Literarische Gemälde - TheoArt-komparativ

Eginald Schlattner: Bruchstriche aus Siebenbürgen

 

„Sie pflegten die bettlägerige Greisin zu Tode, die fromme Spenderin Ana. Der hatte der Erzbischof von Vac und Felac zu später Stunde den Rang einer rasoforă verliehen unter dem Namen Eufemia. Das ist eine Klosterfrau im Stand der vorletzten Graduierung, befugt, das Nonnengewand zu tragen. Gerade noch, dass die ehrwürdige Mutter Eufemia darin begraben werden konnte. Und für ewig ihrem Namen Ehre macht: die Wohlmeinende.

Ein vierjähriges Mädchen, Irina, das ihre anonyme Mutter an den Fuß des Baugerüsts gebunden hatte, mit einer roten Nelke in der Hand, wurde in die klösterliche Familie aufgenommen. […] Im Chor der Nonnen singt sie die Responsorien wie ein Engel. Eben hat sie das Bakkalaureat überstanden. Sie musste Jahr um Jahr jeden Tag zweimal je eine Stunde durch den Wald laufen, um die Schule zu erreichen. Im Winter leuchtete ihr eine Laterne den Weg, ansonsten hielt sie sich mit einem Spieß die Bären vom Leib. Sie soll im Kloster bleiben, so der gebieterische Wille der Oberin. Sie überspringt das Noviziat. Die Oberin kleidet sie als Nonne ein, bildhübsch ist sie in der eleganten schwarzen Kluft, von überirdischer Schönheit. Als Jüngste säubert sie die Klos und die Flure. Je niedriger die Arbeit, desto besser für die versuchte Seele. […] Die niedrigsten Arbeiten verrichtet Schwester Anastasia. Weil sie studiert. Und das ist des Teufels. Sie mistet die Schweineställe aus und muss das Plumpsklo leeren. Das stinkt selbst dem Teufel in die Nase und er lässt von der frommen Seele.

Nachdem ich im Herbst 2007 auf meinem Pfarrhof allein geblieben bin, hat Schwester Anastasia sich meiner angenommen. […] Ja, ich bin im Kloster angekommen. Die Zelle ist kleiner als das Verlies während der zwei Jahre Haft bei der Securitate in Stalinstadt. Jede Bewegung muss überlegt werden. Der Blick durch das karierte Holzfenster geht auf die drei Gräber am Ende des Hügels, so jung ist das Kloster. Endlich Zeit am Stück.

Geboren 1933, ist es absehbar, dass es die vollkommene Zeitlosigkeit in Bälde auch für mich geben wird. Von der strotzend evangelisch-sächsischen Kirchengemeinde sind wir noch vier Griese zu begraben, zwischen siebzig und scheintot, wie jemand befand. Selbst die Toten sterben aus. Die lackierten Särge in der Sakristei, letzte Liebesgabe, werden immer rascher bewohnt.

Im Sommer 1990, nach dem blutigen Ende der Diktatur, haben sich die Siebenbürger Sachsen sang- und klanglos aus der Geschichte verabschiedet – nach geschlagenen achthundertfünfzig Jahren. Nachdem der Eiserne Vorhang geschmolzen war, gab es kein Halten mehr: ‚Alles rennet, rettet, flüchtet!‘ Es blieb der Pfarrer, ich. Ich bin laut series pastorum der 51. Pfarrer seit der Reformation – und seit der Einwanderung, und zählt man die katholischen Vorgänger dazu, der 99. Pfarrer in Rothberg, Mons rubens. Und der Letzte. In der Kirche der verschollenen Gesichter halte ich jeden Sonntag vor den leeren Bänken Gottesdienst mit allem Drum und Dran von Singen und Sagen und Segnen. Um den verlassenen Gott zu trösten. Und mich oft Gottverlassenen ebenso.

