Mautner Josef P. - "Die Zeit macht aus ihren Zeugen immer Vergessende". Katholizismus und Nationalsozialismus im Werk von Thomas Bernhardk - TheoArt-komparativ

Mautner Josef P.

„Die Zeit macht aus ihren Zeugen immer Vergessende“. Katholizismus und Nationalsozialismus im Werk von Thomas Bernhard.

„Die Geschichte interessierte mich, aber nicht so, wie sie sich für unsere Geschichte interessierten, sozusagen nur für die als zu Hunderten und zu Tausenden aufeinandergelegten Ruhmesblätter, sondern als Ganzes. Was sie niemals gewagt hatten, in ihre fürchterlichen Geschichtsabgründe hinein und hinunter zu schauen, hatte ich gewagt.“ 1

Auf den ersten Blick scheint es der Unverschämtheit einer typisch Bernhard’schen Provokation nahe zu kommen, den österreichischen Schriftsteller der ‚literarischen Publizistik des deutschsprachigen Katholizismus’ zuordnen zu wollen. Gerade ihn, der sich jeder Zuordnung vehement entzogen hatte, unter dieses Milieu zu rubrizieren, mag zum Widerspruch reizen, hätte vermutlich auch ihn selber zum Widerspruch gereizt. Auf die Frage: War Thomas Bernhard ein katholischer Schriftsteller? – sind zwei sich ausschließende Antworten möglich; die eine: ‚Er war alles andere als das! Sein ganzes Werk seit dem ersten Roman, Frost, entwickelt einen literarischen Diskurs, der frontal gegen den Katholizismus, seine pädagogischen, kulturellen und religiösen Implikationen gerichtet ist.’ – Die andere: ‚Bernhard war ganz selbstverständlich katholisch geprägt.’

Die Lektüre des Frühwerks zeigt jedenfalls, dass Bernhard an entscheidenden Stellen seines Werks religiöse Begriffe wie Bilder aufgegriffen und transformiert hat. Die beiden im Salzburger Otto-Müller-Verlag 1957 und 1958 erschienenen Gedichtbände Auf der Erde und in der Hölle sowie In hora mortis sind als religiöse Lyrik rezipiert worden. Die unveröffentlicht gebliebene Gedichtsammlung Frost enthält zu einem erheblichen Teil Gedichte mit explizit religiösen Motiven. Auch einige Texte der frühen Prosa behandeln religiöse Themen in einer Weise, die den frühen Bernhard als katholisch geprägten Schriftsteller erscheinen lassen. Ich nenne als Beispiel die 1956 erschienene Erzählung Der Schweinehüter. Aber auch nach dem in großen Teilen religiös bestimmten Frühwerk erweist eine beinahe leitmotivisch vom Roman Frost bis zu seinem letzten Prosawerk Auslöschung wiederkehrende Negation die nicht mehr aufzuhebende Bindung an die katholische Religion.

Der Nationalsozialismus ist für die Sprecher der Diskurse von Bernhards Texten niemals Geschichte im Sinne eines abgeschlossen Vergangenen. Dessen Wahrnehmung im Werk ist die seiner Präsenz, seiner Wirksamkeit durch Verleugnung, und ein wesentliches Medium jener Verleugnung ist der immer wieder obstinat so benannte „Katholizismus“. Auch hier – im Wahrnehmen des Nationalsozialismus – ist es der unvermittelte Gegensatz, der den Text hervorbringt; in diesem Falle der Gegensatz zwischen dem Verleugnen bzw. Verdrängen auf der einen und dem Aufdecken sowie Sichtbarmachen auf der andern Seite. Ich konzentriere mich auf die literarische Wahrnehmung der Verbindungen von Nationalsozialismus und Katholizismus im frühen Werk von Thomas Bernhard und beziehe mich dabei auf publizierte wie nicht publizierte Texte Thomas Bernhards, die im Zeitraum zwischen 1950 und 1964 entstanden sind, sowie auf die autobiografische Pentalogie, in der er den Zeitraum seiner Jugend und Kindheit im Rückblick literarisch erinnert hat. Im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit steht nicht die skandalisierte und skandalisierende Ineinssetzung von Katholizismus und Nationalsozialismus, wie sie aus der Perspektive des Icherzählers heraus in der Autobiografie formuliert wurde. Der Fokus des Interesses liegt vielmehr auf Bernhards spezifisch literarischer Perspektive: auf seiner hohen ästhetischen Sensibilität für die existentielle Situation der mit Leiden und Tod konfrontierten Menschen. Erst diese Sensibilität führt ihn zu einer Kritik an den seelischen Verheerungen, die Katholizismus wie Nationalsozialismus in analoger Weise den durch sie beherrschten Menschen zugefügt haben. Folgen dieser Verheerungen sind für Bernhard Erinnerungslosigkeit sowie die in der kollektiven Amnesie verlorene Fähigkeit, das Leiden Anderer wahrzunehmen und Mit-leid zu empfinden. Dabei soll die auch im späteren Werk nicht aufgelöste Ambivalenz eines vom katholischen Christentum geprägten und zugleich von seinem Versagen abgestoßenen Schriftstellers sichtbar gemacht werden. Thomas Bernhards Kritik an dieser spezifisch österreichischen Analogie zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus in der Zerstörung des Erinnerungs- und Sympathievermögens hat in der österreichischen Gegenwartsliteratur weiter gewirkt. Sie hat die Österreichkritik der jüngeren Schriftstellergenerationen deutlich beeinflusst, wie die mehrmaligen Verweise und Berufungen von AutorInnen wie Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz 2 oder Rudolf Habringer auf Bernhard zeigen. Ich greife ein Beispiel heraus, das ich für wichtig halte: den seit März 2007 im Internet veröffentlichten „Privatroman“ von Elfriede Jelinek Neid. 3 Im 1. Kapitel des Romans findet sich eine längere Passage über das „Löschen“ der nationalsozialistischen Vergangenheit in Österreich, die das Bild vom Löschen der Wörter auf einer Tafel verwendet. 4 In der Einleitung zu dieser Passage nimmt Elfriede Jelinek explizit auf Thomas Bernhard als „großen Dichter“ Bezug, der nur in einer korrekten Weise zitiert werden soll, wenn er von „Nationalsozialisten“ bzw. von „katholischen Nationalsozialisten“ spricht. 5 Die Sprecherin des Romandiskurses redet in der Folge von der zwingenden Suggestivkraft der Klagen und Anklagen des Thomas Bernhard, die sie dazu zwingt, in seine „Einfälle“ mit „einzufallen“ 6, von seiner Autorität als „großer Dichter“, die den Alltagsdiskurs der Sprecherin beeinflusst und sie dazu zwingt, eine „vorsichtigere“ Ausdrucksweise anzuwenden 7.

Im Folgenden werde ich – im Anschluss an eine Hinführung – eine Annäherung an die Wahrnehmung des Nationalsozialismus in Thomas Bernhards frühem Werk in zwei Schritten unternehmen: Die Hinführung beinhaltet einige kurze Überlegungen zur Antiästhetik in seinen Texten; der erste Schritt untersucht das Verhältnis der verschiedenen literarischen Ich-Perspektiven zum Katholizismus, und in einem zweiten Schritt werde ich untersuchen, in welcher Weise Bernhard die durch Erinnerungslosigkeit und Verleugnung machtvolle Präsenz des Nationalsozialismus in der österreichischen Gesellschaft thematisiert.

Eine Hinführung zur Antiästhetik von Thomas Bernhards Werk.

Die Sekundärliteratur zu Bernhard ist seit dem Erfolg seines ersten Romanes Frost im Jahr 1963 zu einer unüberschaubaren Masse angewachsen. Aus den schmalen perspektivischen Ausschnitten, die mir meine Lektüre über die Jahre hinweg in diesen endlos weiten Gebieten eröffnet hat, ziehe ich eine vereinfachende kartografische Schlussfolgerung. Ein großer Teil der Versuche, sein Werk zu verstehen und/oder zu interpretieren bewegt sich auf einer Skala zwischen zwei extremen Polen: Auf der einen Seite der Skala steht eine weit gehend autobiografische Perspektive auf das Werk; d.h. eine große Gruppe von LiteraturwissenschaftlerInnen versucht, aus den Übereinstimmungen zwischen Leben und Werk einen interpretatorischen Schlüssel abzuleiten. Für diesen Zugang spricht das Faktum, dass die Perspektiven der verschiedenen Icherzähler in seinen Texten eine große Nähe zu den im außerliterarischen Kontext geäußerten Meinungen, Auffassungen und Dikta von Bernhard aufweisen. Noch plausibler wird diese Interpretationsweise dadurch, dass die Topografie von Bernhards Texten scheinbar in hohem Maße mit den Schauplätzen seines Lebens identisch ist. Konsequenterweise nimmt für diesen Zugang die autobiografische Pentalogie eine Schlüsselposition im Gesamtwerk ein, und von ihr her werden die früheren und späteren literarischen Texte des Autors zu entschlüsseln versucht. Ein wichtiger und erhellender Beitrag zur Bernhard-Forschung aus der Perspektive des autobiografischen Zuganges zum Werk ist die umfassende und exakt recherchierte Chronologie der Familien- und Lebensgeschichte von Johannes Freumbichler und Thomas Bernhard, die der französische Literaturwissenschaftler Louis Huguet vorgelegt hat.8 Am andern Ende der Skala steht ein weitgehend werkimmanenter Zugang, der die den Texten innewohnende Ästhetik zum Kriterium der Interpretation macht. Neben zahlreichen Einzelinterpretationen bestimmter Bernhard-Texte, die auf diese Weise eine Deutung versuchen, stehen die Versuche, sein Werk in den Gesamtkontext der europäischen Moderne einzuordnen – etwa durch Vergleiche mit anderen AutorInnen des 20. Jahrhunderts. Verglichen wurden Bernhards Texte z.B. mit dem Werk von Ingeborg Bachmann, Peter Handke, Heimito von Doderer, Samuel Beckett, Franz Kafka, sogar mit dem von Arno Schmidt. Darüber hinaus wurde sein Werk im Zusammenhang der Debatte um eine literarische Ästhetik der Postmoderne reflektiert. Wesentliche Beiträge zum Verständnis der Ästhetik bzw. Antiästhetik in Thomas Bernhards Texten hat der Wiener Germanist Wendelin Schmidt-Dengler geliefert; ich verweise auf die ältere, aber noch immer lesenswerte Aufsatzsammlung Der Übertreibungskünstler.9 Als wesentlich für alle Zugänge zu seinem Werk halte ich die Feststellung, dass jede Interpretation, gar Deutung, durch die den Texten immanente Ambivalenz begrenzt und vorläufig bleiben muss. Bei vielem, was dazu gesagt wurde, könnte auch dessen Gegenteil argumentativ schlüssig gemacht werden. Thomas Bernhard folgt in der Konstruktion seiner Texte einigen Traditionen der literarischen Moderne und gestaltet sie im Sinne seines spezifischen Idiolekts aus; ich möchte hier drei von ihnen exemplarisch herausgreifen:

1. Die Verunsicherung des Wahrnehmens:

Bernhards Texte reflektieren immer wieder die Grenzen des Wahrnehmens und Verstehens von Wirklichkeit. Sie lassen dadurch das aus der Erzählerperspektive Geschilderte für die LeserInnen als unsicher und vorläufig erscheinen. Die direkt im Text abgebildete Wirklichkeit (aus der mimetischen Perspektive) ist grotesk überzeichnet, und das Verstehen der abgebildeten Welt (die epistemologische Perspektive) wiederum wird von Thomas Bernhard als zum Scheitern verurteilt dargestellt.

