchtlinge außerhalb ihres Landes stammen aus folgenden Ländern: Syrien (4,9 Mio.), Afghanistan (2,7 Mio.), Somalia (1,12 Mio.), Südsudan (778.700), Sudan (628.800), Demokratische Republik Kongo (541.500). Die meisten Binnenvertriebene, also Flüchtlinge innerhalb ihres eigenen Landes, leben nach Syrien (6,6 Mio.), dem Irak (4,4 Mio.), dem Sudan (3,2 Mio.), dem Jemen (2,5 Mio.) und Nigeria (2,2 Mio.) in Kolumbien (6,9 Mio.). In der Ukraine sind 1,5 Mio. aus dem Kriegsgebiet im Osten des Landes geflohen. Mit 183 aufgenommenen Flüchtlingen pro 1000 Einwohner ist der Libanon jenes Land, das am meisten Flüchtlinge pro Kopf aufgenommen hat; zum Vergleich: In Deutschland sind es 22 Flüchtlinge pro 1000 Einwohner.

 

Den Teufelskreis durchbrechen

 

Diese Beispiele könnten endlos fortgesetzt werden. Sie verstören und machen ratlos. Sie zeigen die Verstrickung von Ökonomie und Umweltzerstörung sowie der Armut vieler Menschen auf. Ein Teufelskreis von politischer Instabilität, Korruption, Umweltzerstörung, fehlenden Bildungschancen, hoher Arbeitslosigkeit, vielfach einem großem Bevölkerungswachstum etc. ist in Bewegung gesetzt, der schließlich viele Menschen zur Migration nötigt.

Eine der großen Stärken der Enzyklika LS ist, dass Papst Franziskus auf die Vernetzung all dieser Bereiche hinweist. Jede Entscheidung im Bereich der Wirtschaft hat ökologische und soziale Auswirkungen, jede Maßnahme im Bereich der Ökologie beinhaltet soziale und wirtschaftliche Aspekte, die sozialen Entwicklungen wiederum wirken sich auf Ökonomie und Ökologie aus. Und er betont, dass durch die Globalisierung die Welt wie ein großes Dorf geworden ist: Was in Europa passiert, hat Folgen für die anderen Regionen der Erde, was andernorts geschieht, betrifft uns in Europa mit. Ganz besonders gilt dies, weil der hohe Lebensstandard in den Industrieländern auf Kosten von Menschen in den armen Ländern geht. Die wenigen hier beschriebenen Beispiele haben es verdeutlicht.

 

Was kann ich tun?

 

Gewiss, niemand von uns ist verantwortlich für die gesamte Misere von der Klimaveränderung und Umweltzerstörung bis zur Ausbeutung von Kindern in den Minen des Kongo, von den arbeitslosen Fischern am Viktoriasee bis zu den Kämpfen in Syrien – und dennoch kann niemand einfach sagen: Es betrifft mich nicht. Jede und jeder ist eingebunden in wirtschaftliche und ökologische Prozesse, die für diese Situationen mitverantwortlich sind. Deshalb ist jede und jeder gefragt, bei sich selbst, bei ihrem bzw. seinem Lebensstil anzufangen. Jede und jeder kann innerhalb dieser komplexen Systeme die je eigenen positiven Einflussmöglichkeiten herausfinden und aktivieren. Wir können entscheiden, wie oft wir uns ein neues Smartphone zulegen, die Produkte welcher Konzerne wir kaufen, ob wir als Bankkunden oder Aktiensparer uns versichern, dass wir durch unsere Spareinlagen und Aktienkäufe nicht von Waffengeschäften profitieren oder an den Renditen von Firmen und Konzernen beteiligt sind, die ohne Rücksicht auf Menschen und Umwelt operieren.

Es sind die oft kleinen Schritte, die etwas Großes in Bewegung setzen. „Man soll nicht meinen, dass diese Bemühungen die Welt nicht verändern. Diese Handlungen verbreiten Gutes in der Gesellschaft, das über das Feststellbare hinaus immer Früchte trägt“, ermutigt Papst Franziskus in LS 212. Auch anlässlich des Weltgebetstags für die Bewahrung der Schöpfung am 1. September rief der Papst zu sehr konkreten Verhaltensänderungen im Alltag auf. Dazu gehöre etwa das Einsparen von Plastik und Papier, die bewusstere Verwendung von Wasser, Lebensmitteln und Strom, Mülltrennung, ein sorgsamer Umgang mit anderen Lebewesen oder die Bevorzugung öffentlicher Verkehrsmittel.

 

Wie können wir die aktuelle Flüchtlingskrise bewältigen?

 

Nicht alle Flüchtlinge, die bei uns Aufnahme suchen, sind Kriegsflüchtlinge. Oft wird nicht klar zu unterscheiden sein, ob es Wirtschafts- oder Klimaflüchtlinge sind. Es ist nötig, zu untersuchen und zu beurteilen, wem wir Bleiberecht gewähren können und wem nicht. Und die Integration von anerkannten und asylberechtigten Migranten ist kein leichter Weg. Aber: Wenn wir diesen Menschen begegnen oder über die Flüchtlingskrise diskutieren, Urteile fällen oder Entscheidungen treffen – vergessen wir nicht die komplexen politischen, ökonomischen und ökologischen Hintergründe und Zusammenhänge, aus denen niemand von uns herausgenommen ist.

Vergessen wir nicht, dass hinter jedem Flüchtlingsschicksal die nie leichtfertig getroffene Entscheidung steht, dass ein Mensch seine Heimat verlässt, weil er in der Fremde eine bessere Zukunft zu finden hofft. Vergessen wir nicht, dass wir unseren Wohlstand nicht guten Gewissens verteidigen können, indem wir uns jene Menschen vom Leibe halten, die unser Lebensstil und -standard im komplexen System der weltweiten Vernetzung von ökonomischen, ökologischen und sozialen Prozessen zur Migration nötigt.

 

Martin M. Lintner

 

Zur Person

Der Autor dieses Beitrages, P. Martin M. Lintner OSM, ist Professor für Moraltheologie an der Phil.-Theol. Hochschule in Brixen.