Das alles erledigte sich in diesem einen Sommer. Bäuerliche Anwesen, um das Jahr 1200 angelegt, spien ihre Inhalte aus. Haus und Hof, Auto und Kühltruhe, Farbfernseher und Hundehütte, Kram und Krempel verschleuderte man im Nu. Der reiche Rumäne aus Hermannstadt holte sich das Haus und der braune Bruder vom Bach hoppelte mit der Hundehütte davon.

Zur Endrunde wurde, was von Anfang an die Stärke der Sachsen war: Jeder tat, was alle taten. Nicht nach eigenem Kopf, vielmehr ausgerichtet auf den Anwohner in den streng vorgeschriebenen Regularien der Nachbarschaft. So legten die Sachsen die Reihendörfer an: Haustor neben Haustor. Das Haus der Nachbarin war Schutz und Schild. Daraus entstanden gefügte Lebensformen christlicher Nächstenliebe. Was ein Theologe extravagant, doch für hier zutreffend, so ausdrückte: Die Liebe ist eine verlässliche Ordnung des Zusammenlebens. […]

Vor dem Abendmahl, der Eucharistie, trat die Nachbarschaft zum Versöhnungsritual zusammen. […] Die Individualität des Siebenbürger Sachsen wurzelt in seiner Kollektivität. Sie dämpfte die Lust an Hader und Streit, drosselte den Drang zu Rachsucht und Rosenkrieg, bremste die kriminelle Energie. Dafür trieb eine Sucht barocke Blüten: die Tratschsucht. […]

Nach der Messe stürmt die Nonne Anastasia, der Schutzengel, in meine Klosterzelle in pleine parade. Es ist eine elegante Amtstracht nach Schnitt und Aufmachung, dazu in schwarz. Der großfaltige Mantel schleift am Boden, die Kutte reicht bis zu den Fußsohlen. Das Brusttuch verwischt den Busen. Am linken Handgelenk schaukelt der gehäkelte Rosenkranz. Das Stirnband über dem Kopftuch begrenzt streng das Antlitz.

Schwester Anastasia gibt unter Tränen eine Offenlegung zum Besten, ein Gesicht, das sich ihr zu weihevoller Morgenstunde kundgetan hat. Erschaut hat sie, was, wen? Mich und sich, uns beide im ewigen Leben. Aber wie? Ich throne auf einem silbernen Sessel. Und um mich schweben im Halbkreis weibliche Geschöpfe. Es sind die verflossenen Lieben, jene weiblichen Wesen, die mir in meiner langen Biografie so und anders nahe waren. Die mir zugetan waren und zugetan blieben in verschwenderischer Liebe. Oder mir schnöde den Rücken gekehrt haben, kaltherzig, auch aufgebracht, sogar klagend, je nachdem – gelangweilt aber nie. Darunter wehen die Mädchen der Frühe vorbei, diese engelhaften Wesen, die man als Schüler mit Herzklopfen angehimmelt hat, wegen denen man gelitten, sich ihnen aber nie genähert hat. Und nicht zuletzt die dunklen Gestalten, an denen man sich die Flügel verbrannt hat, die einem das Herz zur Mördergrube machten, die einen schäbig glauben ließen, der einzige Trost sei Verzweiflung, sogar Tod.

Die betrübte Nonne zählt sie auf. Es sind Schatten flügelschlagender Namen, die sie verschroben ausspricht. Ein Strom von Tränen ergießt sich auf das glänzende Brusttuch. Benommen habe ich mich von meinem Tischgestell erhoben und frage vor mich hin, den Kopf gesenkt: Was tun? Nichts! Das Kloster dreht sich mir im Kopf wie eine Sternwarte.

Sie küsst mir die Hand und bittet, ich möge sie segnen und ihr verzeihen: „Iertare!“ Hier und jetzt schon. Denn im Jenseits, weiß Gott, was dort sein wird. […]

Als sie sich erhebt, leuchtet ihr Antlitz. Und meines leuchtet auch.