Diese Form ästhetischer Verunsicherung findet sich bereits im Diskurs der frühen Prosatexte – so z.B. in der Erzählung Der Schweinehüter aus dem Jahr 1956.10 Die Erzählung beginnt mit der Schilderung einer verunsichernden Wahrnehmung: Beim genauen Anschauen seines Schweines eröffnet sich der Hauptfigur, dem Hilfsarbeiter Korn, eine fremde Welt, in der sich für ihn die scheinbar festen Grenzen zwischen Mensch und Tier, zwischen Bewusstsein und Dinglichkeit aufzulösen beginnen. Korn bleibt mit dieser Welt allein, er kann sie nicht einmal jenem Menschen, der ihm am nächsten steht – seiner Frau – vermitteln. „Er wollte sie fragen, ob sie auch schon einmal ähnliche Gedanken gehabt hat beim Anblick des Schweines (…) Aber das alles ist sinnlos.“11 Bereits dieser frühe Prosatext zeigt, was in der späteren Rezeptionsgeschichte überdeutlich wird: Will man Bernhards Texte als Abbildung einer ‚objektiven’ Realität lesen und verstehen, so findet man sich in einem Universum totaler Sinn- und Aussichtslosigkeit wieder. Dabei weist die fiktive Welt seiner Erzähltexte eine Reihe von Merkmalen realistischer Prosa auf; zum Beispiel entwirft diese Erzählung eine knappe, aber exakte Darstellung der sozialen Situation, auch der sozialen Biografie von Korn. Des weiteren hat Bernhard die Topologie des Textes mit großer Nähe zum geografischen Detail konstruiert; denn das Haus des ‚Schweinehüters’ ließe sich ohne weiteres an einem Ort in seiner Kindheit, an der Westbahnstrecke nahe dem Wallersee, situieren. Jedoch die mimetische Perspektive, wie sie ein realistischer Text nahe legt, führt bewusst in eine Sackgasse. Sie erzeugt den Schein einer überzeichnet sinnlosen Welt, die bei den LeserInnen übertriebene Reaktionen von Ablehnung (oder Identifikation) herausfordern kann. Die Erzählungsollte 1956 in der von Hans Weigel herausgegebenen Jahresanthologie Stimmen der Gegenwart erscheinen. Auch die Verantwortlichen des katholischen Herder-Verlages ließen sich provozieren. Auf ihre Intervention hin musste Bernhard den Schluss der Erzählung umschreiben, da sie – wie sie in einem Schreiben an Bernhard erläuterten – den vollzogenen Selbstmord Korns als Schluss nicht gelten lassen wollten. 12 Die von Bernhard selber bevorzugte Schlussversion hätte den Suizid an den Schluss gestellt: „Er zieht sich ruckartig auf den Baum, steckt den Kopf in die Schlinge und lässt sich fallen. Marie steht am Fenster und wartet.“ 13 Statt, wie es für den Erzählverlauf konsequent gewesen wäre, endet die Erzählung in der publizierten Fassung nun nicht mehr mit dem Selbstmord von Korn, sondern mit einem künstlich aufgesetzten Auferstehungsmotiv: „Von allen Seiten hört er die Osterglocken. Sie läuten, läuten, läuten!“ 14

Dasselbe Muster gescheiterter Verständigung im Rahmen einer mimetischen Perspektive spielt sich in der Rezeption von Bernhards späteren Texten ab, wenn sie – wie die Autobiografien – eine scheinbar außerliterarische, persönlich motivierte Negation des Katholizismus in Österreich abbilden. Erst die Einsicht, dass eine Lektüre von Bernhards Texten einen schwierigen Umweg des verunsicherten Verstehens erfordert, erlaubt den LeserInnen jene Distanz, die auch er und seine (Ich)Erzähler immer wieder gegenüber der erzählten Welt einnehmen. Sie zeigt sich auch in dem von Bernhard konstruierten System der Grenzverwischungen zwischen den Welten des Autors, der erzählenden Ich-Perspektiven im Text und der LeserInnen:

2. Unsichere Identitäten:

Die Texte realisieren eine Unsicherheit in den Beziehungen zwischen Autor, Erzähler-Ich und LeserInnen. Schein und Sein, Lüge und Wahrheit stehen unvermittelt nebeneinander. Die Theatermetapher, ein durchgängiges Motiv in Bernhards Texten, verwirklicht jenen Gegensatz, der sich immer wieder aufhebt und selbst zerstört.15 Immer wieder werden zum Beispiel die Grenzen zwischen Autor und Erzähler-Ich in den sog. ‚autobiografischen’ Texten bewusst im Unklaren gelassen. Die Identitätsbeziehung zwischen beiden, wie sie für LeserInnen einer Autobiografie selbstverständlich erscheint, wird verunsichert und aufgehoben. Ein Beispiel: Im zweiten Band der Pentalogie Der Keller folgt auf eine Schlüsselpassage, in der die Ich-Figur Bernhards ihren rigorosen Willen zur Wahrheit formuliert („Aber man darf nicht aufhören, ihnen die Wahrheit zu sagen …“ 16), eine Reflexion, die diesem „Wahrheitswillen“ seine Grundlage entzieht: Der Versuch, Wahrheit mitzuteilen, gerät automatisch zur Lüge, weil alles Mitgeteilte nur Fälschung sein kann. „Der Wille zur Wahrheit ist, wie jeder andere, der rascheste Weg zur Fälschung und zur Verfälschung eines Sachverhalts.“17 Hier kommt jenes Stilprinzip zum Tragen, das sowohl die Figuren als auch die LeserInnen Bernhards in eine Verunsicherung ihrer Beziehung zur fiktionalen Welt seiner Texte führt: die unvermittelte Gegenüberstellung von gegensätzlichen Aussagen. Die zitierte Passage ist nur eine unter vielen – allerdings eine Schlüsselpassage, weil sie den unbedingten Wahrheitswillen, den alle Icherzähler der fünfteiligen Autobiografie für sich beanspruchen, in sein Gegenteil kippen lässt – in die Fälschung wie Verfälschung von Sachverhalten. Diese Aussage wird wiederum von der Ich-Figur im dritten Band, Der Atem, als Zitat 18 aufgegriffen und verneint. Sie sagt über sich selbst – den „Schreiber“: „Es sind ihm und also auch dieser Schrift, wie allem und allen Schriften, Mängel, ja Fehler nachzuweisen, niemals jedoch eine Fälschung oder gar eine Verfälschung, denn er hat keinerlei Ursache, sich auch nur eine solche Fälschung oder Verfälschung zu gestatten.“19 Der Icherzähler in „Der Atem“ greift hier wörtlich die vom Icherzähler des Keller gebrauchte Wendung „Fälschung und Verfälschung“ wieder auf und weist dessen Schlussfolgerung für sich zurück. Wobei Thomas Bernhard in den spielerischen Widerspruch der beiden Erzähler-Ich ein Missverständnis eingebaut hat: Bezeichnete das ‚Keller-Ich’ „Fälschung“ auf der Ebene einer grundsätzlichen Überlegung als inhärentes Merkmal jeder sprachlichen Mitteilung, so meinte das ‚Atem-Ich’, diese „Fälschung“ als bewusste, subjektive Strategie des Schreibenden für sich ausschließen zu können.

Thomas Bernhard inszeniert in vielen seiner Texte eine distanzierte Reflexion von verschiedenen, ja gegensätzlichen Facetten des Ich, indem er polare Figurenpaare entwickelt (z.B. im Roman Frost den Maler und den Famulanten, ebenso aber die – offensichtlich verfeindeten – Brüder: den Maler und dessen Bruder, den Assistenten, der den Famulanten mit der Beobachtung seines Bruders beauftragt hat) ebenso aber auch, indem er gegensätzliche Strebungen innerhalb eines Ich entwirft (so etwa wenn der Ich-Erzähler in Die Kälte sich zunächst in die „Hoffnungslosigkeit verliebt“ und zwei Seiten später seinen „Standpunkt wieder am radikalsten geändert“ hat 20). Die distanzierende Auseinandersetzung mit dem Selbst – wobei die Grenze zwischen dem eigenen Selbst und dem eines Anderen zumeist spielerisch aufgehoben ist – bildet das Zentrum der Ästhetik in seinen Texten und ist somit Ästhetik wie Antiästhetik zugleich, da sie Wahrnehmung ermöglicht und verhindert.

3. Gegensatzkunst:

Thomas Bernhards Texte bewegen sich auf verschiedenen Ebenen des Schreibens, der „écriture“ im Sinne von Roland Barthes: Die Verunsicherung des Verstehens im literarischen Code von Thomas Bernhards Texten führt – wie gezeigt – zu einer Verunsicherung der Grenzen zwischen den traditionell unterschiedenen Identitäten von Autor, Erzähler-Ich und LeserInnen. Erkenntnisskepsis entwickelt sich zur Skepsis gegenüber einer geschlossenen Identität des Selbst und in weiterer Folge zu Sprachskepsis. Die Pentalogie greift einen traditionellen Topos von literarischen Autobiografien auf: die Wahrheitsbehauptung. Allerdings entfaltet Bernhard eine von dieser literarischen Tradition abweichende Strategie, indem er gegensätzliche Behauptungen innerhalb eines scheinbar einheitlichen literarischen Diskurses einander unvermittelt gegenüberstellt und somit die autobiografisch verbürgte Wahrheitsbehauptung aufhebt. Die Autobiografie wird durch diese Art der Codierung zum fiktionalen Text, so wie Bernhards Romane in vielen Passagen autobiografisch anmuten. Er treibt diese literarische Codierung skeptischen Denkens noch weiter, indem er seine Texte in verschiedene Sprech- und Schreibperspektiven ausdifferenziert, diese Perspektiven jedoch wiederum in spielerisch-ironischer Weise uneigentlich werden lässt. Thomas Bernhards frühe wie späte Prosa zeichnet eine ausgesprochene Vorliebe für den Text im Text aus: In der Höhe, der Roman Frost und Amras arbeiten mit der Aufzeichnungs- und Brieffiktion, in Korrektur wird die Herausgeberfiktion des Roithamer-Nachlasses entfaltet, Auslöschung spielt mit der Aufzeichnungsfiktion, die für die LeserInnen als Text im Text, aber auch als Text des Textes (d.h. identisch mit dem Gesamttext des Romans) erscheinen kann. 21

Die Zuspitzung und Übertreibung der Standpunkte führt den literarischen Diskurs in den unvermittelten Gegensatz. Jedoch ist diese Gegensatzkunst niemals nur ästhetisches Spiel um seiner selbst willen. Vielmehr wird sie von Thomas Bernhard als künstlerischer Reflex einer existentiellen Erfahrung ausgewiesen: „Ich liebte den Gegensatz, wie ich auch heute vor allem den Gegensatz liebe (…), der Gegensatz zwischen allen diesen salzburgischen Unvereinbarkeiten meiner Jugend hat mich gerettet“ 22. Und die in der literarischen Fiktion geübte Kunst der Übertreibung kann wiederum zum Aushalten der Gegensätze führen, wie das aufzeichnende Ich des gleichnamigen Romanes, Franz Josef Murau, in seiner Schrift ‚Auslöschung’ festhält – weshalb in seinen Augen „der Schriftsteller, der nicht übertreibt, ein schlechter Schriftsteller ist, wobei es ja auch vorkommen kann, dass die eigentliche Übertreibungskunst darin besteht, alles zu untertreiben“ 23.

Erster Schritt: „Wie in der Hölle, also auch auf Erden“ – die katholische Religion als Ort der Verzweiflung.

Das Verhältnis Thomas Bernhards zum Katholizismus lässt sich nicht adäquat erfassen, ohne die für sein Werk spezifischen literarischen Transformationen der katholischen Religion zu analysieren. Bernhards literarische Rekonstruktion seiner Kindheit spiegelt eine Ambivalenz im eigenen Verhältnis zur katholischen Religion, von der auch seine frühen literarischen Texte geprägt sind: Er ist einerseits in einer fraglos katholisch geprägten Umwelt 24, andererseits in einer dem Katholizismus kritisch gegenüber stehenden Familie 25 aufgewachsen. Die sonntäglichen Rituale beim Hippinger, also auf dem Bauernhof, wo Bernhards Familie in Seekirchen lebte, wurden selbstverständlich mit vollzogen. „In aller Frühe wurde in die Kirche gegangen.” Seine Mutter bezeichnet der Icherzähler in Ein Kind als gläubig, aber nicht katholisch, „was bei ihrem Vater, meinem Großvater, nicht möglich gewesen wäre, der vom Katholizismus seine vernichtende Meinung hatte.“ Sein Großvater unterhielt dennoch während der Jahre in Seekirchen freundschaftliche Beziehungen zu einem Priester des Stiftes, dem Prälaten Freiherr Franz im Thurn.26 An diesen gebildeten, liberal gesinnten Priester als Vorbild lässt die Figur des Pfarrers Zephyrin Kiderlen in der frühen Erzählung Der Untergang des Abendlandes 27 denken. Als ambivalent schildert der Icherzähler von Ein Kind auch seine Einstellung gegenüber der katholischen Liturgie, die er Sonntag für Sonntag mit vollziehen musste. Ihn „schauderte“, und dennoch fragte er sich: „Vielleicht war das das Höchste, von dem mein Großvater gesprochen hatte?“ 28

Die ablehnende Haltung von Thomas Bernhards Icherzählern in den vier anderen autobiografischen Texten 29 gegenüber dem Katholizismus hat Bernhard-InterpretInnen immer wieder zur Annahme eines schroffen Bruches in seinem Verhältnis zur katholischen Kirche und zu ihren Repräsentanten seit den sechziger Jahren verleitet. Die Stilform der Übertreibung, wie er sie eben auch in den autobiografischen Erzählungen anwendet, hat jedoch in keiner Weise Bernhards differenziertes Wahrnehmen getrübt; Indiz dafür ist eine in ähnlicher Form wie Kiderlen positiv gezeichnete Priestergestalt im Roman Auslöschung: Spadolini, ein römischer Priester und Freund von Murau, verkörpert neben seinem Schüler Gambetti für Murau die rettende neue Familie, die er in Rom gefunden hat, und steht im Gegensatz zur Geisteshaltung seiner Herkunftsfamilie – auch wenn er mit Muraus Mutter befreundet war. 30

