Niewiadomski Jozef - Mut zur Dramatik - TheoArt-komparativ

Mut zur Dramatik

Raymund Schwagers Ringen mit dem Problem der Freiheit

(Einleitung zum Sammelband: Das Drama der Freiheit im Disput. Die Kerngedanken der Theologie Raymund Schwagers, Herder 2017)

 

Sind Selbstmordattentäter wirklich freie Menschen? Könnte ihre selbstmörderische Tat, die andere Menschen mit in den Tod reißt, gar als Vollendung ihrer Freiheit gedeutet werden? Die in den islamistischen Kreisen gepflegte „Martyriumsideologie“ legt einen solchen Gedanken nahe. Weil ihre Tat als Selbstopferung begriffen wird, werden sie ja als Märtyrer und Helden gefeiert. Die auf den ersten Blick dem durchschnittlichen „Westler „als abwegig erscheinenden Fragen und Analogien sind keineswegs abwegig. Natürlich können sie schnell mit dem Hinweis auf Verblendung der Islamisten abgetan werden. Die Religionskritiker werden allerdings nicht müde, auf Parallelen zwischen religiösen Lebenshaltungen hinzuweisen, von denen sie überzeugt sind, dass sie alle – und dies auch samt und sonders – mehr der Logik der Vergewaltigung des Menschen durch eine wie auch immer begriffene göttliche Macht, denn der Logik einer freien Entscheidung des religiös gestimmten Menschen verpflichtet sind. Nimmt man dieses grob gestrickte Muster der Analogien doch ernst, wird man unweigerlich mit der Frage konfrontiert, ob nicht auch Jesus in seiner Entscheidung für den Tod am Kreuz oder auch nur in seiner Fügung in das scheinbar unabwendbare Geschick von seinem Vater verführt, gar „vergewaltigt“ wurde. Dies nicht auch zuletzt deswegen, weil es in der christlichen Tradition genug an soteriologischen Entwürfen gegeben hat, die im göttlichen Vater den eigentlichen Agens des Kreuzigungsgeschehens gesehen haben.

Wie kaum ein anderer Systematiker der Gegenwart hat der Innsbrucker Dogmatiker Raymund Schwager sein Leben lang mit dem Problem der ambivalenten, religiös motivierten Gewalt gerungen, in diesem Problem gar die zentrale Schwierigkeit der christlichen Erlösungslehre gesehen. Bereits in seiner ersten großen christologischen Arbeit Jesus-Nachfolge, die 1973 veröffentlicht wurde, stand im Zentrum seiner Interpretation der göttliche Vater, der sich durch Jesus gerade in der radikalen Differenz zu all den göttlichen Mächten der gewaltkanalisierenden, aber auch gewaltlegitimierenden Institutionen offenbart hat: „Jesus hatte sein Leben und Sterben als eine Offenbarung verstanden. Der Gott, den er dabei als seinen Vater aufzeigte, war [...] kein Staats- und Kultgott. Die staatlichen und religiösen Autoritäten hatten Jesus verurteilt. [...] Der Vater war nicht der Gott einer religiösen Tradition. Gerade von dieser Tradition wurde Jesus sogar wegen Gotteslästerung verurteilt. Der Gott Jesu war auch nicht der Ausdruck einer resignierenden Einsicht ins unabänderliche menschliche Schicksal. Der Vater ermächtigte ihn geradezu, das unabänderliche Schicksal von seiner Wurzel, vom Tod, her in eine Hingabe zu verwandeln. Jesus hat jenen Gott geoffenbart, der nichts verklärt und dem Leben nichts von seiner Härte nimmt, wohl aber das fast tierisch verständnislose Erleiden des Schicksals in eine Tat der Liebe umzugestalten vermag.“[1]