Habe ich das Schreiben vor mir hergeschoben, wie üblich, und mich zufrieden gegeben mit dem Wäschekorb voller Bücher, Theologie und Mathematik, so ist dieser himmelblaue Traum meiner Beschützerin Anstoß, mich den Mächten und Menschen von einst zu stellen.

In diesem Kloster, dessen Chronik jüngst mit dem Jahr null begann, aber angelegt ist auf tausend Jahre, vertraue ich mich dem Gedächtnis des Papiers an – im Wortlaut verborgener Bildmarken, durchscheinender Wasserzeichen.“

(Aus: Eginald Schlattner, Wasserzeichen. Ludwigsburg: Pop, 2018, S. 11-23)

 

 

André Heller: E la nave va ...

 

Während Julian gerade an einem Fragment schrieb (er nannte seine Prosastücke so, weil er manchmal schon im Beginnen dachte, dass alles künstlerisch Getane Stückwerk bleiben musste und es kein wirkliches Gelingen, nur bes­tenfalls exzellentes Scheitern geben konnte), lösten sich von einem Augenblick zum anderen alle Bilder der rechten Seite seiner Wahrnehmung in oszillierende, gleißende Ver­zerrungen auf. Er erschrak mehr als jemals zuvor, und auch sein Gedärm krampfte sich unter der Angst zusammen und bescherte ihm wehenartige Schmerzen.

Ein Gehirnschlag, dachte er als Erstes, und dann: ein Tumor.

Es gibt ja nichts Erbarmenswerteres als einen Hypochon­der, der reale Ursachen für seine schlimmsten Befürchtun­gen erhält. Alle unnötigen und von anderen oft verlachten Untergangshysterien verdichten sich dann augenblicklich zu solcher Aussichtslosigkeit, dass man wie ein frisch Ein­gemauerter agiert: Panik bis in das Innerste jeder Zelle. Da Julian sich aber immerhin frei bewegen konnte, lief er zum nächsten Spiegel und betrachtete sein zweigeteiltes Ich: links der Körper, der ihm bekannt war: jener treue, etwas abgekämpfte Reisebegleiter der vergangenen Jahrzehnte, und, nachbarlich bündig daran stoßend, das wie durch die Linse eines Kaleidoskops verfremdete Zitterfleisch mit dem Augengehusche und dem irrlichternden Mehrfachmund.

Wie die gleichzeitige Anwesenheit im Salon des Friedens und in der Rüstkammer des Krieges war es. Das, was die Menschen eine Zerreißprobe nennen. Julian dachte: Hilfe! Wer immer auf Erden oder im Himmel mir beistehen kann, soll es rasch tun. Ihr Sessel und Teppiche, Stuckleisten und Bilderrahmen, helft mir, wenn ihr könnt! Mächte des Südens, Kräfte des Stephansdoms, der Plejaden, der Milch­straßen und Schönbrunns, kommt, mich zu retten, ehe die Angst mich vernichtet! Ich flehe um Beistand.

Jetzt begann er zu schwingen, wie er es einmal in der Kinowochenschau bei einer zum Spielzeug eines Taifuns gewordenen Hängebrücke beobachtet hatte. Gleich dreht es mich ein, dachte er noch, und dann stürzte er ins Bildlose.

Als ihm drei oder vier Minuten später das Bewusstsein zurückkehrte, war er ganz ruhig, und die erschreckenden Phänomene hatten sich verflüchtigt. Er bemerkte einen starken Kirschenduft in der Nase, als ob er die Zwischenzeit in einem Obstgeschäft verbracht hätte. Aber es war der Ge­ruch, der von Mébrats Fingerspitzen ausströmte; sie mas­sierte ihm die Schläfen.