Diese selbe Ambivalenz wiederholt sich noch einmal am Ende von Thomas Bernhards Leben: Sie spiegelt sich in den beiden sehr unterschiedlichen Begräbnis- und Abschiedsritualen der Familie einerseits und einiger Freunde andererseits, die nach Bernhards Tod vollzogen wurden. Auch hier scheint die ‚wirkliche’ Welt der Suggestionskraft seiner literarischen Welt erlegen zu sein. Das von der Familie ausgerichtete Begräbnis am 16.2.1989 findet auf dem Friedhof in Wien-Grinzing in aller Stille statt. Anwesend sind nur Bernhards Vormund Emil Fabjan, sein Halbbruder Peter Fabjan, der im Sterben bei ihm war, seine Halbschwester Susanne Kuhn, der Friedhofsverwalter und vier Totengräber; kein Priester. Vier Monate später, am 16.6.1989 wird von seinem Freund Msgr. Cesare Zacchi 31 in der katholischen Stadtpfarrkirche Gmunden eine Seelenmesse für Thomas Bernhard zelebriert. Dabei werden zwei der berühmten Neun Psalmen aus Auf der Erde und in der Hölle 32 vorgetragen. Im Folgenden soll an drei Beispielen Thomas Bernhards literarische Transformation der katholischen Religion dargestellt werden:

Naheliegende, immer wieder besprochene Belege für den ‚religiösen’ Thomas Bernhard finden sich in seiner Lyrik. Die bekanntesten Beispiele für die Dominanz religiöser Inhalte in dieser frühen Phase von Bernhards Werk sind die Gedichtsammlung Auf der Erde und in der Hölle (1957) mit den bereits genannten „Neun Psalmen“, ist aber auch die Sammlung In hora mortis (1958). Sie sind aufgrund der Häufigkeit und Eindringlichkeit ihrer religiösen Motive immer wieder unter dem Etikett ‚religiöse Lyrik’ besprochen worden. Eine Auswahl aus diesen Texten findet sich in einer Sammlung ‚literarischer Psalmdichtungen’, die der Theologe Paul Konrad Kurz herausgegeben hat. 33 Darüber hinaus ließe sich noch die 1959/1960 entstandene, weitgehend unbekannt gebliebene Gedichtsammlung Frost nennen. Frost wurde – ebenso wie die beiden genannten Gedichtbände – von Thomas Bernhard beim Salzburger Otto Müller Verlag eingereicht, allerdings nicht publiziert. 34 Ein von Bernhard handschriftlich paginiertes und korrigiertes Typoskript war für längere Zeit beim Verlag archiviert gewesen. 35 In Frost ist der Motivkanon religiöser Lyrik nicht so dominant wie bei In hora mortis, und wo explizit religiöse Bilder oder Symbole vom lyrischen Ich angesprochen werden, sind sie in einer noch wesentlich stärkeren Form verfremdet und gebrochen. 36 Ich möchte hier auf eine nähere Beschäftigung mit dem lyrischen Werk verzichten und konzentriere mich auf die frühe Prosa, den Roman Frost sowie die autobiografischen Erzählungen.

1) Die frühe Prosa:

Die bereits erwähnte Erzählung Der Schweinehüter, erschienen 1956 in der von Hans Weigel herausgegebenen Sammlung Stimmen der Gegenwart, wurde in mehreren Kritiken als Bruch mit der idyllisierenden Stimmung der früheren Texte sowie als Vorläufer des Romans Frost (1963) und der Ereignisse (1963) 37 beurteilt. Der präzisen Schilderung sozialen Elends ist unvermittelt die Existenzerfahrung der Hauptperson gegenübergestellt: Der Hilfsarbeiter Korn erfährt in der identifizierenden Beobachtung des von ihm zum Schlachten gezüchteten Schweines, wie sehr seine eigene Existenz mit der des verachteten, von ihm selbst gequälten Geschöpfes verknüpft ist. Als sein einziger Reichtum, das Schwein, am nächsten Morgen verendet ist, will Korn seinem verpfuschten Leben ein Ende machen. Während er nach einem Baum sucht, um sich zu erhängen, sieht er in einer Vision zwischen zwei Bäumen ein Kreuz, an dem ein lebendiger Mensch festgenagelt ist: „es ist Jesus Christus der Gottessohn, der qualvoll versucht, seine Hände vom Pfahl zu reißen (…) keiner kommt, dem sterbenden Menschen zu helfen“ 38. Da wirft Korn seinen Strick weg und läuft auf den Gekreuzigten zu. Die Identifikation mit dem gekreuzigten Christus, die Erkenntnis, ihn retten zu müssen, da es kein Anderer tun wird, führt zu seiner eigenen Rettung. Und am Schluss des Textes heißt es: „Von allen Seiten hört er die Osterglocken“ – mit diesem letzten Satz wird die Erzählung in den Rahmen eines christlichen Auferstehungsdenkens gestellt. Das Läuten der Osterglocken aber bleibt gegenüber dem desillusionierenden Erzählduktus des Gesamttextes und gegenüber der existentiellen Verzweiflung des Protagonisten unvermittelt und erzeugt einen künstlichen Anschluss an die kirchlich geprägte Motivtradition der Auferstehung. Es bleibt auch ohne Verbindung mit dem bisherigen Duktus des Erzähldiskurses, der Korn über vorgeprägte soziale Grenzen hinausgeführt hat: „(…) jenseits der Bahnen und Häuser, jenseits aller Kirchen und Gotteshäuser, jenseits allen Betruges und aller Habgier.“ 39 Ein solch explizit kirchlich-religiös geprägtes Erlösungsdenken findet sich in der späteren Erzählprosa von Thomas Bernhard nicht mehr. Was von ihr jedoch weiter entwickelt und sogar verstärkt wird, ist der zentrale Gedanke dieser Erzählung: Ort einer existentiellen Erfahrung, wenn sie denn stattfindet, ohne Lüge und Konvention zu sein, ist die Situation tiefer Verzweiflung des Menschen. Und Spuren – nicht einer Erlösung, wohl aber – einer möglichen Linderung existentieller Verzweiflung finden sich auch in der späteren Prosa Thomas Bernhards wieder – immer jedoch in schroffer Abgrenzung gegenüber kirchlich geprägten Traditionen.

2) Der Roman Frost

Diese schroffe Abgrenzung praktiziert in einer übersteigerten Form die Hauptfigur im Roman Frost. Der Maler Strauch erinnert sich in einem seiner vom Icherzähler des Romans wiedergegebenen Monologe an seine Hilfslehrerzeit, an seine damaligen Experimente mit dem Einnehmen von Schlaftabletten und führt über locker aneinander gefügte, assoziative Gedanken zu einem unvermittelt ‚herunter gebeteten’ Vaterunser, in dem alle sieben Bitten und alle weiteren Aussagen des Gebetes konsequent in ihr Gegenteil verkehrt sind:

„Vater unser, der du bist in der Hölle, geheiligt werde kein Name. Zukomme uns kein Reich. Kein Wille geschehe. Wie in der Hölle, also auch auf Erden. Unser tägliches Brot verwehre uns. Und vergib uns keine Schuld. Wie auch wir vergeben keinen Schuldigern. Führe uns in Versuchung und erlöse uns von keinem Übel. Amen.“

Das verkehrte Gebet endet im Romantext mit der vom Erzähler-Ich referierten Bemerkung des Malers: „’So geht es ja auch’, sagte er.“ 40 Das ‚verkehrte Vaterunser’ steht in einer stilistischen Kontinuität zur frühen Lyrik, in der häufig traditionelle Gebetsformulierungen transformiert werden; es nimmt z.B. Bezug auf den Titel seiner ersten Gedichtsammlung: Auf der Erde und in der Hölle, der bereits die Formel nach den drei ersten Vaterunserbitten variiert und an die Stelle des „Himmels“ die „Hölle“ gesetzt hat. In erster Linie hat das Gebet eine Funktion im Kontext des Romans: Es projiziert die Ängste und die Verzweiflung Strauchs in einen vorgeformten religiösen Text, den er seinen spielerisch-assoziativen Versuchen einer Existenzdeutung unterzieht. Wieder – wie bereits bei Korn im „Schweinehüter“ – wird Religion im Raum existentieller Verzweiflung erfahren. In welcher Weise der literarische Text den religiösen Text oder das religiöse Bild transformiert, wird nicht von außerliterarisch-ideologischen Beurteilungen des Autors bestimmt. Denn wie in vielen anderen Passagen seiner Prosa stellt Bernhard auch in dieser Vaterunser-Passage ganz bewusst eine Distanz zum Inhalt des Erzählten her, indem er es als durch den Ich-Erzähler erzählten Monolog des Protagonisten wiedergibt. Die Struktur der intertextuellen Beziehung zwischen literarischem Text und Gebet ist zum einen durch die Autointertextualität des Selbstzitates gebrochen. Zum andern folgt sie den inneren Gesetzmäßigkeiten des literarischen Textes – in diesem Fall des Monologes von Strauch, der seine Existenz in den verschiedenen Spielformen der Verzweiflung beschreibt: von seinen Experimenten mit Schlaftabletten 41 über das Bild des Lebens in einer Einzelzelle und die Vision vom Überschwemmtwerden durch die Masse der Kraftwerksarbeiter 42 bis zum umgekehrten Vaterunser. Keines dieser Elemente steht für sich, jedes bestärkt und steigert das vorangegangene und hebt es gleichzeitig durch Übersteigerung wieder auf. Und erst in dieser diskursiven Gesetzmäßigkeit gegenseitiger Steigerung und Übersteigerung werden sie zu einer literarisch authentischen Beschreibung der inneren Welt des Malers Strauch. Das Vaterunser korrespondiert aber auch mit der darauf folgenden Passage, in der der Icherzähler Strauchs Beziehung zum Pfarrer von Weng beschreibt: Wie selbstverständlich widersprechen sich dessen wertschätzende, einfühlsame Beschreibung des Pfarrers und seine eindeutige Ablehnung des „Kirchenapparats“. 43

3) Die autobiografischen Erzählungen:

In Bernhards autobiografischer Pentalogie findet sich eine Vielzahl von negativen Äußerungen zum obstinat so bezeichneten und nicht näher beschriebenen ‚Katholizismus’. Ich greife als Beispiel nur eine heraus: eine längere Passage aus der zuletzt erschienen Erzählung Ein Kind (1982), in der der Ich-Erzähler ausführlich das Verhältnis seines Großvaters zum Katholizismus und – davon abgeleitet – die Glaubenseinstellung seiner Mutter charakterisiert. Von der Mutter sagt er: „Sie hatte eine Religion für sich, naturgemäß nicht die katholische, was bei ihrem Vater, meinem Großvater, nicht möglich gewesen wäre, der vom Katholizismus seine vernichtende Meinung hatte.“ 44 Diese unterschiedlichen Positionen der wichtigsten Bezugspersonen seiner Kindheit sieht der Ich-Erzähler nicht als isolierte individuelle Entscheidungen, sondern versteht sie eingebettet in die Lebenssituationen und Lebensentscheidungen der beiden. Wobei die Lebensentscheidung der Mutter wiederum für ihn in Abhängigkeit, ja in einer Form von Gegenabhängigkeit von der ursprünglicheren, der Lebensentscheidung des Großvaters getroffen wurde 45: Johannes Freumbichlers Leben war – aus der Perspektive des Bernhard’schen Erzähler-Ich – ein radikaler Gegenentwurf zur bürgerlichen Welt. Hertha Bernhard „suchte, um sich behaupten zu können, Halt in der Normalität.“ 46 Sie wünschte sich ein ‚normales’, bürgerliches, wenigstens kleinbürgerliches Familienleben, das im Zusammenleben mit Freumbichler allerdings unmöglich war. Der familiäre Alltag geriet unter diesem „Despoten“, wie ihn der Ich-Erzähler charakterisiert, zum „Drahtseilakt“ über einem „tödlichen Abgrund“. 47 Der anarchistische Lebensentwurf eines Großvaters, der gleichzeitig als autoritärer Patriarch die Familie regierte, auf der einen und die Sehnsucht der Mutter nach Geborgenheit in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf der andern Seite – in diesem Koordinatensystem entwickelte sich die religiöse Weltanschauung des jungen Thomas Bernhard, wie sie der Erzähler des 1982 entstandenen Textes erinnerte. Der jugendliche Ich-Erzähler gab (natürlich) dem rebellischen Lebensentwurf des Großvaters den Vorzug. Welche Formen die Überidentifikation mit dem „Gedankenanarchismus“ Freumbichlers beim jungen Bernhard annahm, schildert er allerdings mit einer gehörigen Portion Ironie, indem er das Gedankenexperiment von der Sprengung einer Eisenbahnbrücke bei Traunstein in allen (un)möglichen Details ausmalt. 48 Was das poetische Universum des Schriftstellers Thomas Bernhard betrifft: Die katholisch geprägte Religion bleibt ein wesentliches Bezugsfeld für die literarisch dargestellte Religiosität in seinen Texten. Von den frühesten Gedichten bis zum letzten Roman Auslöschung bleibt deren Darstellung in der Ambivalenz zwischen der Negation eines katholisch vorgeprägten, ritualisierten, sinnentleerten Glaubensvollzuges und der Suche nach einem individuellen, der ganz eigenen Leidenserfahrung entsprechenden Glaubensausdruck.