Analog zu all den Theologen und Kulturtheoretikern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich vom gewaltbeladenen Gottesbild distanziert haben, deswegen auch den Schwerpunkt der Gottesbeziehung in die vergebende Liebe Gottes hinein verlagerten, hat auch Schwager das Denkmodell der Erlösung, in welchem diese in den Kategorien einer der göttlichen Macht geschuldeten Satisfaktion gedacht wurde, einer radikalen Kritik unterzogen. Die für sein Lebenswerk geradezu providentielle Begegnung mit René Girard und seiner Religions- und Kulturtheorie verhalf ihm zur methodischen Sicherheit auf dem Weg einer radikalen Dekonstruktion der gewaltverhafteten Gottesbilder in der biblischen Offenbarung. Im Unterschied zu Girard selber und auch jenen Interpreten des Werkes dieses frankoamerikanischen Denkers, die mit Hilfe der mimetischen Theorie auch die Kategorie des Opfers als für das Christentum unbrauchbar, weil verschleiernd, qualifiziert haben, setzte sich jedoch Schwager radikal für eine Rehabilitierung, damit aber auch für die Neudeutung dieses – für die Soteriologie seiner Meinung nach – zentralen Paradigmas ein.[2] Im Zentrum dieser seiner Neudeutung stand aber die Frage nach dem Zusammenhang und dem Unterschied zwischen dem – wie auch immer – erzwungenen Geschick und der (wirklich) freien Entscheidung für einen Lebensweg. Die theoretische Sensibilität für den Stellenwert genau dieser Differenzierungen lässt sich bei Schwager selbst zurückverfolgen bis an den Anfang seines theologischen Weges und zwar in den Text seiner 1969 verteidigten Dissertation, in dem er auf das Missverständnis (nicht nur) der ignatianischen Spiritualität hinweist, wenn (wie schon bei Ignatius selbst) im Namen einer größeren „Kirchenfrucht“ die „individuelle Frucht“ geopfert wird, der „Vorrang der Kirchenfrucht“ demnach „nach dem Beispiel eines Heeres mißverstanden“ wird. „In der Kirche würde eine solche ‚Opferung‘ bedeuten, daß Machtziele verfolgt und nicht mehr Geistesfrüchte gesucht werden. In ihr hat ein Opfer nur dann einen Sinn, wenn es ganz in Freiheit angenommen wird und so gerade im Zeichen auch der individuell ‚größeren Frucht‘ steht.“[3]

Solche akademisch anmutenden Nuancierungen haben bei Schwager viel mit der existentiellen Entscheidungslogik im Kontext seiner eigenen Biographie zu tun. Und dies nicht nur im Kontext seines 1955 erfolgten Ordenseintritts. 1977 wurde er – obgleich ursprünglich seitens des Ordens nicht für den akademischen Weg vorgesehen – in einer konfliktgeladenen Situation[4] zum Ordinarius für Dogmatik an die traditionsreiche Innsbrucker Fakultät berufen. Auch oder gerade deswegen, damit die traditionelle Interpretation des sog. Jesuitenparagraphen im österreichischen Konkordat bestätigt werde. Deswegen ist auch die Frage, ob sein Weg nach Innsbruck die Frucht seiner eigenen Entscheidung war oder das Ergebnis der Unterwerfung unter den Willen der Oberen, alles andere als theoretisch. Kann man aber bei einem Jesuiten und dem Phänomen des jesuitischen Gehorsams die Frage nach der konkret erlebten und gelebten Freiheit auf diese Weise stellen? Wo liegen die Bedingungen einer freien Entscheidung bei jemandem, der einen Weg in der Kirche eingeschlagen hat, das Verhältnis zu dieser Kirche aber von Anfang an – schon in seiner Dissertation – als „ein dramatisches“ beschrieben hat? Entwicklung, Auseinandersetzung, Krise, gar Bruch gehören dazu. Alles getragen vom Vertrauen, dass Versöhnung möglich ist. Überall dort aber, wo „der Mut zur Dramatik“ fehlt, sei zu vermuten, dass nicht „der allumfassende Geist am Wirken“ ist, sondern „eine götzenhafte Verabsolutierung sichtbarer Strukturen sich abzeichnen“ dürfte.[5] Auch der Innsbrucker Weg Schwagers war von dramatischen Konnotationen gezeichnet. Zu Beginn seiner akademischen Tätigkeit – wegen seines nicht typischen hochschulpolitischen Werdegangs, aber auch wegen seiner radikalen politischen Ansichten in Bezug auf den „Teufelskreis der Rüstungsspirale des Kalten Krieges“[6] – nahezu von allen abgelehnt, suchte er zu beweisen, dass er zumindest das Manuale der akademischen Theologie beherrscht. Inspiriert durch die mimetische Theorie von René Girard forstete er zwar in bester akademischer Manier die klassischen Entwürfe der Erlösungslehre durch.[7] Die Frage, die ihn dabei motivierte, lautete aber: War Jesus wirklich frei? War seine Entscheidung zum Tod am Kreuz seine eigene Entscheidung oder eine, die ihm aufgedrängt wurde: von einer höheren und mächtigeren Rationalität? Einer Rationalität, die durchaus ein Ergebnis von kollektiven Zwängen und Projektionen gewesen sein konnte? Sah er sich nicht (den vielen Terroristen der Gegenwart nicht ganz unähnlich) mit einem derart großen Übel konfrontiert, dass er um jeden Preis dieses bekämpfen und den Preis auch selber zahlen wollte. War er nicht, wie die Tradition es oft verstanden hat, derart von einer göttlichen Energie durchflutet, dass er bloß ein williges Werkzeug in den Händen seines Gottes war, ein Werkzeug, das jeglicher Freiheit beraubt ist? Die historische Auseinandersetzung um den Monotheletismus, der ja nur den einen – göttlichen – Willen in Christus annimmt, die politische Instrumentalisierung der monoergetischen und monotheletischen Glaubensrichtungen durch Kaiser Konstans II., schlussendlich der Kampf eines Maximus Confessor: all das waren keine bloß historischen Fragen für Schwager.[8] Sie verdichteten ihm viele existentielle und auch politische, für die Gegenwart relevante Fragen. Die Tatsache, dass diese Auseinandersetzung bereits im Horizont des Vormarsches des Islam stattgefunden hat, einer Religion, die das Problem der Freiheit (und all die damit zusammenhängenden, oft undurchschaubaren Dramen) denkbar einfach löst (nicht zuletzt dank des Prädestinationsparadigmas), inspirierte Schwager zu Reflexionen über das Verhältnis Christentum – Islam.[9]