»Sie lachen zu wenig, Herr Passauer. Das Nichtlachen schafft träges Blut, das zu dick ist, um bis in den Kopf zu fließen. Die Blutleere im Kopf stößt Sie dann für Augen­blicke aus der Welt.« Julian wusste nicht, welche Krankheit oder Heilung das hinter ihm liegende Erlebnis verkündete. Denn dass jeder innere Aufruhr genauso gut Erneuerung wie Abgesang bedeuten konnte, war schon für seine Mama eine Binsenweisheit gewesen, die Vaters Migräne stets als »Jetzt - macht- er- sich-wieder-besser- mit- sich- selbst- be­kannt-Anfälle« bezeichnete.

»Lachen Sie mehr«, sagte Mébrat ein wenig herrisch. Und Julian antwortete: »Halt deinen schönen Mund, Mébrat. Es gibt viel Lächerliches, aber wenig zum Lachen.« »Über das Lächerliche kann man genauso gut herzlich lachen«, gab Mébrat nicht nach.

»Ich bin gerade von den Toten auferstanden, und du willst mit mir diskutieren.«

»Ich will nur, dass Sie kein Beet für die Angstgötter sind.«

»Kein Beet für wen?«

»Für die Angstgötter. Das sind Geschöpfe aus verborge­nen Schichten. Von dort, wo wir nicht sind, von der Rück­seite der Weltenmünze sozusagen. Die haben zwar mehr enträtselt als die klügsten Irdischen, sind aber zu keiner­lei Gefühlen fähig. Sie ernähren sich nicht von Brot oder Fleisch, von Wein oder Wasser, sondern von der Angst der Menschen, und sie haben kein anderes Interesse, als uns in dieser Angst, die das Gegenteil von Liebe ist, festzuset­zen. Wir können das aber auch abwehren. Es liegt letztlich an unserem freien Willen, ob wir den Qualen unser Sein aushändigen. Es ist nicht leicht, aber schon der Wunsch, es nicht zu wollen, ist der Beginn der Rettung. Wie soll ich Ihnen diese Wahrheit erklären, Herr Passauer? Einem Vogel sind ja Fische Wunder, und die meisten Fische rätseln über das Fliegen, und doch ist sowohl das Fliegen als auch das Schwimmen wahr.«

»Ruf endlich einen Arzt«, sagte Julian, der ein wenig den Verdacht hegte, dass er doch noch nicht vollends aus der Verstörung erwacht sein könnte.

»Sie sind ganz gesund, Herr Passauer. Ich sehe es an Ihren Augen.«

»Was siehst du und wieso?«

»Die Augen sind nämlich ...«, begann Mébrat eine Er­klärung. Aber Julian hörte ihr nicht zu. Er war plötzlich ausgefüllt von dem Gedanken, dass er alles Gute immer zu selbstverständlich und undankbar entgegengenommen hatte. Sein Leben kam ihm in diesem Moment und zu sei­ner eigenen Überraschung, im Großen als eine Abfolge von gelungenen und vom Glück begünstigten Ereignissen vor und die quälerischen Turbulenzen und Bedrohungen nur jeweils als Anläufe zu etwas, das sich schließlich als licht­voll und gesegnet erwies.

»Sei still«, sagte er zu Mébrat. »Du hast Recht. Ich werde mich bemühen, keine Nahrung für die Angstgötter zu lie­fern.« Und dann sang er leise jenes Lied, das ihm vor langer Zeit bei den Maiandachten in der Schönbrunner Schloss­kapelle das liebste war: »Meerstern, ich dich grüße. O Ma­ria, hilf!«