Eine Schlüsselpassage für diese Suche nach einem individuell formulierten Glauben findet sich im dritten Band der Pentalogie, Der Atem. Die Erzählung dieses Bandes setzt an einem für die Biografie Bernhards wesentlichen Punkt ein: 1949 war – jedenfalls für den Erzähler seiner autobiografisch sich darstellenden Texte – das Jahr einer entscheidenden, katastrophalen Wende im Leben des Achtzehnjährigen. In dieses Jahr fiel zum einen die Krankheit und der Tod seines Großvaters, des „einzig wirklich geliebten Menschen“ 49, wie ihn das Erzähler-Ich im dritten autobiografischen Text benennt. „Er war mein einziger von mir anerkannter Lehrer gewesen“ 50, heißt es von ihm schon in der Ursache, „und in vieler Hinsicht ist das bis heute so.“ 51 Zum andern begann im Jahr 1949 mit einer lebensbedrohlichen Rippfellentzündung seine eigene Krankheitsgeschichte und Leidenserfahrung, deren Perspektive zum dominanten Thema in Bernhards literarischer Welt geworden ist. Die Passage, um die es mir geht, spielt im Landeskrankenhaus Salzburg, in dem sich gerade beide – Großvater und Enkel – aufhalten. Der Ich-Erzähler hatte sich nach einer lebensbedrohlichen Phase seiner Erkrankung wieder etwas erholt; er war in der Lage, seine nähere Umgebung, das Krankenzimmer, zu beobachten und mit seinem Großvater zu sprechen. In mehreren Abschnitten schildert er den Krankenhausgeistlichen und das Ritual der „letzten Ölung“, das dieser an den Sterbenden oder bereits Gestorbenen im Krankenzimmer vollzieht. Für Bernhard ist dieses Ritual ein abstoßender Ausdruck der gedankenlosen Abschiebung von leidenden und sterbenden Menschen in eine endgültige Zone des Todes – „eine pervers katholische Schmierendarstellung“ 52. Auf die Schilderungen dieser Sakramentenspendungen folgt eine Passage, in der Johannes Freumbichler im Gespräch mit seinem Enkel eine groß angelegte Reflexion über den Sinn ihrer gemeinsamen Krankheit, ihres gemeinsam zu erduldenden Leidens ausführt. Die erzählerische Komposition stellt jene Reflexion in schärfsten Gegensatz zu den „letzten Ölungen“, zu dieser ritualisierten Form einer Verdrängung von Tod und Leiden, wie sie von einer katholisch geprägten Gesellschaft vollzogen wird und automatisch zur Verachtung der von Tod und Leiden betroffenen Menschen führt. Der Großvater stellt mit seiner Reflexion die Selbstachtung der Leidenden wieder her, indem er einen schwierigen Balanceakt vollführt: Er gibt seinem Enkel wieder Hoffnung, ohne ihm etwas über den Ernst seiner Lage vorzumachen. Er spricht mit ihm über künftige gemeinsame Spaziergänge, über die Kunst, die Musik („Er selbst hatte davon gesprochen, dass die Musik meine Rettung sei.“ 53), über die Krankenhauskirche und die dort hängenden Gemälde von Rottmayr, die Orgelmusik in dieser Kirche … Aber diese Gedanken an die Kunst, auch an die Kirche als Kunstwerk, sind nur Hinführung zum eigentlichen Höhepunkt dieser großen Lebensreflexion, die zum Vermächtnis des Großvaters an seinen Enkel wird; denn im Verlauf der Erzählung ist dies das letzte Gespräch, das er vor seinem überraschend eintretenden Tod mit Bernhard führt. Freumbichler deutet das Krankenhaus als existentielle Notwendigkeit, als Leidensort, der zu einem grundsätzlichen Überdenken des eigenen Lebens führe, zu dem man sonst nicht komme. Der Ort des Leidens wird für den Künstler Freumbichler zu einer unbedingten Voraussetzung seines Schaffens, das sich sonst in Oberflächlichkeit verliere. „Und in diesem Denkbezirk erreichen wir, was wir außerhalb niemals erreichen können, das Selbstbewusstsein und das Bewusstsein alles dessen, das ist.“ 54 Der Ort des Leidens als Ort des Künstlers, der in schonungslos der Wahrheit verpflichteter Selbstreflexion sich der im Leiden und Tod sichtbar gewordenen menschlichen Existenz in der Beobachtung ausliefert und im Darstellen verpflichtet – in diesem Vermächtnis des Schriftstellers Freumbichler ist m.E. der Zielpunkt für die religiösen Suche des Schriftstellers Thomas Bernhard formuliert. Jenseits und in Ablehnung aller Verdrängungsversuche des institutionell Katholischen sucht er die Essenz seiner in den Gedichten geäußerten Gottessehnsucht in der Identifikation des erzählenden Ich mit den Menschen, die als dem Leiden und dem Tod Ausgesetzte an einem Punkt ihrer Existenz angelangt sind, wo für Lüge und Vorspiegelung falscher Sicherheiten kein Platz mehr ist. Im Leiden und im Tod leben die Menschen die nackte Wahrheit ihrer Existenz, und diese Wahrheit ist dem Künstler Thomas Bernhard wichtiger als alle Antworten und Sicherheiten einer katholisch ausformulierten Religion.

Zweiter Schritt: „Die Zeit macht aus ihren Zeugen immer Vergessende.“ 55 – das Verdrängen des Nationalsozialismus.

Wie bereits erwähnt liegt der Fokus dieses Textes auf der Wahrnehmung des Nationalsozialismus im Frühwerk von Thomas Bernhard, die in wesentlichen Bereichen mit seiner Auseinandersetzung mit der katholischen Religion in Zusammenhang steht. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, genügt es allerdings nicht, bei der engen Verbindung von Nationalsozialismus und Katholizismus, wie sie von den Ich-Erzählern seiner autobiografischen Werke immer wieder behauptet wurde, stehen zu bleiben: „Wohin wir schauen, wir sehen hier nichts anderes als den Katholizismus oder den Nationalsozialismus und fast in allem in dieser Stadt und Gegend einen solchen geistesstörenden und geistesverrottenden und geistestötenden katholisch-nationalsozialistischen, menschenumbringenden Zustand.“ 56 Ein differenzierender Zugang scheint mir auch deshalb notwendig, weil Passagen wie jene – vor allem, aber nicht nur, zu finden im ersten Band der Pentalogie, Die Ursache – breit rezipiert und diskutiert worden sind. Und er erscheint mir sinnvoll, weil – neben den vielen Missverständnissen und Fehlinterpretationen, die diese Passagen hervorgerufen haben – andere Texte und Textpassagen zu wesentlich fruchtbareren Erkenntnissen für den Zusammenhang von Nationalsozialismus und Katholizismus im Frühwerk von Bernhard führen können. Nochmals ist es wesentlich festzuhalten, dass die literarische Form von Thomas Bernhards Prosa kein eindeutig identifizierbares Erzähler-Ich mehr kennt. Feststellungen zu zeitgeschichtlichen Ereignissen wie der Gewalt und den Massenmorden in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft bringen die Perspektive und den Erfahrungshorizont der jeweils sprechenden Personen zum Ausdruck, ohne direkte Rückschlüsse auf Meinung oder Position des Autors zuzulassen. Wesentliches Element der Sprachform seiner Prosa ist es, dass der Autor Bernhard hinter der Stimme seiner Figuren verschwindet, auch wenn er deren Denk- und Handlungsräume so konstruiert, dass sie große Ähnlichkeiten mit seinen eigenen aufweisen. Diese Verwechselbarkeit schafft Irritation: Weder der Raum des Biografischen noch der der Fiktionalität ist klar definiert. Die LeserInnen können nie mit Sicherheit wissen: Bewege ich mich in der biografischen Erinnerung oder in der literarischen Phantasie des Thomas Bernhard? Auch die Aussagen des lyrischen Ich in den Gedichten sind in einem solch hohen Maß verschlüsselt, dass sie keine Identifikation einer personenbezogenen Erfahrung oder politischen Meinung zulassen. Die Auseinandersetzung Bernhards mit dem Nationalsozialismus steht – wie seine Beziehung zur katholischen Religion – unter dem Vorzeichen einer unmöglich gewordenen Vergegenwärtigung. Sie thematisieren die in der Gegenwart unmöglich gewordene Erinnerung. Das lyrische Ich – vor allem in den Gedichten der Sammlung Frost – kämpft gegen das lähmende Unmöglichwerden von Erinnerung an, während der kurz danach entstandene gleichnamige Roman einen Diskurs des Vergessens und Verdrängens entfaltet hat, wie er für die Diskurse im Österreich der fünfziger Jahre als vorherrschend angesehen werden kann. Das 1963 entstandene Erzählfragment Der Italiener 57 wiederum führt diesen Diskurs des Vergessens in die Nähe einer möglichen Lösung, an einen Ort (die „Lichtung“), wo das Unaussprechliche ausgesprochen werden kann und der Erzähler zum Geschehenen in Beziehung treten kann. Das gesamte Frühwerk stellt dort, wo es auf Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus Bezug nimmt, diese nicht unmittelbar dar, im Sinne mimetischer Vergegenwärtigung, sondern thematisiert in erster Linie die verunmöglichte Bezugnahme, die blockierte Erinnerung, die Sprachlosigkeit seiner Personen. Und erst im Kontext dieser Sprachlosigkeit und der ihr vorausgehenden Bewusstlosigkeit, Erinnerungslosigkeit ist das pointierte Ineinssetzen von Nationalsozialismus und Katholizismus zu verstehen, wie es der Ich-Erzähler der Ursache in sechs Passagen des 100 Seiten umfassenden Buches betreibt. Das katholische Milieu in Salzburg – so die Wahrnehmung des erzählenden Ich – setzt die Identitäts- und Bewusstseinszerstörung des Nationalsozialismus ungebrochen fort und vernichtet die Erinnerung der Gewalt und das Eingedenken der Opfer: „Auf Schritt und Tritt war ich an und in vielen Einzelheiten jetzt auch noch an die nationalsozialistische Ära erinnert, (…) aber in der Geschwindigkeit des Wiederaufbaues des Internats und seiner Einrichtungen waren diese übriggebliebenen Zeichen der mir nichts als bösen Zeit übersehen worden.“ 58 Dies ist die zentrale Aussage jener Passagen – und nicht, wie immer wieder behauptet – eine (historisch nicht haltbare) Ineinssetzung der nationalsozialistischen Ideologie mit dem katholischen Glauben.

Als ‚Topic’59 lässt sich ein zentrales Thema eines literarischen Textes bezeichnen, das im Netzwerk der Bedeutungen, wie es dieser Text generiert, andere Themen anzieht, verarbeitet und transformiert. Ein solcher Topic ist in Bernhards Texten die Erfahrung von Leiden und Tod. Im Konfrontiertsein mit Leiden und Tod stoßen die Menschen – jenseits von Schein und Lüge – zum Wesentlichen ihrer Existenz vor, und eine der zentralen Vermittlungsformen zwischen dem menschlichen Bewusstsein und dieser Existenzerfahrung ist die Erinnerung. Dieser Topic, wie ich ihn bereits im zweiten Schritt als zentral für die Beziehung Bernhards zur katholischen Religion dargestellt hatte, prägt auch seine Wahrnehmung des Nationalsozialismus im frühen Werk. 60 Leiden und Tod werden vom jeweiligen sprechenden Ich zwar als grundsätzliche existentielle Bedingung erfahren, als naturbedingte Endlichkeit und Gebrechlichkeit des Daseins, aber in ebensolcher Intensität werden ihre sozialen wie politischen Ursachen reflektiert und benannt. Leiden und Tod – oder, um den religiösen Begriff zu zitieren, der in Bernhards Lyrik und Prosa fast durchgängig dafür verwendet wird: die „Hölle“ – sind zwar einerseits geschichtslos unwandelbare Orte der unverhüllten Existenzerfahrung. Dennoch werden auch bereits in den Diskursen des frühen Werks unverkennbare Bezüge zu zeitgeschichtlichen Ursachen von Leid und Tod hergestellt: psychische und physische Zerstörung von Menschen durch Gewalt in der Erziehung, Krieg, Unterdrückung und Mord als unmittelbare Folgeerscheinungen nationalsozialistischer Herrschaft tauchen auf in den Leidens- und Todeswahrnehmungen des lyrischen Ich seiner Gedichtsammlungen ebenso wie in den frühen Prosatexten Der Italiener (1964) und In der Höhe Rettungsversuch Unsinn 61 sowie im Roman Frost (1963).