Im Glauben an den Gott der Geschichte sah Schwager ja eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen  „gläubigen Menschen im Westen mit gläubigen Muslimen“. Deswegen war er davon überzeugt, dass man nur gemeinsam der Bedrohung des islamistischen Terrorismus begegnen soll. Den Terrorismus deutete er ja – und dies schon von Anfang an – nicht bloß im strategischen Kontext, glaubte auch deswegen, dass eine simple Loslösung der Phänomene des Terrors – vor allem jener Akte, die mit Lebenshingabe verbunden sind – von der Religion den Kern der Sache verfehlt. Schon nach dem 11. September 2001 fragte er: „Warum sind Menschen bereit, ihr Leben wegzuwerfen? Sie sehen sich einem Übel gegenüber, das aus ihrer Perspektive so groß ist, dass es um jeden Preis bekämpft werden muss.“ Und er glaubte, dass man einer derartigen Radikalität nur mit Hilfe einer religionspolitologischen und theologischen Perspektive gerecht wird. Deswegen fragte er auch besorgt weiter: „Auf welchem Niveau haben wir den Terroristen etwas entgegenzusetzen? Mit Gewalt kann man zwar, wenn sie politisch klug eingesetzt wird, ein Stück eindämmen. Mit legaler Gewalt kann man die illegale begrenzen. Ein dauerhafter Friede wird dadurch nicht erreicht.“[10] Schon in dieser Reaktion auf den 11. September demaskierte Schwager die politische Rhetorik von der Verteidigung der Demokratie und einer offenen Gesellschaft als ungenügend. Mehr noch: er glaubte, dass diese Rhetorik zuerst eine Haltung der Unverbindlichkeit und Beliebigkeit verdeckt, dass sie – sofern sie sich auch unverblümt der neuzeitlichen Freiheitsrhetorik bedient – im höchsten Ausmaß etwas verschleiert. Sie verschleiert nicht nur die inzwischen wohl als banal einzustufende Tatsache, dass unser aller Freiheit in der globalisierten Welt durch die Zwänge des Marktes strukturiert und durch mediale Mechanismen manipuliert wird. Wie schon beim Umbruch der Neuzeit verschleiert sie auch weiterhin den aufklärerischen Befund, dass Freiheit auch eine Puppe des mimetischen Begehrens sei. Die Kultur des global village potenzierte ja nicht nur die Freiheitsträume. Auf planetarischer Ebene entfesselte sie auch die mimetische Rivalität.[11] Deswegen nahm Schwager die Theologie in die Pflicht, die zeitgeschichtliche Verankerung ihrer Denkmodelle nicht bloß als drittrangiges Dekor zu betrachten, sondern dem Grundnerv der Auseinandersetzung in der jeweiligen Zeit nachzuspüren, Konflikte offenzulegen und immer wieder neu und konkret gerade die Frage nach der freien Tat und nach einer Freiheitsentscheidung zu stellen.

