Martin M. Lintner - „Es ist gut, dass es dich gibt“ - TheoArt-komparativ

Martin M. Lintner

 

Werte vermitteln in Kindergarten und Schule

 

„Es ist gut, dass es dich gibt“

 

Für ein gelingendes Leben sind gemeinsame Werte eine große Hilfe. Welche Rollen Menschenwürde, Anerkennung und Integration dabei spielen, erörtert Moraltheologe Martin M. Lintner in folgendem Beitrag.

 

Kindergarten und Schule sind wichtige Lebensräume und Lernorte für Kinder und Jugendliche. Sie verbringen viel Zeit in den jeweiligen Gruppen und eignen sich nicht nur Wissensinhalte an, sondern werden in ihrem Charakter und ihrer Persönlichkeit nachhaltig geformt. In der Kindheit und im Schulalter gemachte Erfahrungen und vermittelte Werte prägen einen Menschen sein Leben lang.

 

Was sind Werte?

 

Ein Wert ist zunächst etwas, das für einen bestimmten Bezugspunkt als wichtig und relevant gilt. In der Ethik sind Werte Größen, an denen sich das Verhalten und Handeln eines Menschen ausrichtet. Als Werte können sowohl Grundhaltungen angesehen werden, aus denen heraus ein Mensch gut handelt oder motiviert wird, zu tun, was unter sittlicher Perspektive gut und richtig ist, als auch Zielsetzungen, die zu verfolgen und zu verwirklichen sich lohnt. Werte können also Haltungen sein, aber auch materielle und immaterielle Güter. Die Bezugsgröße für die Bestimmung eines Wertes ist in sittlicher Hinsicht die Frage, inwiefern etwas zum umfassenden Gelingen des Lebens beiträgt. Damit wird die Frage nach dem Verständnis des Lebens sowie nach dem Lebenssinn berührt.

Der bekannte Wiener Logotherapeut Viktor E. Frankl sieht in den Werten wichtige Hilfestellungen für die Sinnsuche im Leben. Da die Sinnfrage eine wesentlich religiöse ist, spielen auch die Religionen und religiösen Wertvorstellungen eine wichtige Rolle. Ein Wert wird als wünschenswert und erstrebenswert angesehen, weil viele Menschen die Erfahrung gemacht haben, dass er hilft, das Leben zu meistern und zu gestalten. Insofern jeder Mensch zutiefst ein soziales Wesen ist und deshalb in eine Gruppe eingebunden, werden Werte auch sozial verhandelt. Sie regeln das gesellschaftliche Zusammenleben und geben eine Antwort auf die Frage, was eine Gemeinschaft oder die Gesellschaft zusammenhält, in die die Menschen eingegliedert sind und die ihrerseits von jedem einzelnen Mitglied mitgetragen und -gestaltet wird.

Mit dem Begriff der „integralen“ Entwicklung kann diese zweifache Dimension benannt werden: Es geht einerseits um die ganzheitliche menschliche Entfaltung des einzelnen Individuums, andererseits aber auch um die Entwicklung der Gesellschaft als solcher, die Lebensraum und damit Ort der Entfaltung ihrer einzelnen Mitglieder ist. Werte müssen deshalb sowohl sozial und diskursiv verhandelt als auch persönlich angeeignet und verinnerlicht werden.

 

Woher kommen Werte?

 

Werte sind die Frucht von Erfahrungen von vielen Menschen; ja von ganzen Generationen, zugleich aber immer auch von individuellen Sinneinsichten. Sie dürfen nicht mit Normen verwechselt werden, auch wenn zu bedenken bleibt, dass Normen die Aufgabe haben, Werte zu schützen und zu fördern. Normen können in diesem Sinne als „verfestigte Werte“ oder als „geronnene Sinneinsichten“ verstanden werden. In diesem Sinne haben Normen eine entlastende Funktion, weil nicht jeder Mensch in jeder Situation „das Rad neu erfinden“ muss, sondern sich auf einen großen Erfahrungsschatz von anderen Menschen verlassen kann.