1) Der Roman Frost:

Wie alle Texte Bernhards lässt auch der Roman Frost eine Vielzahl von Lektüren zu und hat mit seiner Vieldeutigkeit eine Fülle verschiedener und widersprüchlicher Interpretationen hervorgerufen. In unserem Zusammenhang interessiert wiederum die Nähe von religiöser Perspektive und Wahrnehmung des Nationalsozialismus. Die Leidensthematik im Roman bildet sowohl eine Kontinuität nach rückwärts – zum lyrischen Werk – als auch nach vorne: zu den weiteren Prosatexten und zu den autobiografischen Erzählungen. Manche Interpreten haben dem Topic „Leiden und Tod“ in Bernhards Werk eine Entwicklungslogik eingeschrieben – so z.B. Alfred Pfabigan, der von einem „Gesamttext“ des Bernhard’schen Werkes ausgeht, innerhalb dessen die „Einzeltexte“ in chronologischer Folge das Leidensthema konkretisieren und dechiffrieren. Pfabigan versteht den „Gesamttext“ als – letztlich geglückte – Erinnerungsarbeit gegen das Vergessen des Nationalsozialismus in Österreich: „Am Ende der von Montaigne und Nietzsche inspirierten ‚Entwicklung’, die Bernhard seine Figuren durchmachen lässt, wird dieses Leid benannt werden und der Autor wird uns lebensmäßige Alternativen anbieten“. 62 In zwei wesentlichen Punkten kann ich diesem Konzept einer dechiffrierenden Entwicklungslogik nicht folgen: Erstens lassen m.E. die starken intertextuellen Bezüge im Werk (z. B. auch die zwischen den Romanen Frost und Auslöschung) keine dechiffrierende Vereindeutigung zu. In dem Ausmaß, wie Bernhard in Auslöschung noch auf der Thematik des Scheiterns insistiert, verbietet es sich, den Text als „geglückte“ Erinnerungsarbeit zu interpretieren. Im Gegenteil: Die ironisierende Verwendung von Selbstzitaten in Auslöschung, wie im gesamten Spätwerk, verstärkt eher noch die Ambivalenz der Bedeutungen. Und zweitens möchte ich der Interpretation Pfabigans von Auslöschung als einem Roman, der den Prozess einer befreienden und gelungenen Aufarbeitung nationalsozialistischer Schuld in der Familiengeschichte beschreibt, deutlich widersprechen. Es gibt keine schlüssigen innerliterarischen Indizien dafür, dass Murau als positiver Gegenentwurf zum Maler Strauch zu lesen wäre. Was an den Überlegungen Alfred Pfabigans jedoch bedenkenswert ist: Im Lichte der Lektüre von Auslöschung wird noch einmal deutlicher, dass die intensive Auseinandersetzung des Malers in Frost mit existentieller Negativität, mit Leiden und Tod auch zeitgeschichtlich begründet ist, dass sich darin die Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus spiegelt.

Wieder ist im Roman Frost das Wort „Hölle“ eine wichtige Metapher, mit der diese existentielle Negativität, der „Schmerz“, benannt wird: Der Maler „sagte: ‚Alles ist die Hölle. Himmel und Erde und Erde und Himmel sind die Hölle. Verstehen Sie? Oben und Unten sind Hier die Hölle! Aber es grenzt naturgemäß nichts an etwas. Verstehen Sie? Es gibt keine Grenze.’“ Die Negativität von Leiden und Tod umfasst in ihrer Entgrenztheit alle sprachlichen Äußerungen, auch die Religion: „Alles Gesagte ist Unsinn. Die Religionen täuschen darüber hinweg, dass alles Unsinn ist, wissen Sie. Das Christentum ist Unsinn. Ja. Als Christentum.“63 Diese Sinnlosigkeit von Existenz wird durch die Alogik in der Biografie der Hauptperson bekräftigt. Auch der Ort der Handlung als Aufenthaltsort des Protagonisten ist letztlich zufällig: Es gebe „viele Gründe, warum der Maler in Weng ist“, sagt der Ich-Erzähler, aber letztlich ist es Zufall. Weng wird beschrieben als ein Ort, „in dem sich die Existenz zusammenziehen kann“, eine „Grabstätte“. Neben der Natur ist es eine zweite, eine zeitgeschichtliche Realität, die den Ort und seine Düsterkeit bestimmt: „der Krieg“: Hier übernimmt der Diskurs des Romanes ein Wort, das im Sprachgebrauch der österreichischen Bevölkerung während der fünfziger und sechziger Jahre zusammenfassend die Zeit des Nationalsozialismus benennt. Gleichzeitig wurden somit aber auch die Shoah und alle anderen Verbrechen im Nationalsozialismus dem „Krieg“ als einziger und Hauptursache zugeschoben. Andere Ursachen und damit andere Schuld- und Verantwortungszusammenhänge blieben ungenannt und wurden oftmals geleugnet. „Der Krieg“ ist ein häufiges Thema in den Gesprächen am Stammtisch von Weng und spielt bei der Initiation des Famulanten, also des Ich-Erzählers, in die Welt von Leiden und Tod eine wesentliche Rolle. So macht Strauch dem Famulanten klar: „Alles, jeder Geruch, ist hier an ein Verbrechen gekettet, an eine Misshandlung, an den Krieg, an irgendeinen infamen Zugriff …“64 Strauch thematisiert auch den spezifischen Gegensatz zwischen Zugedecktsein und Aufdecken, wie er den Diskurs des Romanes Frost über Nationalsozialismus und Krieg im ganzen bestimmt: „Wenn das auch alles vom Schnee zugedeckt ist’, sagt er. ‚Hunderte und Tausende Geschwüre, die dauernd aufgehen. Stimmen, die fortwährend schreien.“65 Der Ich-Erzähler in seiner eigenen biografischen Unbestimmtheit gibt über weite Strecken nur die Perspektive Strauchs wieder. Selten wird seine eigene Perspektive thematisiert: Gerade am Beginn einer längeren Erzählpassage über den Krieg, fragt sich der Ich-Erzähler, wie er die „Gedankenfetzen“, die „Ausbrüche“ Strauchs in Sprache übersetzen, wie er sie niederschreiben solle. Er spricht von der Doppelbödigkeit, von „Hölle und Himmel“ seiner Sprache. Wiederum benennt hier der Famulant den Gegensatz von Zugedecktsein und Aufdecken im Zusammenhang mit dem Sprechen des Malers, indem er das Bild von einem „Herausreißen“ der im Sumpf versunkenen Wörter verwendet.66

Einerseits – so Strauch – habe ihm der „Krieg“ ein tieferes Sehen ermöglicht, das Menschen, die ihn nicht erlebt haben, nicht kennen. Andererseits wiederum findet sich in den Monologen Strauchs eine eigentümliche Unbestimmtheit und Verzerrtheit, eine Unkenntlichkeit der Ereignisse, die er andeutet; sie spiegeln die Diskurse der Erinnerungslosigkeit, wie sie die Menschen im Ort führen. Der Wasenmeister z.B. spricht von den Verbrechen, die damals geschahen, und zählt nur Verbrechen auf, die von entlassenen Häftlingen (vermutlich KZ-Häftlinge) an den Einheimischen und von den Einheimischen an einander begangen wurden – es werden keine Verbrechen der Nationalsozialisten genannt! Er erzählt auch von einem Massaker, das an ungefähr 100 jungen deutschen Soldaten begangen worden war. Die Schuldfrage wird zwar angesprochen, bleibt aber ganz unbestimmt: „(…) man weiß nicht, wer sie erschossen hat. Man vermutet, französische Maschinengewehre …“67 Es heißt nicht einmal: ‚französische Soldaten’; nur die Waffen werden benannt: „französische Maschinengewehre“. Die Soldaten der Wehrmacht, die es zu Kriegsende nach Weng verschlagen hatte, werden auch von Strauch explizit von jeder Schuld ausgenommen, das Morden wird an anonyme, entpersonalisierte Instanzen abgeschoben: „’Und an Mord dachten die Soldaten nicht’, das, nämlich der Mord, sei ein Handwerk ‚für die dunklen Elemente aus dem Osten gewesen’.“68

Der Roman Frost thematisiert das große Tabu der österreichischen Nachkriegsgesellschaft: Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden nicht konkret benannt, sondern nur verallgemeinernd umschrieben. Damit kann auch die Frage nach Verantwortung und Schuld konkreter Personen und Personengruppen ungestellt und unbeantwortet bleiben. Aber Bernhard thematisiert das Tabu nicht, um es dann selber – als auktorialer Erzähler – zu durchbrechen. Er thematisiert es auch nicht, indem er es einzelne Personen im Roman brechen ließe. Das vergangene Geschehen bleibt im gesamten Romandiskurs ungefähr und mehrdeutig, das Tabu bleibt tabu. Der Romandiskurs realisiert somit in seiner Sprache eben jenen Widerspruch, der die Rede der österreichischen Nachkriegsgesellschaft vom Nationalsozialismus beherrscht hat: Er redet ständig über „Krieg“ und „Verbrechen“, doch konkrete Vorgänge und schuldige Personen zu benennen, vermeidet er.

2) Frost und die österreichische Nachkriegsliteratur:

Der Roman Frost hat – nach der relativen Erfolglosigkeit seiner Lyrik – Thomas Bernhard zum literarischen Durchbruch verholfen. Carl Zuckmayer sprach in seiner hymnischen Besprechung in der Wochenzeitung Die Zeit von einer „der stärksten Talentproben“ seit Peter Weiss; er sieht Anklänge an etwas, „was wir nicht kennen und wissen, was wir mit Erlebtem, Erfahrenem, auch mit literarischen Vorbildern, kaum vergleichen können (…)“. 69 Obwohl auch die übrige zeitgenössische Kritik dem Autor „unverwechselbare Originalität“ 70 bescheinigte, taucht bei näherem Hinsehen eine erstaunliche inhaltliche wie motivgeschichtliche Nähe zu Hans Leberts drei Jahre zuvor veröffentlichtem Roman Die Wolfshaut 71 auf. Beide Romane spielen in der österreichischen Provinz und schildern in einer ähnlich schonungslos realistischen Darstellungsweise das Leben in einem Dorf der Nachkriegszeit. Personenbeschreibung und Naturdarstellung erzeugen in beiden Romantexten einen Kosmos bedrohlicher Negativität; auch die provokant metaphorische Namensgebung für die beschriebenen Dörfer zeigt die thematische Ähnlichkeit der beiden Texte auf: „Schweigen“ in der Wolfshaut, „Weng“ in Frost. Die wichtigste Parallele jedoch besteht in der zentralen Thematik beider Romane: dem Verdrängen der Verbrechen und Traumata des Nationalsozialismus. Der Herausgeber der Neuausgabe der Wolfshaut von 1991, Jürgen Egyptien, hat in seinem Nachwort die religiös-gnostische Symbolik des Textes in den Vordergrund gestellt und die dort geschilderten Folgen des Nationalsozialismus lediglich als eine mögliche geschichtliche Ausformung des Bösen sehen wollen. 72 Ich möchte – in Übereinstimmung mit anderen LeserInnen 73 – an der Verdrängung des Nationalsozialismus als zentralem Thema festhalten – zumal es dieses Thema ist, um das sich Thomas Bernhards Interesse an diesem Roman sowie die mittlerweile bedeutende Wirkungsgeschichte der Wolfshaut in der gesamten österreichischen Literatur zentriert hat.

Das Verdrängen des Nationalsozialismus führt zu einer „Verformung der sozialen Welt der Dörfer, die den Handlungsraum in beiden Romantexten abstecken. Beide Texte verwenden eine auf groteske Weise verzerrt und übersteigert gezeichnete Natur als Metapher. Die Deformation des sozialen und politischen Lebens spiegelt sich in den expressionistischen Naturschilderungen der Texte wider. Bei Thomas Bernhard: Die Welt von Weng ist im „Frost“ erstarrt bzw. „unter der bläulichen Totenstarre des Eises“ 74 begraben. Bei Hans Lebert: Im Verlaufe der Untersuchungen, die der Matrose Johannes Unfreund zum Selbstmord seines Vaters anstellt, ergießt sich über sein Heimatdorf Schweigen ein 99 Tage andauernder Landregen, der die ganze Umgebung des Dorfes in eine „tiefbraune Matschsuppe“ 75 verwandelt. Diese Metaphorisierung von Natur hat bei den „Antiheimatromanen“, die die jüngere Generation österreichischer AutorInnen im Gefolge von Die Wolfshaut und Frost verfasst hat, ihre Fortsetzung gefunden: Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten greift verschiedene Formelemente der Wolfshaut wieder auf, u.a. eben die obsessive Naturmetaphorik. Ist es bei Jelinek das Wasser und die Verflüssigung 76, so entwirft Christoph Ransmayr in seinem Roman Morbus Kitahara eine versteinerte Gebirgslandschaft als Hintergrund für seine dörfliche Nachkriegswelt. 77