Der theoretische Rahmen, den er mit seinem „Heilsdrama“ aufgespannt hat, erlaubte ihm selber eine klare Antwort auf viele der hier genannten Fragen und dies nicht nur im Kontext der Bibelhermeneutik[12], der Dogmengeschichte[13] und der systematischen Erlösungslehre[14]. Mit seinem „Jesusroman“[15] legte er auch ein spirituelles Itinerarium für die Bemühung um eine freiheitsrespektierende Konkretisierung des göttlichen Willens in einer ganz konkreten Biographie vor. In der von ihm inspirierten „Schule“ der Innsbrucker Dramatischen Theologie wurde nicht nur an der Edition seiner Gesammelten Werke[16], der Weiterentwicklung des hermeneutischen Rahmens und an den vielen Einzelthemen gearbeitet; es wurde auch das interdisziplinäre Gespräch sowohl mit theologischen als auch benachbarten Disziplinen gepflegt.[17]

Unter dem Titel: „Das Drama der Freiheit im Disput“ fand im Dezember 2015 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck ein Symposium statt, das den am 27. Februar 2004 plötzlich verstorbenen Gründer der Innsbrucker Dramatischen Theologie ehren sollte. Am 11. November 2015 wäre er ja 80 Jahre alt geworden. Die in diesem Band versammelten – teilweise stark überarbeiteten – Beiträge des Symposiums kreisen um die als Befreiung zur Freiheit verstandene Erlösungslehre Schwagers. Dabei knüpft Mathias Moosbrugger an die biographische Logik an, die den jesuitischen – in der ignatianischen Schule der Exerzitien erprobten – Theologen Schwager zu seinem dramatischen, keine bloße „Zuschauerposition“ erlaubenden Ansatz motivierte und ihn auch zu jenem Freiheitsbegriff führte, der die Freiheit letztendlich als Wahlfreiheit zwischen gut und besser begreifen ließ.  Von dieser Ausgangsposition aus beurteilt Moosbrugger Schwagers Haltung zu Maximus Confessor, jenem Theologen der Alten Kirche, der als einer der wenigen auf umfassende Art und Weise die Frage nach der Freiheit Jesu differenziert reflektierte und für seine Position auch einen hohen existentiellen Preis zahlte. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Schwagers Rezeption von Maximus lädt Athanasios Vletsis ein. So bietet er einen umfassenden Einblick in das Werk des Bekenners, geht die von Schwager analysierten Texte des Ölberggebetes Christi Schritt für Schritt durch, kann aber der schwagerschen Verdichtung der Fragestellung auf die Wahlfreiheit wenig abgewinnen, weil er dem größeren Zusammenhang, in den Schwager seine Überlegungen hineinstellt, nämlich den der Theologie der Geschichte, – als byzantinischer Christ – nicht viel abgewinnen kann. Simon de Keukelaere nimmt die Denklinien Schwagers auf und bringt das Denken von Maximus in ausdrückliche Verbindung zur Analyse des menschlichen Begehrens (auch jenes Begehrens, das fehlgeleitet zu götzenhafter Verabsolutierung von Gütern und Haltungen führt), wie wir sie beim kongenialen Gesprächspartner Schwagers, nämlich René Girard, finden können. Nikolaus Wandinger schlägt bei seiner Interpretation eher einen ähnlichen Weg wie Moosbrugger ein, indem er in der Christologie vor allem die Leistung des Anselm von Canterbury, der ja die Wahlfreiheit als Freiheit zur Wahl zwischen gut und besser versteht, hervorhebt, weist aber für die Anthropologie zusätzlich auf jene Stränge der Theologie Schwagers hin, die in anderen Beiträgen unberücksichtigt bleiben, nämlich seine Erbsündenlehre. Der dort gemachte Versuch, die erbsündenhafte Verfehlung – damit auch die Freiheitstat – von der Logik der stärker emotional geprägten Entscheidungssituation her plausibel zu machen, wird von Wandinger in Verbindung gebracht mit der Analyse der „Wahlzeiten“ in den ignatianischen Exerzitien. Die damit gegebene Gefahr der Einebnung des Unterschiedes zwischen der erbsündenfreien Freiheitsentscheidung der „Urmenschen“ und unseren Entscheidungen wird überraschenderweise in Richtung der Entlastung der ersten Menschen interpretiert: auch diese erscheinen nun in „einer unauflöslichen Einheit von Opfer und Täter“. Sie sind zwar nicht Opfer von anderen Menschen, doch bleiben sie Opfer einer „für sie subjektiv nicht bewältigbaren Situation“. Ralf Miggelbrink rückt in seinem Beitrag den Theoriendiskurs in den Vordergrund. Die freiheitstheoretische Diskussion, wie sie im deutschsprachigen Raum zuletzt im Umkreis von Thomas Pröpper geführt und im christologischen Kontext durch Georg Essen verdichtet wurde, wird von ihm in kritischer Absicht in den Rahmen des dramatischen Ansatzes hineingestellt. Da Schwager das von Balthasar als innertrinitarisch konzipierte Drama auf die Erde holt, nimmt er konsequenterweise Freiheit unter dem Aspekt ihrer „materialen, geschichtlichen Unmöglichkeit“ wahr und kann deswegen gerade Jesus von Nazareth „als paradigmatische menschliche Ankunft der Erlösung in einem Menschenleben“ präsentieren. Damit vermag er nicht nur jenen Verlust an Konkretheit der Diskurse zu korrigieren, den der transzendentalphilosophische Zugang mit sich bringt, sondern auch auf überraschende Weise die schwager᾽sche Interpretation der Theologie des Bekenners zu bestätigen. Mit dem – für den dramatischen Ansatz zentralen – Opfer-Täter-Dilemma beschäftigt sich Willibald Sandler. Er bringt die von Schwager selbst eingeführte soteriologisch relevante Differenzierung der jesuanischen Identifizierung mit den Tätern, sofern sie Opfer sind, deswegen auch letztendlich „nicht wissen, was sie tun“, mit dem in den letzten Jahren in den Ausläufern der sog. „Theologie nach Auschwitz“ stark in die Diskussion gebrachten Postulat der Nichtvergebung für jene Täter in Verbindung, die ja wohl wussten, was sie tun und deswegen auch an die Grenze zu „radikal Bösen“ gedrängt werden. Im kreativen Gespräch zwischen den Ansätzen der Theologie der Freiheit, wie sie bei Karl Rahner zu finden ist, und dem dramatischen Zugang sucht Sandler nach einer konkreten „kairologisch“ strukturierten Antwort auf dieses so gefasste Opfer-Täter-Dilemma. Weil mit der zunehmenden Nähe Gottes die menschliche Freiheit nicht schwindet, sondern vielmehr zunimmt, kann eine Heilsdramatik erhofft werden, die ja die Verschärfung, aber auch die Infragestellung von Entscheidungen möglich macht. Mit seinem Interesse für die „Herz-Jesu-Frömmigkeit“ schlägt Roman Siebenrock eine Brücke zu jener politischen Dimension der Theologie Schwagers, die auch in seiner Beurteilung der Terrorattentate von Bedeutung war.  