Kunst, Erfahrung und Methode - TheoArt-komparativ

George Steiner und António Lobo Antunes


Video: George Steiner lädt António Lobo Antunes zum Gespräch

Deutsche Übersetzung: © 2011 TAP. Aus dem Portugiesischen von Ulrich Kunzmann



John Dewey

 

Die moralische Pflicht und die menschliche Funktion der Kunst kann vernünftig nur im Kontext der Kultur diskutiert werden. Ein besonderes Kunstwerk mag eine bestimmte Wirkung auf eine be­stimmte Person oder auf eine Anzahl von Personen ausüben. Die soziale Wirkung der Romane von Dickens und Sinclair Lewis ist unleugbar. Aber eine weniger bewußte und massiver beständige Anpassung der Erfahrung geht von der gesamten Umwelt aus, die durch die kollektive Kunst einer Zeit geschaffen ist. So wie physi­sches Leben nicht existieren kann ohne die Unterstützung der phy­sischen Umwelt, so kann sich auch moralisches Leben nicht fort­entwickeln ohne die Unterstützung einer moralischen Umwelt. Selbst technologische Künste bewirken in ihrer Gesamtheit etwas mehr, als nur eine Anzahl einzelner Bequemlichkeiten und Erleichterungen zu ermöglichen. Sie bilden kollektive Beschäftigungen und bestimmen damit die Richtung von Interesse und Aufmerk­samkeit und beeinflussen folglich Wunsch und Absicht.

Der edelste Mensch, der in einer Wüste lebt, nimmt etwas von deren Rauheit und Unfruchtbarkeit in sich auf, während die sehn­süchtige Erinnerung eines von seiner Gegend abgeschnittenen Bergbewohners einen Beweis darstellt, wie tief die Umwelt ein Teil seines Wesens geworden ist. Weder der Wilde noch der Zivilisierte ist, was er ist, durch angeborene Konstitution, sondern durch die Kultur, an der er teilhat. Das endgültige Maß für die Qualität dieser Kultur sind die Künste. Verglichen mit ihrem Einfluß scheint das direkt durch Wort und Vorschrift Gelehrte blaß und wirkungslos. Shelley übertrieb nicht, als er sagte, daß die morali­sche Wissenschaft nur »die Elemente arrangiert, welche die Dich­tung geschaffen hat«, falls wir »Dichtung« so erweitern, um alle Produkte imaginativer Erfahrung einzuschließen. Die Gesamtsum­me der Wirkung aller reflektierenden Traktate über Moral ist unbe­deutend im Vergleich mit dem Einfluß der Architektur, des Ro­mans, des Dramas auf das Leben, der bedeutend wird, wenn »intel­lektuelle« Äußerungen die Tendenzen dieser Künste formulieren und sie mit einer intellektuellen Basis versehen. Eine »innere« ra­tionale Hemmung ist ein Zeichen des Rückzugs aus der Realität, es sei denn, es handelt sich um die Reflexion substantieller Umwelt­einflüsse. Die politischen und ökonomischen Künste, die Sicher­heit und Gewandtheit gewähren mögen, verbürgen nur dann ein reiches und erfülltes menschliches Leben, wenn sie von einer die Kultur bestimmenden Blüte der Künste begleitet werden.

Worte liefern ein Zeugnis dessen, was geschah, und geben durch Forderung und Befehl die Richtung für spätere Handlungen an. Literatur übermittelt den Sinn der Vergangenheit, der in der gegen­wärtigen Erfahrung bedeutsam ist und wirkt prophetisch für künf­tige größere Entwicklungen. Nur imaginative Anschauung be­kommt die Möglichkeiten heraus, die im Gewebe des Aktuellen verwoben sind. Die ersten Bewegungen der Unzufriedenheit und die ersten Ankündigungen einer besseren Zukunft sind immer in Kunstwerken zu finden. Die Durchdringung der charakteristisch neuen Kunst einer Periode mit Werten, verschieden von solchen, die sich durchgesetzt haben, ist der Grund dafür, warum der Kon­servative solche Kunst amoralisch und schmutzig findet und zur ästhetischen Befriedigung Zuflucht bei den Produkten der Vergangenheit nimmt. Tatsachenwissenschaft mag Statistiken sammeln und Tabellen anlegen. Aber ihre Voraussagen sind – wie man tref­fend gesagt hat – nur umgekehrte vergangene Geschichte. Wechsel im Klima der Imagination ist der Vorläufer von Wechseln, die mehr als die Details des Lebens beeinflussen.