Eine weitere Ähnlichkeit besteht zwischen zwei zentralen Figuren der Romane: zwischen dem Fotografen Maletta in der Wolfshaut und dem Maler Strauch in Frost; beide durchlaufen im Verlaufe des Romanes eine persönliche Krise, die sich in einer teilweisen Auflösung ihrer Persönlichkeit und in selbstdestruktiven Tendenzen äußert. Ihr Verhältnis zu den nationalsozialistischen Verbrechen der Vergangenheit ist von einer Ambivalenz zwischen Abscheu und Identifikation geprägt. Beide sind „bildende Künstler“; sie entwerfen in ihren Monologen expressive Bildwelten, die das Grauen der Vergangenheit bannen sollen, und scheitern damit. Darüber hinaus sind beide Figuren in beiden Romanen ‚gedoppelt’; ihnen ist ein ‚besseres Ich’, ein Doppelgänger zur Seite gestellt, der ihr Scheitern relativieren und in Frage stellen soll. Bei Maletta ist es der Matrose Unfreund, bei Strauch ist es der Famulant, der einen Bericht über den Maler abfassen soll. Die Parallelen zwischen beiden Romanen wurden – v.a. nach der Neuauflage des Romans im Europa-Verlag 1991 – mehrfach hervorgehoben. 78 Wendelin Schmidt-Dengler hat die beiden – zusammen mit anderen österreichischen Autoren – unter dem Begriff der „Antiidylle“ zusammengefasst. 79 Was dieses Konzept eher verschleiert als darstellt, ist, dass es in beiden Romanen um eine Auseinandersetzung mit der „Politik des Verschweigens“ im Österreich der Nachkriegsjahre gegangen ist und davon auch die Wahl des Sujets („Antiheimatliteratur“) bestimmt wurde. Wichtig scheint mir auch, auf die Unterschiede zwischen beiden Texte hinzuweisen, die trotz aller Nähe bestehen; der wichtigste liegt zweifellos in der Erzählform: Während Lebert – bei aller Expressivität – eine Geschichte erzählt, die mit der Durchlässigkeit (dem „Transparentismus“ 80) zwischen verschiedenen klassischen Romangenres (Kriminalroman, Gespenstergeschichte, mythologischer Roman) spielt, zeigt Frost alle bereits charakterisierten Merkmale der Bernhard’schen Antiästhetik: Irritation des Verstehenshorizontes, Verunsicherung der Lektüre und Aufhebung der Identitätsgrenzen zwischen Autor und Figuren. Bezeichnend für dieses von Bernhard intendierte Nicht-Verstehen ist eine späte Äußerung Hans Leberts zu dessen Roman: Ich hab’ damals Frost zu lesen begonnen, dann hat’s mich gelangweilt.“ 81

Im Erscheinungsjahr des Romanes Frost, 1963, schrieb Thomas Bernhard ein Prosafragment, das sich ebenfalls mit den Verbrechen des Nationalsozialismus sowie mit der österreichischen Kultur des Verschweigens beschäftigt: Der Italiener 82. Am Vorabend des Begräbnisses seines Vaters, der Selbstmord begangen hatte, vertraut der Erzähler einem italienischen Gast die bisher verschwiegene Geschichte des „Lusthauses“ auf dem Grundstück seiner Eltern an: Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren dort polnische Soldaten versteckt oder gefangen und wurden von deutschen Soldaten ermordet. Der Vater liegt im selben „Lusthaus“ aufgebahrt, das somit von einem Ort der Kindheitserinnerungen zum „Schlachthaus“ und schließlich zum Ort des Todes wurde. Die Erzählung ist in den Verlauf eines kurzen Spazierganges eingebaut, den der Erzähler mit dem Italiener am Vorabend des Begräbnisses unternimmt. Dabei kommen sie an eine Waldlichtung, die für ihn die Erinnerung an die Morde wieder wachruft; als sie die Lichtung überschreiten, beginnt er zu erzählen: „Ich sagte, dass ich, an dem Mordtag, das Schreien der Polen vom Lusthaus in mein Zimmer herüber gehört habe.“ 83 Der Italiener weist in seinem ‚plot’, also in der erzählten Geschichte, noch weitaus deutlichere Parallelen zu Hans Leberts Die Wolfshaut auf als Frost: Im Zentrum beider Geschichten steht der Selbstmord des Vaters, der im Mord an wehrlosen Gegnern des Regimes während der Zeit des Nationalsozialismus seine Ursache hat. Dieser Mord hat an einem für die Hauptperson wichtigen Ort seiner Kindheit stattgefunden, zu dem er nun zurückkehrt, und die tastende Suche nach einem neuen Verhältnis zum Vater liegt der narrativen Dynamik der Texte zugrunde. 84 Thomas Bernhard selber misst diesem kurzen, Fragment gebliebenen Prosastück auch später noch eine zentrale Bedeutung für seine literarische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu. 85 Neben der Rolle, die er als Vorarbeit zum Roman Verstörung 86 spielt, werden Motive des Textes auch im späten Roman Auslöschung wieder aufgegriffen, der die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nochmals in einer end-gültigen Weise zur Sprache bringt. Zentraler Bezugspunkt der Gedanken und Aufzeichnungen des Erzählers, Franz Josef Murau, ist Schloss Wolfsegg, das Bernhard bereits als Drehort für den Film Der Italiener gewählt hatte. Auch das Lusthaus findet sich im Motiv der Nebengebäude des Schlosses, die im Roman eine wichtige Schlüsselrolle im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit spielen. Der Vorabend zum Begräbnis der Eltern und des Bruders von Murau wird ausführlich geschildert; er steht im Zentrum des Romans und führt unmittelbar zur entscheidenden Handlung des Fürsten am Schluss: zur Auslöschung dieses traumatisch besetzten Ortes, indem er ihn der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien zum Geschenk macht.

3) Die autobiografischen Erzählungen:

„Das katholisch-nationalsozialistische Element, die katholisch-nationalsozialistischen Erziehungsmethoden sind aber die in Österreich normalen, die üblichen, die am weitesten verbreiteten und wirken sich also überall ungehemmt auf dieses ganze letzten Endes nationalsozialistisch-katholische Volk verheerend und grausam aus.“ 87 Diese und einige andere Passagen in Thomas Bernhards letztem Roman wirken, als würde Franz-Josef Murau, der Icherzähler des Romans, das erzählende Ich des 11 Jahre zuvor erschienen autobiografischen Textes Die Ursache zitieren. Dort heißt es in beinahe wortgleichen Formulierungen von Salzburg: „Der junge (…) Mensch wird in nichts als in eine katholisch-nationalsozialistische Atmosphäre hineingeboren, und er wächst, ob er es wahrhaben will oder nicht, ob er es weiß oder nicht, in dieser katholisch-nationalsozialistischen Atmosphäre auf.“ 88 Gerade in der Ursache wird diese scheinbare Identifizierung von Katholizismus und Nationalsozialismus obsessiv wiederholt und vom Ich-Erzähler in verschiedenen Kontexten eingebunden, z.B. im Zusammenhang mit der Schilderung der Begräbnisse von Selbstmördern (S.17), wenn sich der Erzähler an Besuche bei der Salzburger Verwandtschaft seiner Großmutter erinnert (S. 41), in seiner Charakterisierung der Stadt Salzburg (S.76ff.), wenn er das Akademische Gymnasium schildert (S. 78f.). Im Zentrum der Erzählung steht aber die Schilderung des Schülerheimes in der Schrannengasse, das Thomas Bernhard während des Krieges und der nationalsozialistischen Herrschaft in Salzburg besuchen musste, und in das er nach Kriegsende und nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft als in ein katholisches Internat zurückkehrte. Bernhard wird nach 1945 wieder Internatszögling dort und beschreibt die oberflächlichen Unterschiede wie auch die tiefer liegenden Kontinuitäten, v.a. in den Erziehungsmethoden, die im Heim auch von den neuen Erziehern angewandt wurden (S. 66ff. und S. 71ff.): „Nun war ich also (…) wieder im Internat, in keinem nationalsozialistischen, in einem katholischen, und es hatte sich für mich zuerst nur in dem Austausch des Hitlerbildes gegen das Christuskreuz und in dem Austausch des Grünkranz gegen den Onkel Franz unterschieden (…) Auf Schritt und Tritt war ich an und in vielen Einzelheiten jetzt auch noch an die nationalsozialistische Ära erinnert“ 89 Das mit Onkel Franz überschriebene Kapitel schildert diesen Wechsel, der für den Icherzähler in Wirklichkeit keiner war. Gerade diese Passage im Text der Ursache hat in exemplarischer Weise die Wechselwirkung der Bernhard’schen Textform mit dem Kontext zeitgenössischer Diskurse deutlich gemacht. Denn im Mittelpunkt der Rezeption von Die Ursache bei ihrem Erscheinen im Jahr 1975 standen nicht ästhetische Fragen (nahegelegen hätten Fragen nach der Erzählform oder nach dem Verhältnis von Fiktion und Faktizität), sondern der Skandal um den von Bernhard im ‚Onkel-Franz-Kapitel’ geschilderten bekannten Salzburger Stadtpfarrer Franz Wesenauer. Wesenauer erkannte sich im Internatsleiter ‚Onkel Franz’ wieder, sah sich durch die Charakterisierung im Buch „persönlich beleidigt“ 90 und beantragte bei Gericht eine Beschlagnahme des Buches. Dass Franz Wesenauer – wie auch die meisten der zeitgenössischen Salzburger Rezensenten – literarischen Text und historische Fakten, die Kunstfigur ‚Onkel Franz’ und den realen Pfarrer Wesenauer fälschlicherweise ineins gesetzt sahen, verdeutlicht eine Stellungnahme Wesenauers in der konservativ katholischen Zeitschrift Glaube und Kirche: „Diese Empfindungen von vor 30 Jahren entschuldigen nicht seine ‚künstlerischen Darstellungen’ von heute. Sie halten vor dem Gesetz nicht stand.“ 91 In einem Bericht des Salzburger Tagblattes92 wird der weitere Verlauf festgehalten: Das Gericht sah keine ausreichenden Gründe für eine Beschlagnahme vorliegen, und Wesenauer griff nun zum Mittel einer Privatklage. Weiters wurde ein „Arbeitskreis zum Schutz und zur Wahrung des internationalen Ansehens der Stadt Salzburg“ gebildet, der Stadt- und Landesregierung aufforderte, die Vergabe von Subventionen an den Salzburger Residenz-Verlag, in dem Die Ursache erschienen war, einzustellen. Der Prozess gegen Bernhard wurde mit einer Verhandlung im April 1976 beim Kreisgericht Wels begonnen, er wurde dann zwischen den Gerichten in Linz und Salzburg hin und her verwiesen. Der Prozess endete schließlich bei der Hauptverhandlung am Landesgericht Salzburg im Mai 1977 mit einem Vergleich zwischen Wesenauer und Bernhard. Den Schlusspunkt bildete mit einer Erklärung von Thomas Bernhard und seinem Verleger, die über die Austria Presseagentur (APA) verbreitet wurde: Beide stellen fest, „dass sie mit den unter Anklage gestellten Äußerungen die Ehre des Kanonikus Wesenauer nicht verletzen wollten und in zukünftigen Auflagen des Werkes ‚Die Ursache’ bestimmte inkriminierte Teile nicht mehr aufnehmen werden.“ 93 Dieser Vergleich hatte zur Folge, dass in den weiteren Auflagen des Textes das ‚Onkel-Franz-Kapitel’ nur noch in verkürzter Form erscheinen konnte. Zum einen ist deshalb von der den Titel gebenden Figur in diesem Kapitel kaum noch die Rede. Zum andern aber wurde dadurch ein künstlerisch auskomponierter, hoch artifizieller Text in einer Schlüsselpassage, sein Kernthema – die Verbindung von Nationalsozialismus und Katholizismus – betreffend, verstümmelt. So wurde z.B. die Parallelsetzung zwischen dem SA-Mann Grünkranz, der das Internat in der NS-Zeit geleitet hatte, mit dem Präfekten, einem etwa vierzigjährigen Geistlichen, hinter dem sich der gutmütige Onkel Franz als Leiter verschanzt hatte, durch die Kürzungen zerstört. Bernhard konstruierte in der ursprünglichen Fassung des Kapitels eine Doppelparallelität zwischen den ErzieherInnen während und nach der NS-Zeit: dem schrecklichen Grünkranz entsprach die „Fürchterlichkeit des Präfekten“ 94, der furchtsamen und nachgiebigen Frau des Grünkranz wiederum korrespondierte die „Gutmütigkeit“ des Onkel Franz: „hier, im katholischen Internat, hatte es wieder, wenn auch unter anderem Namen und nicht in Offiziers- oder SA-Stiefeln, sondern in solchen schwarzen Stiefeletten der Geistlichkeit (…) einen Grünkranz gegeben, wie der Grünkranz der sogenannten Naziära schon der Präfekt gewesen war, und der Onkel Franz hatte die Fürsorgerolle der Frau Grünkranz übernommen“ 95 Die Streichungen kappen eine zentrale Aussage dieses Kapitels, die die Verbindung von Nationalsozialismus und Katholizismus, wie sie der Icherzähler Bernhards versteht, differenzierend ausgeführt hätte. Denn in den Augen des Icherzählers wird das Schreckensregiment von Präfekt und SA-Mann unterstützt und ermöglicht durch die furchtsamen und „lieben“ Charaktere derer, die ihnen jeweils zuarbeiten, indem sie die Zerstörungen ihrer Herrschaft zudecken und vergessen lassen. „Das den ganzen Tag über im Internat überall gerufene, gesprochene und geflüsterte Onkel Franz hatte das ganze Internat vor allem für den Besucher in den Verstand einlullender Weise in eine katholische Lieblichkeit eingehüllt, von welcher hier tatsächlich nichts gewesen war.“ 96

„Die Zeit macht aus ihren Zeugen immer Vergessende“, stellt der Ich-Erzähler in der Ursache fest, wenn er in der Erzählzeit sich auf die Suche nach jenen Menschen begibt, die während der erzählten Zeit Opfer der Bombenangriffe in Salzburg geworden sind, und feststellen muss, dass sich keiner mehr von jenen, die heute dort leben und arbeiten, an sie erinnert.97 Wenig später formuliert derselbe Text mit großer Deutlichkeit eben jenen Konflikt, der bereits im Frühwerk auftaucht und auch dort die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus zerstört: „In mir selbst sind diese furchtbaren Erlebnisse immer noch so gegenwärtig, wie wenn sie gestern gewesen wären, Geräusche und Gerüche sind augenblicklich da, wenn ich in die Stadt komme, die ihre Erinnerung ausgelöscht hat, wie es scheint“. 98 Zwei zentrale Dichotomien sind in dieser Textpassage angesprochen, die in Bernhards Werk zuvor wie danach immer wieder auftauchen, wenn es um die Erinnerung an die Herrschaft des Nationalsozialismus geht:

1. die Dichotomie zwischen privater und kollektiver Erinnerung:

Während der Erzähler als privater Einzelner sich sehr wohl genau erinnert, hat „die Stadt“, also das Kollektiv, die Erinnerung an Nationalsozialismus und Krieg gelöscht. Der Erzähler verwendet hier ein Metonym für ein namenloses Kollektiv und stellt somit eine extreme Polarität zu sich selber, dem exponierten Einzelnen, der sich erinnert, her.