Obwohl das Symbol des Herzens Jesu konsequent auf die Gewaltfreiheit Jesu verweist, wurde es gerade in Tirol jahrzehntelang mit Gewaltattentaten in Verbindung gebracht. Mit seinem dramatischen Zugang zur Erlösungslehre kann Schwager konsequent dieser Tradition entgegen steuern und eine Neuinterpretation einer festgefahrenen Tradition liefern. Gerade der dramatische Zugang vermag zu zeigen, wie eine einzelne Person „das Geschick und das übliche Tun“, den Kreislauf von Rache und Vergeltung wenden und transformieren kann. Deswegen steht das Herz Jesu als Symbol geradezu paradigmatisch für jene Freiheit des Menschen, der auf Böses nicht mit Vergeltung reagierte. Siebenrock weist auf die Beispiele solch „jesuanischen Handelns“ gerade im 20. Jahrhundert hin, das er als „die Epoche der gigantischsten Mordmaschinen und des Sündenbockvernichtens der Menschheitsgeschichte“ qualifiziert. Den in den Freiheitsdiskursen, so auch in der Debatte über den islamistischen bzw. dschihadistischen Terror, immer wieder auftauchenden Begriff des „radikal Bösen“ nimmt Wolfgang Palaver kritisch unter die Lupe. Weil die „Diabolisierung dschihadistischer Gewalt“ zur Eskalation des Teufelskreises der Gewalt verführt, entmythologisiert Palaver den Begriff indem er auf die augustinische Privationstheorie des Bösen zurückgreift. Überraschenderweise kann er sogar auf die Sinneswandlung bei Hannah Arendt hinweisen, die ja durch ihre Erfahrungen beim Eichmannsprozess in Jerusalem ihre Sicht über das „teuflische Monster Eichmann“ geändert und den Täter „weder dämonisch noch ungeheuerlich“ gefunden hat. Damit schlägt Palaver die Brücke zur Erbsündenlehre, wie sie durch Girard und Schwager unter den Bedingungen neuzeitlicher Anthropologie neu buchstabiert wurde. Elmar Koziel setzt bei dem von Schwager erhobenen Anspruch an, der dramatische Ansatz würde für den gegenwärtigen Theoriendiskurs unverzichtbare und innovative Einsichten bringen. Um das zu überprüfen wendet sich Koziel der religionstheologischen Debatte der Gegenwart, konkret der Pluralistischen Religionstheologie zu. Er diskutiert diese allerdings unter Bezugnahme auf den geistigen „Vorläufer“ der in der Gegenwart so populären Haltung, nämlich Karl Jaspers und seine Theorie der Achsenzeit. Die Kontrastierung beider Denker – Jaspers und Schwager – zeigt den unverzichtbaren Wert der Konkretheit. Gerade bei der Frage des Transzendenzbezugs und der Neuaneignung desselben durch den Menschen wird deutlich, dass der von den Pluralisten um der Vermeidung religionspolitischer Konflikte willen bevorzugte abstrakte Standpunkt über der konkreten Religion zu kontraproduktiven Folgen haben kann. Wenn auch beide Autoren die Freiheit der Entscheidung des Einzelnen im Angesicht der Transzendenz bzw. für oder gegen Gott wahren können, weist der konkrete – gerade dramatische – Zugang zur Logik der Entscheidung „eine ungleich dramatischere Qualität auf“.Mit dem Theoriendiskurs beschäftigt sich auch der Beitrag von Grant Kaplan. Dabei rücken die Ansätze der Theorien der Dogmenentwicklung, wie sie im 19. Jahrhundert in der Tübinger Schule entwickelt wurden, in den Fokus der Aufmerksamkeit. Weil Schwager in seinem unvollendeten Manuskript zu Dogma und dramatische Geschichte die Frage nach der Entwicklung des Dogmas von der Wahrheit der Menschwerdung Christi her aufrollt und dabei der Problematik der Freiheit Jesu einen zentralen Wert zumisst, glaubt Kaplan mit jener katholischen Theorie der Entwicklung von Dogmen, die ja auf die in der Neuzeit aufgebrochene Freiheitsproblematik reagierte und die den Aspekt der Entwicklung vom  „Chalcedonischen Ansatz“ her begriff, das Manuskript von Schwager „zu vollenden bzw. zu ergänzen“. Der – zumindest in Bezug auf die Länge den Rahmen sprengende – Aufsatz von Thomas Schärtl setzt einerseits den in mehreren Beiträgen des Bandes geführten Diskurs über Schwagers Interpretation der Position von Maxismus Confessor fort, anderseits sucht er Brücken zu schlagen zu den christologischen Debatten, wie sie in der anglosächsischen Religionsphilosophie bzw. „Analytic Theology“ geführt werden. Die Darstellung der in dieser Strömung unternommenen, sprachphilosophisch motivierten „Modernisierungsversuche“ klassischer kirchlicher Christologie rechtfertigt die überdurchschnittliche Länge des Beitrags. Die sprachphilosophischen Präzisierungen Schärtls münden in metaphysische Modellierungen der christologischen Fragestellungen, hier auch des christologischen Ansatzes von Schwager. Schärtl sieht diesen im Zusammenhang mit dem in der „Analytic Theology“ breit diskutierten Modell der „Konkreten-Natur-Enhypostasie“ (KNE), bringt in diesem Zusammenhang auch sein Modell „konstitutioneller Selbigkeit“ als Verständnishilfe zur Sprache, das „die Hypostase des Logos als Analogon zu einem Formprinzip“ begreift und das er mit dem Bild von Leontios von Jerusalem, der ja von dem durch Feuer durchglühtem Eisen sprach, noch einmal verdeutlicht. An die Grenze der Möglichkeiten von „rein metaphysischer Modellierung“ angelangt, sucht Schärtl unter Aufnahme der Überlegungen von Schwager jene Akte zu benennen, die das „Durchsichtigwerden des Menschseins Jesu für das Gottsein“ beschreiben und findet diesen Ort im „ultimativen Akt der Vergebung“.