Zugleich aber genügt es nicht, Normen einfach nur zu befolgen, sondern es geht vielmehr darum, sich die den Normen zugrundeliegenden Werte anzueignen, sie gleichsam zu verinnerlichen und aus persönlicher Überzeugung heraus zu befolgen. Erfahrungen und Sinneinsichten sind immer eingebettet in sozio-kulturell und historisch sowie persönlich-biografisch und psychologisch bedingte und geprägte Kontexte und Zusammenhänge, sodass die Einsicht in Werte einen im letzten unabgeschlossenen und offenen Prozess darstellen. Das bedeutet aber nicht, einem ethischen Relativismus das Wort zu reden. Vielmehr ist dieser Prozess so zu verstehen, dass es historisch und kulturell bedingte Einsichten gibt, die zugleich

Errungenschaften sind, hinter die eine Gesellschaft nicht mehr zurückfallen darf. Eine solche Einsicht ist jene in die Würde eines jeden einzelnen Menschen. Diese hat zwar in der jüdisch-christlichen Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen ihre ideengeschichtliche Wurzel, ist aber zum ersten Mal von Kant im kategorischen Imperativ philosophisch im Sinne der Selbstzwecklichkeit jedes Menschen formuliert worden. Die Menschenrechte schließlich, eine kulturgeschichtlich ebenso junge Errungenschaft, dienen dem normativen Schutz der Menschenwürde. Unsere Gesellschaft, zumal die demokratisch verfasste, gründet auf das Kernprinzip der Anerkennung der gleichen Würde jedes Menschen, was ganz allgemein gesprochen so viel bedeutet wie die unbedingte Bejahung jedes Menschen qua Menschen und die Anerkennung seines Rechtes auf sittliche Selbstbestimmung.

 

Wie können Werte vermittelt werden?

 

Jedem Menschen ist die Moralfähigkeit kraft seiner Vernunft gleichsam „in die Wiege gelegt“. Allerdings ist es eine Fähigkeit, die entwickelt und entfaltet werden muss. Dieser Prozess ist einerseits eingebunden in die jeweilige Gemeinschaft, die Werte vermittelt und zugleich den Lebensraum und das Beziehungsgeflecht eines Menschen darstellt. Kein Mensch lebt sozusagen in einem luftleeren Raum. Andererseits verläuft dieser Prozess auch entsprechend den psychischen, emotionalen und kognitiven Entwicklungsphasen eines Menschen, das heißt, dass er in der frühesten Kindheit beginnt. Dabei ist es grundlegend und von kaum überschätzbarer Bedeutung, dass einem Kind vermittelt wird: „Es ist gut, dass es dich gibt“, sodass es ein Grund- und Urvertrauen in das Leben aufbauen kann. Die Vermittlung dieses „Grund-“ oder „Ur-Wertes“, nämlich die Sinnhaftigkeit des Lebens, geschieht zunächst über die verlässliche Stillung der ersten Grundbedürfnisse wie die nach Wärme, Nähe, Geborgenheit, Trockenheit, Nahrung, Wohlempfinden ...

 

Es ist grundlegend und von kaum überschätzbarer Bedeutung,

dass einem Kind vermittelt wird: „Es ist gut, dass es dich gibt“.

 

Ein weiteres Grundbedürfnis ist jenes nach Anerkennung und Integration in eine Gemeinschaft. Ist diese Gemeinschaft zunächst die eigene Familie, wird sie später von der Kindergartengruppe und der Schulklasse dargestellt. Hier kommt es darauf an, dass ein Kind eine zweifache Erfahrung machen kann: erstens, von der Gemeinschaft bejaht, das heißt geachtet, akzeptiert und angenommen zu werden, indem es gut in die Gemeinschaft integriert ist; zweitens: diese Gemeinschaft auch entsprechend den eigenen Fähigkeiten aktiv mitgestalten zu können. Ein Kind erfährt, dass das Zusammenleben in einer Gruppe nur dann gelingen kann, wenn es gewisse Regeln gibt, die von allen eingehalten werden, und wenn sich alle einbringen.