In der folgenden Nacht träumte Julian, er sei eine Mischung aus Mensch und Schweizer Messer. Nach allen Richtungen konnte er nützliche Teile aus sich herausklappen: Scheren und einen Schraubenzieher, Säge, Feile, Stichel, Dosen­öffner und sogar eine Lupe. Er fand sich bewundernswert. Aber dann begann ihm vor dem vielen Sinn, den er in dieser Verwandlung besaß, zu ekeln. So löste er sich ab von dem Messer und spiegelte sich noch für einen Moment in dem polierten Rot mit dem eingelegten weißen Kreuz, das die Oberfläche des Gehäuses bildete. Und zum ersten Mal sah er in dieser Spiegelung etwas, das er für die Physiognomie seines Innersten hielt, und es war das Gesicht jenes Buben im Schlafwagen auf dem Weg nach Venedig, dem gerade der Kondukteur den mit Schokoladesplittern und Zimt be­streuten Milchkaffee offeriert. Und Julian liebte dieses Kind unsäglich, und da ihm bewusst war, dass er träumte, wollte er es unter allen Umständen ins Erwachen hinüberretten. Er begann zu weinen und weinte mit solcher Innigkeit, als wären die Tränen das Schiff Exodus, das als Einziges ihn, den Erwachsenen, der er war, und dieses Kind, das er auch war, in ein Gelobtes Land retten konnte. Vom Schluchzen erwachte er.

Aimée, der er von dem gestrigen Schreckensvorfall in seinem Arbeitszimmer nichts verraten hatte, schlief ne­ben ihm und atmete ruhig. Julian ging vorsichtig ins Bade­zimmer, wusch sich und zog sich an. Dann setzte er sich unter dem frühen Licht eines vollkommenen Augusttages in einen der geflochtenen Gartenstühle am Rand des klei­nen Kräutergartens vor den beiden ebenerdigen Küchen­fenstern. Er hörte dem Singen der Vögel zu, dann erhob er sich wieder und ging langsam in Richtung des Grandaschen Eidechsenrefugiums. Mébrat trat lachend aus dem Haus­tor und rief: »Heute wird es vielleicht geschehen, Herr Pas­sauer. Ich wünsche es Ihnen so sehr!«

Julian dachte dasselbe. Aber er wusste nicht, was es war, das geschehen würde. Er hatte die gewisse Stelle im Pflan­zendickicht erreicht und zwängte sich durch. Die Zweige schlugen hinter ihm wieder zusammen, als wären sie höl­zerne Wellen.

In alten Märchen gibt es Figuren, die unterwegs sind, et­was zu rächen. Durch Wälder und Ortschaften, über Berge und durch Flüsse marschieren sie, unermüdlich und unaufhaltsam, leicht bekleidet und schwer bewaffnet. Auf der Suche sind sie nach einem Schuldigen, den sie für ihr Un­glück verantwortlich halten. Wenn sie ihm endlich begeg­nen, köpfen sie ihn mit einem Streich und baden im Blut des Ungeheuers, und alles ist wieder gut. Julian dachte, dass es in seinem Leben nicht so einfach sein würde und dass es in Wahrheit keine Schuldigen gab und man sich immer selbst erlösen musste, und zwar ganz aus sich selbst heraus. Dann fielen ihm scheinbar grundlos einige der zahllosen Bezeichnungen ein, die es in Wien aus der Sicht von Män­nern für intime oder nähere Beziehungen mit Frauen gab:

Man hat eine Geliebte
oder
ein Gspusi
oder
eine Affäre
oder
eine leidenschaftliche Begegnung
oder
eine Mamsell Glück
oder
ein verschlepptes Kränk
oder
eine nahe Bekannte
oder
einen Lebensmenschen
oder
eine ewig gleiche Leier
oder
einen Trostversuch
oder
eine b'soffene G'schicht
oder
einen seelischen Überbrückungskredit
oder
eine unkluge Gewohnheit
oder
eine erotische Kümmerin
oder
eine Gefährtin
oder
eine Person, die ein Stück des Weges mithatscht
oder
einen Schmetterling
oder
eine Gespielin
oder
meine künftige Witwe
oder
ein Pantscherl
oder
ein Man-weiß-nix-Genaues
oder<> ein schönes Missverständnis
oder
eine Verlegenheitslösung
oder
ein Als-ob
oder
eine Herzensangelegenheit
oder
ein schlampertes Verhältnis
oder
ein Betthupferl
oder
eine Gefühlssackgasse
oder
eine Mesalliance
oder
ein Techtelmechtel
oder
jemanden für gewisse Stunden
oder
ein Besser-als-gar-nix.