Wird nun aber mit dem Bild des vom durch Feuer durchglühten Eisens nicht das ureigene Anliegen Schwagers, die Freiheit des Menschen Jesu deutlich zu artikulieren, doch unterlaufen? Schwager selber hat in seiner nicht vollendeten dogmengeschichtlichen Studie die Leistung des Leontius zwar gewürdigt, ihn aber dann doch – in Übereinstimmung mit Grillmeier – jenem Lager zugeordnet, das die Unterscheidung von beiden Naturen nur „in der ‚Theorie‘ oder ‚in Gedanken‘“ festgehalten haben.[18] Gerade, weil Schwager bereits am Anfang seines theologischen Wirkens die Differenz zwischen den Göttern der Gewalt und dem Vater Jesu Christi an jenem Ort erblickte, an dem der Vater Jesus „ermächtigte […] das unabänderliche Schicksal von seiner Wurzel, vom Tod her in eine Hingabe zu verwandeln“, reichte ihm die Unterscheidung der beiden Willen, die gerade bei dem Status „in theoria“ in die Identität umkippen kann, nicht aus. Nicht zuletzt durch die Einsichten, die ihm durch die Begegnung mit der Theorie von René Girard geschenkt wurden, die auf die Ambivalenz der religiös motivierten Gewalt hinweisen und auch die daraus entspringende Gleichsetzung von Viktimisierung und Hingabe thematisieren, motivierten ihn dazu, nach einem Zusatzkriterium zu suchen, das es ermöglicht diese göttliche Ermächtigung von der Verführung oder gar „Vergewaltigung“ zu unterscheiden. Aus diesem Grund pochte er auf den unverzichtbaren Wert der Wahlfreiheit bei der Thematisierung der Freiheit des Menschen Jesus!