Eine weitere wichtige Erfahrung ist die, dass nicht nur die eigenen Bedürfnisse zählen, sondern auch jene der anderen Kinder berücksichtigt werden müssen. Das verlangt eine gewisse Frustrationstoleranz, das heißt, die Erfahrung, dass man nicht zu kurz kommt oder vergessen wird, selbst wenn die eigenen Bedürfnisse nicht unmittelbar oder nicht so befriedigt werden, wie es sich das Kind wünscht. Eine besonders wichtige emotionale Fähigkeit ist jene der Empathie, das heißt, sich in die Position des anderen Menschen hineinversetzen zu können, seine Empfindungen, Gefühle und Bedürfnisse zu verstehen und aus dieser Perspektive her

das eigene Verhalten sehen und in Folge angemessen auf die Gefühle eines anderen Menschen reagieren zu können. Die Empathiefähigkeit stellt eine wichtige Grundlage für die spätere Entfaltung von Verantwortung gegenüber anderen Menschen dar. Weitere Grundbedürfnisse von Kindern sind jene zu wachsen, Neues kennenzulernen oder kreativ zu sein. Im Letzten geht es um Bedürfnisse, die eigene Persönlichkeit zu entfalten, die Wirklichkeit kennenzulernen und mitzugestalten. Zugrunde liegt ein positiver und bejahender Bezug zum Leben und zu sich selbst, ein Entdecken und Entfalten der eigenen Fähigkeiten.

 

Wertevermittlung bedeutet, ein Kind „lebenstauglich“ zu machen

 

Die Liste der Bedürfnisse könnte noch weiter ausgeführt werden. Um den Rahmen des vorliegenden Artikels nicht zu sprengen, soll an dieser Stelle abschließend und zusammenfassend festgehalten werden, dass Wertevermittlung zutiefst damit zu tun hat, die Sinnhaftigkeit des Lebens erfahrbar zu machen und ein Kind darauf vorzubereiten, das Leben mit seinen Herausforderungen zu meistern. Dem kognitiven, emotionalen und psychischen Reifegrad eines Kindes entsprechend geht es darum, in ihm einen grundsätzlich positiven Bezug zum eigenen Leben sowie zur Wirklichkeit aufzubauen und jene Grundhaltungen und

Fähigkeiten zu fördern, die seiner Entfaltung dienen. Von den Erziehungspersonen ist deshalb gefordert, dass sie aus Liebe zum Kind und zu seinem Wohle handeln, und dass sie selbst von jenen Werten überzeugt sind, die sie vermitteln. Authentizität und eine wohlwollende, philanthropische Grundhaltung sind in einem pädagogischen Beruf unerlässlich.

Wertevermittlung zielt zunächst darauf ab, den Kindern und Jugendlichen ein positives Selbstwertgefühl zu ermöglichen und ihnen zu helfen, zu reifen und sich zu starken Persönlichkeiten zu entwickeln, den Prozess von der Hetero- zur Autonomie gut zu meistern und sich schrittweise in die Verantwortung einzuüben, die sie für sich, für andere Menschen und für die Gemeinschaft, in die sie eingebunden sind, haben. Dabei ist es in Kindergarten und Schule bedeutend, dass dies auf eine spielerische und kreative Weise geschieht, die bei den jeweiligen Bedürfnissen anknüpft, dem natürlichen Wissensdurst und der altersgemäßen

Kreativität entspricht. Es muss zunächst um die konkrete Erfahrbarkeit der Sinnhaftigkeit von Werten gehen, eine Erfahrbarkeit, die mit zunehmendem Alter auch zusehends argumentativ untermauert wird, sodass sich jemand Werte nicht nur deshalb aneignet, weil sie ihm vermittelt worden sind, sondern weil er sie selbst für sinnvoll erfahren und erkennen kann.

 

Martin M. Lintner

Professor für Moraltheologie an der Philosophisch-

Theologischen Hochschule Brixen