2. die Dichotomie zwischen „gegenwärtig“ und „ausgelöscht“:

Die Beziehung der sprechenden Personen von Bernhards Texten zur Vergangenheit ist immer aus der Gegenwart abgeleitet. Die Erlebnisse sind dem Erzähler „gegenwärtig“, „wie wenn sie gestern gewesen wären“ und sofort abrufbar. Im extremen Widerspruch dazu steht deren „Auslöschung“ im kollektiven Gedächtnis, die noch an mehreren anderen Stellen des Textes der Ursache beschrieben wird. 99 Mit dem Vorgang des ‚Auslöschens’ wird sich Bernhards letzter Roman noch intensiv beschäftigen und ihn ausdifferenzierend widerrufen, indem er ihm eine gleich benannte Widerstandshaltung des Einzelnen entgegensetzt.

Die Koordinaten dieser vier Pole, zwischen denen sich die Unmöglichkeit des Erinnerns für die Personen in Thomas Bernhards Texten entfaltet, sind verbunden mit dem Kontext einer aus der Perspektive der katholischen Religion gesehenen Welt. Um nochmals bei dem zitierten ersten Band der Autobiografie zu bleiben: In der Ursache ist es die Gegenwart des Katholizismus, die eine kollektive Erinnerung an das Grauen von Nationalsozialismus und Krieg gelöscht hat, weil seine Erziehungs- und Bildungsmuster sich von denen des Nationalsozialismus nicht wesentlich unterscheiden. „(…) und der Nationalsozialismus hatte die gleiche verheerende Wirkung auf alle diese jungen Menschen gehabt wie jetzt der Katholizismus.“ 100 Hier ist die Leidensgeschichte des Erzählers – und damit die Leidensgeschichte aller, die nicht ins ‚System’ passen – nicht unterbrochen, sondern fortgesetzt worden. Und somit kann der Nationalsozialismus sowie die mit ihm verbundenen Erfahrungen von Grauen und Gewalt nicht als existentiell Anderes erfahrbar und erzählbar werden. Er bleibt gegenwärtig, nicht als abgeschlossenes, sondern als offenes Geschehen. Der sprachliche Modus einer Bezugnahme ist nicht der der Erinnerung, er bleibt innerhalb der engen Grenzen einer „Andeutung“. Hier reflektiert das autobiografische Werk, was in den Diskursen des Frühwerkes bereits realisiert war, ohne benannt zu werden: die unmöglich gemachte Erinnerung des Nationalsozialismus.

 

1 Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt/Main 1988, 57.

2 Z. B. in ihrer Erich-Fried-Lecture Vater.Land (http://www.literaturhaus.at/autoren/F/fried/fried_lectures/): „Thomas Bernhard ließ seine Widerstände aus der Mitte der Realität des zu Widerstehenden wirken.“ Der vollständige Text erschien in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ am 21. April 2007.

3 Elfriede Jelinek: Neid. Privatroman. Der Roman erscheint ausschließlich auf der Homepage von Elfriede Jelinek: http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/. Das 1. Kapitel ist am 3. März 2007, das 2. am 7. April, das 3. am 1. Juli 2007 ins Netz gestellt worden. Am 29. August 2007 wurden drei Teilabschnitte des 4. Kapitels veröffentlicht. Seit 3. März 2008 sind drei Abschnitte des 1. Teiles von Kapitel 5 abrufbar. Der 2. Teil des 5. Kapitels als Abschluss des Romans folgt noch.

4 Jelinek, Neid (Anm. 3), 1/19. Direkte Zitate aus dem Romantext sind nur mit Genehmigung der Autorin möglich.

5 Ebda., 1/18.

6 Ebda., 1/18.

7 Ebda., 1/18,19. Auf der Website des „Elfriede-Jelinek-Forschungszentrums“ („Jelinetz“) an der Universität Wien findet sich – bereits parallel zum Erscheinen des Romans – eine literaturwissenschaftliche Aufarbeitung in sechs großen Arbeitsbereichen: Publikationsform, Kontexte, Themen, Erzählweise, Intertexte und Rezeption. Die zeitliche Parallelität des Erscheinens von Primärtext und literaturwissenschaftlicher Aufarbeitung ermöglicht auch eine parallele Lektüre beider Websites. Lassen sich unter den Vorzeichen dieser Publikationsform die Grenzen zwischen Sekundär- und Primärtext als durchlässig ansehen?

Unter der Rubrik „Intertexte“ kann man eine tabellarische, um quantitative Vollständigkeit bemühte Auflistung aller intertextuellen Bezüge des Romantextes einsehen; hier findet sich auch die zitierte Passage mit der Bezugnahme auf Bernhard, verbunden mit einem Zitat aus dem Roman „Auslöschung“, die die Adjektivverbindung „nationalsozialistisch-katholisch“ obsessiv wiederholt: Bernhard, Auslöschung (Anm. 1), 444/445. Unklar bleibt, warum gerade diese Textpassage (unter vielen anderen – v.a. früheren – in Bernhards Werk) ausgewählt wurde.

8 Louis Huguet: Chronologie Johannes Freumbichler Thomas Bernhard. Hg. v. Hans Höller. Wien – Linz – Weitra o.J.

9 Wendelin Schmidt-Dengler, Der Übertreibungskünstler. Studien zu Thomas Bernhard. Wien, 1986.

10 Thomas Bernhard: Der Schweinehüter. In: T.B.: Werke. Band 14. Erzählungen, Kurzprosa. Hg. v. Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt/Main 2003, 516-539.

11 Ebda., 522.

12 Vgl.: Ebda., 539. Siehe dazu die Rezension von Klaus Nüchtern zu den Bänden 1, 2 und 14 der Bernhard-Werkausgabe: Klaus Nüchtern: Abschied von den Eutern. In: Falter 01/04 (7.1.2004); nachzulesen in: http://www.falter.at/print/F2004_02_.php.

13 Es existieren mehrere von Bernhard entworfene Versionen des Schlusses; bei der zitierten handelt es sich um die Typoskriptversion W 26/1, zu finden im Kommentar der Hg. zu: Bernhard, Werke. Band 14 (Anm. 12), 583.

14 Ebda., 539.

15 Ein früher Text, das Eingangsgedicht der unveröffentlichten Sammlung Frost, thematisiert diese literarische Strategie, die in den späteren Texten nur mehr implizit angewandt wird: „Die Masken fallen in die Nacht herein und zerbrechen an der Mauer (…) Die Masken schützen mich nicht und die Kinder nicht und die Toten.“ Thomas Bernhard: Die Masken. In: Frost. Gedichte. Unveröffentl. Manuskript, P.2.

16 Thomas Bernhard, Der Keller. Eine Entziehung. Salzburg und Wien 1998, 27.

17 Ebda., 29. Eine ähnliche Paradoxie formuliert der fiktionale Text „Gehen“: „alle Sätze, die gesprochen werden und die gedacht werden und die es überhaupt gibt, sind gleichzeitig richtig und gleichzeitig falsch, handelt es sich um richtige Sätze“ (Thomas Bernhard: Gehen. Frankfurt/Main 1971, 16f.)

18 Es wird die gesamte Formulierung mitsamt ihrer stilistischen Besonderheit – einer Klimax in Form der variierenden Wiederholung – wiedergegeben.

19 Thomas Bernhard: Der Atem. Eine Entscheidung. Salzburg und Wien 1998, 56.

20 Thomas Bernhard: Die Kälte. Eine Isolation. Salzburg und Wien 1998, 17 und 19.

21 Erst der Schlusssatz des Romans begibt sich mit dem Einschub „schreibt Murau“ in die Metaperspektive gegenüber dem Aufzeichnungsdiskurs (Bernhard, Auslöschung (Anm. 1), 651).

22 Bernhard, Der Keller (Anm. 16), 89.

23 Bernhard, Auslöschung (Anm. 1), 612.

24 “In aller Frühe wurde in die Kirche gegangen. Im sogenannten Sonntagsanzug.” Thomas Bernhard: Ein Kind. Salzburg und Wien 1998, 57.

25 „Meine Mutter war ein gläubiger Mensch. Sie glaubte nicht an die Kirche, wahrscheinlich auch nicht an Gott, den ihr Vater, solange er lebte, immer wieder tot gesagt hat, aber sie glaubte.“ Bernhard, Ein Kind (Anm. 24), 35.

26 Franz im Thurn war Stiftskanoniker und nicht Stiftsdekan („Dechant“), wie er in Bernhards Text benannt wird. Siehe: Huguet, Johannes Freumbichler Thomas Bernhard (Anm. 8), 208; Bernhard, Ein Kind (Anm. 24), 59.

27 Thomas Bernhard: Der Untergang des Abendlandes. In: T.B.: Werke. Band 14. Erzählungen, Kurzprosa. Hg. v. Hans Höller, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt/Main 2003, 493-499.

28 Bernhard, Ein Kind (Anm. 24), 57.

29 Die zwar eine spätere Lebensphase schildern, aber zeitlich vor der Publikation von Ein Kind (1982) erschienen sind, nämlich 1975-1981.

30 Siehe u.a.: Bernhard, Auslöschung (Anm. 1), 286ff.

31 Zacchi wurde über Vermittlung von Gerda Maleta mit Bernhard bekannt. Er gilt als Vorbild für die Figur des Spadolini in Auslöschung.

32 Gedichtsammlung, 1957 im Otto-Müller-Verlag Salzburg erschienen. Thomas Bernhard: Neun Psalmen. In: T.B.: Gesammelte Gedichte. Hg. v. Volker Bohn. Frankfurt/Main 1993, 73-78.

33 Sieben der neun Psalmen, fünf Gedichte aus In hora mortis und eines aus Unter dem Eisen des Mondes hat P.K.Kurz aufgenommen in: Psalmen vom Expressionismus bis zur Gegenwart. Hg. v. Paul Konrad Kurz. Freiburg 1978.

34 Vgl. dazu die editorische Notiz in: Bernhard, Gesammelte Gedichte (Anm. 32), 338.

35 Die Gedichtsammlung findet sich nicht in der von Jens Dittmar herausgegebenen Werkgeschichte: Thomas Bernhard Werkgeschichte. Hg. v. Jens Dittmar. Frankfurt/Main 1990. Einen möglichen Hinweis auf den Entstehungszeitraum liefert das im letzten Abschnitt der Sammlung (In kahlen Bergen) zu findende Gedicht P. 135c mit dem Titel: 10. Februar 1960; einige Gedichte im ersten Teil enthalten Motive, die mit einem von Bernhards Aufenthalten in der Lungenheilanstalt Grafenhof (erster Aufenthalt: 27.7.1949 – 26.2.1950; zweiter Aufenthalt: 13.7.1950 – 11.1.1951) zusammenhängen können, ohne dass sie bereits damals entstanden sein müssen.

36 Die Sammlung umfasst insgesamt 135 Texte, am Schluss des Typoskripts sind noch vier Texte mit dem handschriftlichen Vermerk „ausgeschiedene Gedichte“ angefügt. Lücken in der Paginierung lassen allerdings darauf schließen, dass einige Texte entweder verloren gegangen oder von Bernhard vernichtet worden sind. Die 26 darin enthaltenen explizit religiösen Texte machen immerhin ca. ein Fünftel der Gesamtzahl aus.

37 Erste Publikation von sechs Texten in: Insel-Almanach auf das Jahr 1964. Frankfurt/Main 1963, 60-64. Die spätere Publikation aller Texte erfolgte erst 1969 im Literarischen Colloquium: Thomas Bernhard: Ereignisse. Berlin 1969.

38 Bernhard, Der Schweinehüter (Anm. 10), 538.

39 Ebda., 538. Siehe den Hinweis auf die Intervention des Herder-Verlages, in dem die Sammlung Stimmen der Gegenwart erschienen ist.

40 Thomas Bernhard: Frost. Roman. Frankfurt/Main 1972, 208.

41 Vgl. die ausführliche Reflexion über den Selbstmord in: Thomas Bernhard: Die Ursache. Eine Andeutung. Salzburg und Wien 1998, 12 ff.