Anmerkungen

[1] Raymund Schwager, Jesus-Nachfolge. Woraus lebt der Glaube, Freiburg i. Breisgau 1973. Dieses Buch ist neu aufgelegt worden in: Raymund Schwager, Frühe Hauptwerke (RSGS 1), hg. von Mathias Moosbrugger, Freiburg i. Breisgau 2016, 259–421, 293f.

[2] Einen tiefen Einblick in die theologiegenerierende Beziehung zwischen Schwager und Girard gibt die inzwischen edierte Korrespondenz beider Denker; vgl. Raymund Schwager, Briefwechsel mit René Girard (RSGS 6), hg. von Nikolaus Wandinger und Karin Peter, Freiburg i. Breisgau 2014. Umfassende Informationen zur sog. Opferkontroverse sind zu finden in: Mathias Moosbrugger, Die Rehabilitierung des Opfers. Zum Dialog zwischen René Girard und Raymund Schwager um die Angemessenheit der Rede vom Opfer im christlichen Kontext (Innsbrucker theologische Studien 88), Innsbruck/Wien 2014.

[3] Raymund Schwager, Das dramatische Kirchenverständnis bei Ignatius von Loyola. Historisch-pastoraltheologische Studie über die Stellung der Kirche in den Exerzitien und im Leben des Ignatius, Zürich/Einsiedeln/Köln 1970. Auch dieses Werk wurde neu aufgelegt in: Schwager, Frühe Hauptwerke (RSGS 1), 37–256, hier: 251.

[4] Weil der damalige Bischof von Innsbruck Dr. Paulus Rusch dem stark von der Kritischen Theorie inspirierten Jesuitenpater Franz Schupp 1974 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen hat, ist der Lehrstuhl für Dogmatik plötzlich freigeworden. Die Entscheidung provozierte nicht nur einen Vorlesungsstreik und dann auch einen mehrere Wochen dauernden Aufruhr der Studierenden, sie drängte auch den Jesuitenorden in die schwer lösbare Schwierigkeit, denkbar schnell einen geeigneten Kandidaten für diese Professur zu finden. Da die Studierenden sich mit dem abgesetzten Professor solidarisch erklärten, begegneten sie all den (doch nicht zahlreich zur Verfügung stehenden) möglichen Nachfolgern mit denkbar größter Skepsis, teilweise gar mit pauschalen Diffamierungsversuchen.