Bei einem ihrer Altweibersommerbesuche in San Celeste sagte Julians Mama: »Vater hat es vor den Nazis so ge­graust, dass er regelmäßig einen Magenbitter nehmen musste, wenn er einen ihrer Aufmärsche sah oder die Stimme vom Hitler oder Goebbels aus dem Radio plärrte. ›Die Menschenfresser‹ hat er sie immer genannt. 1937 hat er sogar ernsthaft überlegt, Spanienkämpfer zu werden und mit dem Gewehr in der Hand in die Franquisten und die deutsche Legion Condor Löcher zu schießen. Ich habe es ihm natürlich ausgeredet, denn erstens standen wir zwei Monate vor der Verlobung und zweitens war der Papa für das Militärische eine monströse Fehlbesetzung, weil er zwar Kraft und einen festen Willen besaß, aber ihm jede Eignung zum Kameraden und für Kameraderien fehlte. Sich die Schulter amputieren lassen wäre ihm leichter gefallen als zu erlauben, dass ihm jemand draufklopft. Aber nicht aus Hochmut oder Dünkel, sondern aus Verehrung der Privatsphäre. Alle außer dir und mir haben mit ihm nur auf ausdrückliche Einladung verkehren dürfen.« Sie putzte sich mit einem monogrammierten Stofftaschentuch die Nase. »Was du nicht weißt, Julian, ist, dass ich einige flüchtige Liebhaber hatte während der Ehe und auch noch ein paar ganz Zerquetschte nach Vaters Tod. Nicht, weil ich den Papa nicht in fast jeder Hinsicht wunderbar fand, sondern weil einmal der Himmel über dem Belvederepark in der Dämmerung rot geflutet war oder weil einer so ein schmutziges Lachen hatte, gepaart mit einer Art, sich mit dem Daumen am Mundwinkel abstützend die Zigarette zu halten, die in gerade dieser Stunde unwiderstehlich war, oder wenn eine Amsel übermütig gepfiffen hat und es der erste warme Apriltag war, an dem der italienische Gefro­renen-Mann vor dem Schlosstor Eis verkaufte. Selbstver­ständlich hätte ich mich zwingen können zu widerstehen, aber welcher Gewinn wäre der Welt daraus erwachsen? Der Papa hat es natürlich nie gewusst, und mir schenkte es ein Gefühl von Freiheit, das man gerade in einer Liebes­ehe mit einem schwierigen Mann dringend zur Erholung braucht.«

»Warum erzählst du mir das?«, fragte Juliau, der über das Geständnis einigermaßen erstaunt und etwas pikiert war.

»Weil ich gerade daran dachte und vor dir keine Ge­heimnisse hab'.«

»Aber eine Ewigkeit war es doch offenbar ein Geheim­nis.«

»Vielleicht weil es eine Bedeutung hatte, eine Lebendigkeit wie ein Laib Brot, der frisch aus dem Backofen kommt und noch Wärme ausstrahlt. Jetzt und seit geraumer Zeit ist es aber tot und kalt und völlig bedeutungslos. Ich brauche die spezielle Freiheit nicht mehr, weil die Ehe verschwun­den ist, die dieser Freiheit ihren Sinn gab. Seit der Papa sich verabschiedet hat, ist er mir alles, das Dauernde und das Flüchtige, die Liebe und die Verliebtheit. Die Verstorbenen haben ja keine Möglichkeit, das Bild, das wir uns von ihnen erschaffen, zu zerstören. Sie sind wehrlos dem Ideal ausge­liefert, das wir ihnen andichten.«

(Aus: André Heller, Das Buch vom Süden. München 2018: dtv, S. 237-246)