Die Theorien, die der Kunst direkte moralische Wirkung und Ab­sicht zuschreiben, gehen fehl, weil sie nicht die gesamte Zivilisation in Rechnung stellen, in deren Kontext die Kunstwerke hergestellt und genossen werden. Ich würde nicht sagen, daß sie dahin tendie­ren, Kunstwerke als eine Art sublimerter äsopscher Fabeln zu be­handeln. Aber sie alle neigen dazu, einzelne Werke, die sie für besonders aufbauend halten, von ihrem Milieu zu trennen und von der moralischen Funktion der Kunst in Begriffen einer strikt per­sönlichen Beziehung zwischen den ausgewählten Werken und ei­nem besonderen Individuum zu denken. Ihre ganze Konzeption der Moral ist so individualistisch, daß ihnen der Sinn für den Weg abgeht, in der Kunst ihre menschliche Funktion ausübt.

Matthew Arnolds Diktum, daß »Dichtung Lebenskritik ist«, ist ein sprechendes Beispiel. Es suggeriert eine moralische Absicht auf seiten des Dichters und ein moralisches Urteil auf seiten des Le­sers. Man versäumt die Beobachtung oder auf alle Fälle die Anga­be, wie die Dichtung eine Kritik des Lebens ist; nämlich, nicht direkt, sondern durch Aufweis, durch imaginative Anschauung ge­richtet an imaginative Erfahrung (nicht Urteilssetzung) von Mög­lichkeiten, die zu den realen Bedingungen kontrastieren. Ein Sinn für unverwirklichte Möglichkeiten, die verwirklicht werden könn­ten, wenn sie in Gegensatz zu den realen Bedingungen gebracht werden: dies ist die durchgreifendste »Kritik« an diesen Bedingun­gen. Durch einen Sinn für Möglichkeiten, die sich vor uns eröff­nen, werden wir der Beengtheiten bewußt, die uns behindern, und der Lasten, die uns bedrücken.

Garrod, Nachfolger von Matthew Arnold in mehr als einem Sinn, hat witzig bemerkt, wir verübelten der didaktischen Poesie nicht, daß sie belehrt, sondern daß sie nicht belehrt, ihre Untauglichkeit. Er ergänzte zur Wirkung, Dichtung lehre, wie Freunde und das Leben lehren, durch das Sein und nicht durch ausdrückliche Ab­sicht. An einer anderen Stelle sagt er, »poetische Werte sind schließlich doch Werte in einem menschlichen Leben. Man kann sie nicht von anderen Werten abgrenzen, als ob die menschliche Natur in Schotten angelegt wäre«. Ich denke, man kann nicht übergehen, was Keats in einem seiner Briefe über die Handlungs­weise von Dichtung gesagt hat. Er fragt nach dem Ergebnis, wenn jedermann aus seiner imaginativen Erfahrung »eine luftige Zitadel­le« spinnen würde, wie das Netz, das die Spinne spinnt, »indem sie die Luft mit einem wunderbaren Bogen füllt«. Denn, sagt er, »der Mensch sollte nicht debattieren oder Positionen behaupten, son­dern Ergebnisse seinem Nachbarn zuflüstern und so mit jedem Keim des Geistes Kraft aus der ätherischen Form saugen, jedes menschliche Wesen könnte dann groß werden und die Menschheit würde statt einer weiten Heide mit Stechginster und Dornbüschen und hier und da einer vereinzelten Kiefer oder Eiche eine große Demokratie von Waldbäumen werden!«

Durch Kommunikation wird Kunst das unvergleichliche Werk­zeug der Unterweisung. Aber deren Art ist so entfernt von dem, was man gewöhnlich mit der Vorstellung von Erziehung verbindet, es ist eine Art, welche die Kunst so weit über das erhebt, was wir uns gewöhnlich unter Unterweisung vorstellen, daß wir durch jede Andeutung von Lehren und Lernen in Verbindung mit der Kunst abgestoßen werden. Unser Protest ist jedoch tatsächlich eine Refle­xion über Erziehung, die mit so pedantischen Methoden vorgeht wie Ausschluß der Imagination und Erweckung der Wünsche und Gefühle der Menschen. Shelley sagte: »Die Imagination ist das große Instrument des moralisch Guten, und Dichtung erreicht die­se Wirkung, indem sie sich nach den Ursachen richtet.« »Folglich«, fährt er fort, »wäre ein Dichter im Unrecht, wenn er seine eigenen Konzeptionen von richtig oder falsch in seinen dichterischen Schöpfungen verkörperte, da sie gewöhnlich die seiner eigenen Zeit und Gegend sind ... Bei der Annahme dieser niedrigeren Pflicht ... würde er auf die Teilhabe an der Ursache verzichten« — die Imagination. Es sind die unbedeutenderen Dichter, die »häufig ein moralisches Ziel gesucht haben, und die Wirkung ihrer Dich­tung verringert sich in genau dem Verhältnis, in dem sie uns nöti­gen, auf diesen Zweck einzugehen«. Aber die Macht imaginativer Entwürfe ist so groß, daß er die Dichter »die Gründer der zivili­sierten Gesellschaft« nennt.