[5] Schwager, Das dramatische Kirchenverständnis  (RSGS  1), 250.

[6] Den Höhepunkt der Auseinandersetzungen um das politische Profil Schwagers stellte die Diffamierung des Jesuiten als Kommunisten dar, die nach der Publikation der Broschüre: „Der Vatikan zur Rüstung“ im Jahre 1979 in den Kommentaren der Tageszeitungen zu finden war. Vgl. Herwig Büchele, Politischer Theologe in bewegter Zeit, in: Józef Niewiadomski und Nikolaus Wandinger (Hg.), Dramatische Theologie im Gespräch. Symposion/Gastmahl zum 65. Geburtstag von Raymund Schwager (Beiträge zur mimetischen Theorie 14), Münster 2003, 19–32. Die wichtigen Texte zu Schwagers politischem Engagement erscheinen in: Raymund Schwager, Kirchliche, politische und theologische Zeitgenossenschaft, hg. von Mathias Moosbrugger (RSGS 8), Freiburg i. Breisgau 2017.

[7] Vgl. Raymund Schwager, Der wunderbare Tausch. Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre (RSGS 3), hg. von Nikolaus Wandinger, Freiburg i. Breisgau 2015.

[8] Vgl. Schwager, Der wunderbare Tausch (RSGS 3), 235–275.

[9] Raymund Schwager, Dogma und dramatische Geschichte. Christologie im Kontext von Judentum, Islam und moderner Marktkultur (RSGS 5), hg. von Józef Niewiadomski und Mathias Moosbrugger, Freiburg i. Breisgau 2014, 221–231.

[10] Raymund Schwager, Terror, Islam und die Aufforderung zur Resignation, in: Innsbrucker theologischer Leseraum: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/425.html.

[11]Für eine von den Grundoptionen des dramatischen Ansatzes geleitete Analyse der Gegenwart vgl. Józef Niewiadomski, Globale Moderne und ihre trügerische Wahrheit, in: Globalität und Katholizität. Weltkirchlichkeit unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts, hg. von Christoph Böttigheimer (Quaestiones Disputatae 276), Freiburg i. Breisgau 2016, 69–102.

[12] Siehe v. a.: Raymund Schwager, Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften (RSGS 2), hg. von Mathias Moosbrugger und Karin Peter, Freiburg i. Breisgau 2016.

[13] Schwager, Der wunderbare Tausch (RSGS 3).

[14] Raymund Schwager, Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre, in: ders., Heilsdrama. Systematische und narrative Zugänge (RSGS 4), hg. von Józef Niewiadomski, Freiburg i. Breisgau 2015, 37–400.

[15] Raymund Schwager, Dem Netz des Jägers entronnen. Das Jesusdrama nacherzählt von Raymund Schwager, in: ders., Heilsdrama (RSGS 4), 401–564.

[16] Vgl. Raymund Schwagers Gesammelte Werke, hg. von Józef Niewiadomski (in Zusammenarbeit mit Karin Peter, Simon de Keukelaere, Mathias Moosbrugger und Nikolaus Wandinger) im Herder-Verlag, Freiburg i. Breisgau 2014–2017.

[17] Vgl. Józef Niewiadomski und Roman A. Siebenrock, Dramatische Theologie: Ein Blick in die Forschungswerkstatt, in: Zeitschrift für katholische Theologie 132 (2010), 385–388; vgl. u. a. auch die Sammelbände: Niewiadomski und Wandinger (Hg.), Dramatische Theologie im Gespräch; Józef Niewiadomski und Roman Siebenrock in Zusammenarbeit mit Hüseyin I. Cicek und Mathias Moosbrugger, Opfer – Helden – Märtyrer. Das Martyrium als religionspolitologische Herausforderung (Innsbrucker theologische Studien 83), Innsbruck 2011; Mathias Moosbrugger und Józef Niewiadomski (Hg.), Auf dem Weg zur Neubewertung der Tradition. Die Theologie von Raymund Schwager und sein neu erschlossener Nachlass, Freiburg i. Breisgau 2015.

[18] Schwager, Dogma und dramatische Geschichte (RSGS 5), 194.