42 Diese Form der Massenfeindlichkeit findet sich auch in Hans Leberts Wolfshaut (Hans Lebert: Die Wolfshaut. Roman. Leipzig 2008) und ist zur Entstehungszeit des Romans nicht außergewöhnlich, sondern eher die Regel – aufgrund der weit verbreiteten Rezeption der Massentheorien Ortega y Gassets oder David Riesmans.

43 Ein Widerspruch, der im Diskurs von Muraus Dokument der ‚Auslöschung’ wiederkehren sollte. Siehe: Bernhard, Frost (Anm. 40), 209.

44 Bernhard, Ein Kind (Anm. 24), 35.

45 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Ich-Erzähler von Ein Kind die Biografien aller Familienmitglieder (nicht nur der Frauen, auch die des Vormundes von Bernhard, Emil Fabjan!) um die Vita des Großvaters als dynamisches Zentrum gruppiert.

46 Bernhard, Ein Kind (Anm. 24), 30.

47 Ebda., 31.

48 Ebda., 15-18.

49 Bernhard, Der Atem (Anm. 19), 7.

50 Bernhard, Die Ursache (Anm. 41), 94.

51 Ebda., 94.

52 Bernhard, Der Atem (Anm. 19), 29.

53 Ebda., 38.

54 Ebda., 41. Zur Tragik des Großvaters als Künstler gehört, dass er selbst den „Denkbezirk“ nicht mehr verlassen, die Ergebnisse seiner Leidensreflexion nicht mehr in literarische Texte umsetzen konnte.

55 Bernhard: Die Ursache (Anm. 41), 103.

56 Ebda., 76. Gerade in der Ursache wird diese Ineinssetzung vom Ich-Erzähler in verschiedenen Kontexten wiederholt vorgenommen, z.B. S.17 (im Zusammenhang mit Selbstmörderbegräbnissen), S.41 (im Zusammenhang mit der Salzburger Verwandtschaft seiner Großmutter), S. 66ff. und S. 71ff. (im Zusammenhang mit dem Schülerheim und den Erziehungsmethoden darin), S.76ff. (im Zusammenhang mit der Stadt Salzburg), S. 78f. (im Zusammenhang mit dem Gymnasium).

57 Thomas Bernhard: Der Italiener. In: Insel-Almanach auf das Jahr 1965. Frankfurt/Main 1964, 83-93. Auch abgedruckt in: Wort und Zeit H. 6 (1965), 5-10. Das Textfragment wurde nochmals publiziert im Zusammenhang mit einer Veröffentlichung des Residenz-Verlages zum Film: Thomas Bernhard: Der Italiener. Salzburg 1971 sowie in: Aufforderung zum Misstrauen. Hg. v. Otto Breicha u. Gerhard Fritsch. Salzburg 1967, 506-512. Der Film wurde im Juni 1967 im Auftrag des Westdeutschen Fernsehens unter der Regie von Ferry Radax gedreht. Nähere Informationen siehe: Dittmar, Werkgeschichte (Anm. 36), 133 ff.

58 Bernhard, Die Ursache (Anm. 41), 72.

59 Zum Begriff ‚Topic’ siehe: Umberto Eco: Lector in fabula. München 1987; Boris Tomasevskij: Theorie der Literatur. Poetik. Wiesbaden 1985.

60 Zwei wichtige neuere Monographien zum Werk von Thomas Bernhard stellen genau diese Thematik in den Mittelpunkt ihrer Interpretation: Paola Bozzi: Ästhetik des Leidens. Zur Lyrik Thomas Bernhards. Frankfurt/Main – Berlin – Bern – New York – Paris – Wien 1997; Steffen Vogt: Ortsbegehungen. Topografische Erinnerungsverfahren und politisches Gedächtnis in Thomas Bernhards Der Italiener und Auslöschung. Berlin 2002.

61 Publiziert wurde der Prosatext erst 1989, kurz vor Bernhards Tod, im Residenzverlag: Thomas Bernhard: In der Höhe. Rettungsversuch. Unsinn. Salzburg 1989.

62 Alfred Pfabigan: Frost als zeitgeschichtliche Quelle: Versuch einer Parallellektüre des Bernhardschen Erstlings und der Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich, 75. In: Österreich und andere Katastrophen. Thomas Bernhard in memoriam. Hg. V. Pierre Béhar u. Jeanne Benay. St. Ingbert 2001, 75-90. Ausgeführt wurde diese entwicklungsgeschichtliche These in: Alfred Pfabigan,: Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment. Wien 1999

63 Bernhard, Frost (Anm. 40), 164f.

64 Ebda., 53.

65 Ebda., 53. Auch in der Erzählung des Malers von Menschen, die am Ende des Krieges ermordet wurden, erfroren oder verhungert sind, wird dieses Bild von Zugedecktsein und Auftauchen nochmals gebraucht: „Noch heute stößt man immer wieder auf Schädelknochen oder auf ganze Skelette, die nur von einer dünnen Tannennadelschicht zugedeckt sind“ (Ebda., 138). Und zum Umgang der Bevölkerung mit den Spuren des Krieges in der unmittelbaren Nachkriegszeit: „’Sie gingen hin, „mit Rechen und Schaufel, um die Spuren zu verwischen. Aber die Spuren des Krieges sind noch nicht verwischt’, sagte der Maler, ‚dieser Krieg wird niemals vergessen sein. Immer wieder werden die Menschen auf ihn stoßen, wo sie auch gehen mögen.’“ (Ebda., 139)

66 Siehe: Ebda., 137.

67 Ebda., 99.

68 Ebda., 138.

69 Siehe: Thomas Bernhard Werkgeschichte (Anm. 35), 52/53.

70 Otto F. Beer in der Süddeutschen Zeitung; siehe: Thomas Bernhard Werkgeschichte (Anm. 35), 54/55.

71 Die Erstausgabe erschien im Classen-Verlag: Hans Lebert: Die Wolfshaut. Hamburg 1960; eine Wiederentdeckung des fast vergessenen Romans leitete die Neuausgabe im Europa-Verlag ein: Wien – Zürich 1991. Die aktuell erhältliche Neuausgabe ist 2008 im „Neuen Europa-Verlag“ erschienen (siehe Anm. 42).

72 „In letzter Instanz ist selbst in der Wolfshaut der Nationalsozialismus als historische Materialisation des Bösen eitel, eine austauschbare Emanation.“ Jürgen Egyptien: Nachwort, 626. In: Hans Lebert: Die Wolfshaut. 1991 (Anm. 71).

73 Siehe: Kurt Arrer: Hans Lebert und der problematisierte Regionalroman. Salzburg, Phil.Diss. 1975; Konstanze Fliedl / Karl Wagner: Tote Zeit. Zum Problem der Darstellung von Geschichtserfahrung in den Romanen Erich Frieds und Hans Leberts. In: Literatur der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre in Österreich. Hg. v. Friedbert Aspetsberger, Norbert Frei, Hubert Lengauer. Wien 1984, 303-319; Thomas Mießgang: Sex, Mythos, Maskerade. Der antifaschistische Roman Österreichs im Zeitraum von 1960 bis 1980. Wien 1988.

74 Bernhard, Frost (Anm. 40), 399.

75 Klaus Kastberger: Österreichische Endspiele: Die Toten kehren zurück. In: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 15. Nr. (Dezember 2005). Hg. v. Gregor Thuswaldner. Aufzufinden unter: http://www.inst.at/trans/15Nr/05kastberger.

76 Juliane Vogel: Wasser, hinunter, wohin. Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten – ein Flüssigtext. In: Literaturmagazin, H. 39 (1997), 172-180.

77 Ransmayr bezieht sich explizit auf Hans Leberts Die Wolfshaut als Vorbild für seinen Roman: „Ich habe Hans Leberts Wolfshaut gelesen. Ich bin an einem Ende des Traunsees zur Schule gegangen, und am anderen Ende war der Steinbruch von Ebensee, ein ehemaliges Außenlager von Mauthausen.“ (Christoph Ransmayr: „… das Thema hat mich bedroht“. Gespräch mit Sigrid Löffler über Morbus Kitahara. In: Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Hg. v. Uwe Wittstock. Frankfurt/Main 1997, 214.

78 Z.B. von Karl-Markus Gauß: Die Toten haben Hunger. Eine Wiederentdeckung: Hans Leberts Parabel „Die Wolfshaut“. In: Die Zeit, Nr. 44 (25.10.1991), 83. Joachim Hoell spekuliert über die Frage, ob Bernhard Leberts Roman vor bzw. während der Abfassung von Frost gelesen habe und somit ein direkter Einfluss nachweisbar sei: Joachim Hoell: Gegen das Schweigen – für ein Geschichtsbewusstsein. Thomas Bernhard als Leser von Hans Leberts WOLFSHAUT. In: Bernhard-Tage Ohlsdorf 1996. Materialien. Hg. v. Franz Gebesmair & Alfred Pittertschatscher. Weitra o.J., 107-126.

79 Wendelin Schmidt-Dengler: Die antagonistische Natur. Zum Konzept der Antiidylle in der neueren österreichischen Prosa. In: Literatur und Kritik, Heft 40 (1969), 577-585. Vgl.: Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945-1990. Salzburg 1995.

80 Zur Erzählform des von Lebert selber so bezeichneten „Transparentismus“ vgl. das Nachwort von Jürgen Egyptien in: Lebert, Wolfshaut 1991(Anm. 71).

81 „Ich sehe, dass wir nichts geworden sind.“ Hans Lebert im Interview mit Richard Reichensperger. In: Der Standard, 24./25./26.12. 1991, 9. Vgl. auch Schmidt-Dengler, Bruchlinien (Anm. 79), 176.

82 Thomas Bernhard: Der Italiener 1964 (Anm. 57), 83-93. Die Erzählung wurde, neben dem Wiederabdruck in Wort und Zeit (Anm. 57) noch mehrmals veröffentlicht; z.B. in: Thomas Bernhard: An der Baumgrenze. Erzählungen. München o.J., 93-107.

83 Bernhard, Der Italiener (Anm. 82), 105. In dieser Lichtung befand sich das „Massengrab“, in dem die toten Polen verscharrt worden waren; vgl. ebda., 103.

84 Den Vater-Sohn-Konflikt als das Thema der den Nationalsozialismus thematisierenden Literatur nach 1945 hat Thomas Bernhard in Frost m.E. bewusst vermieden.

85 Dass Thomas Bernhard ursprünglich nur Der Italiener verfilmen wollte, zeigt den Rang, den er selber dem Text zumaß. Erst auf Drängen der Produzenten entstand 1973/1974 der zweite Film nach der Erzählung Der Kulterer; vgl.: Thomas Bernhard: Der Kulterer. Eine Filmgeschichte. Salzburg 1974.

86 Thomas Bernhard: Verstörung. Roman. Frankfurt/Main 1988. Der Roman ist 1967 im Insel-Verlag erschienen.

87 Bernhard, Auslöschung (Anm. 1), 291.

88 Bernhard, Die Ursache (Anm. 41), 76.

89 Ebda., 71/72.

90 N.N.: Th. Bernhard wegen Verleumdung angezeigt. In: Salzburger Nachrichten, 2. Okt. 1975, 19.

91 Siehe: Martin Huber: „Romanfigur klagt den Autor“. Zur Rezeption von Thomas Bernhards „Die Ursache. Eine Andeutung“, 63. In: Statt Bernhard. Über Misanthropie im Werk Thomas Bernhards. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler u. Martin Huber. Wien 1987, 59-110.

92 N.N.: Bernhard-Buch nicht beschlagnahmt. In: Salzburger Tagblatt, 4. Okt. 1975, 21.

93 Siehe: Huber, „Romanfigur klagt den Autor“ (Anm. 91), 67.

94 Ich zitiere hier eine noch ungekürzte Ausgabe: Thomas Bernhard, Die Ursache. Salzburg 1975, 103.

95 Ebda., 105. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben die meisten Rezensenten daraufhin die Figur des ‚Onkel Franz’, sie mit der Figur des Präfekten verwechselnd, mit der des jüngeren Geistlichen, der ihm untergeben war, ineins gesetzt; sogar dem Wissenschaftler Jens Dittmar unterläuft diese Verwechslung in seiner Kurzcharakteristik im Rahmen der Werkgeschichte: „Thomas Bernhard hatte den damaligen Internatsleiter ‚Onkel Franz’ (…) als unzuverläßlichen Charakter und widerlichen Menschen dargestellt, der ein katholisches Schreckensregiment führte.“ (Thomas Bernhard Werkgeschichte (Anm. 35), 166).

96 Ebda., 105/106. Das Faktum, dass gerade diese Passage gestrichen werden musste, lässt tatsächlich von einer inhaltlichen Verstümmelung des Textes sprechen!

97 Bernhard, Die Ursache 1998 (Anm. 41), 29.

98 Ebda., 34f.

99 Z.B.: „… und kein Mensch weiß, wovon ich rede, wie überhaupt alle, wie es scheint, ihr Gedächtnis verloren haben …“ (Bernhard, Die Ursache 1998 (Anm. 41), 44).

100 Bernhard, Die Ursache 1998 (Anm. 41), 76.