Das Problem der Beziehung von Kunst und Moral wird zu oft behandelt, als ob es nur auf seiten der Kunst existierte. Man nimmt prinzipiell an, die Morallehren seien zumindest ideell, wenn nicht gar tatsächlich befriedigend, und die einzige Frage sei, ob und wie sich die Kunst einem bereits entwickelten moralischen System an­passen sollte. Aber Shelleys Äußerung trifft ins Herz der Sache. Imagination ist das wichtigste Instrument des Guten. Es ist mehr oder weniger ein Gemeinplatz, festzustellen, jemandes Vorstellun­gen und Behandlung seiner Kameraden hänge von seiner Kraft ab, sich selbst imaginativ an ihre Stelle zu setzen. Aber der Primat der Imagination dehnt sich weit über den Wirkungsbereich direkter persönlicher Beziehungen aus. Außer dort, wo »ideal« in konven­tioneller Achtung oder als Bezeichnung für eine sentimentale Träu­merei gebraucht wird, sind die idealen Faktoren bei jeder Anschau­ungsweise und menschlichen Redlichkeit imaginativ. Die histori­sche Verbindung von Religion und Kunst hat ihre Wurzeln in die­ser gemeinsamen Qualität. Folglich ist Kunst moralischer als die Sittenlehren. Denn diese sind entweder Absegnungen des Status quo, Reflexionen herrschender Gebräuche und Konsolidierungen der bestehenden Ordnung, oder sie tendieren dazu, es zu werden.

Die moralischen Propheten der Menschheit sind immer Dichter gewesen, auch wenn sie in freien Versen oder Parabeln sprachen. Einheitlich ist jedoch ihre Vision der Möglichkeiten bald in eine Proklamation von bereits existierenden Tatsachen verwandelt wor­den und in halbpolitischen Institutionen verhärtet. Ihre imaginati­ve Darstellung von Idealen, die Denken und Wünschen leiten soll­ten, sind wie Regeln der Politik behandelt worden. Kunst ist das Mittel gewesen, den Sinn für Absichten lebendig zu erhalten, die der Evidenz vorauseilten, und von Bedeutungen, die verhärtete Gewohnheit überschreiten.

Der Moral wird in Theorie und Praxis ein eigener Bereich zugewie­sen, weil sie die Teilungen reflektiert, die in den ökonomischen und politischen Institutionen verkörpert sind. Wo immer soziale Tren­nungen und Schranken existieren, legen ihnen entsprechende Prak­tiken und Ideen Grenzen fest, so daß unbefangenes Handeln unter Beschränkungen gestellt wird. Schöpferische Intelligenz wird mit Mißtrauen betrachtet; Neuerungen, die das Wesen von Individuali­tät ausmachen, werden gefürchtet und vielfältiger Antrieb wird geknebelt, um den Frieden nicht zu stören. Wäre Kunst eine aner­kannte Macht in der menschlichen Gesellschaft und würde sie nicht behandelt wie das Vergnügen eines eitlen Augenblicks oder als Mittel prahlerischer Zurschaustellung und würde Moral als mit jedem in der Erfahrung geteilten Wertaspekt identisch verstanden werden, würde das »Problem« der Beziehung von Kunst und Mo­ral nicht existieren.

Die Idee und Praxis der Moral sind mit Konzeptionen durchsetzt, die wegen ihrer Verteilung von Lob und Tadel, Belohnung und Strafe Hindernisse aufrichten. Die Menschheit wird in Schafe und Böcke eingeteilt, in Lasterhafte und Tugendsame, Gesetzestreue und Kriminelle, in das Gute und Böse. Jenseits von gut und böse zu sein ist für den Menschen eine Unmöglichkeit und doch sind die idealen Faktoren der Moralität immer und überall jenseits von gut und böse, solange das Gute nur das bedeutet, was gelobt und belohnt, und das Böse das, was gemeinhin verurteilt oder geächtet wird. Weil Kunst gegenüber Ideen von Lob und Tadel gänzlich unschuldig ist, wird sie von den Sittenwächtern mit argwöhnischen Augen beobachtet oder es wird nur die Kunst widerwillig zugelas­sen, die selbst so alt und »klassisch« ist, daß sie konventionelles Lob empfängt, wofern nur wie beispielsweise im Fall Shakespeares Anzeichen von Rücksicht auf konventionelle Moral erfinderisch aus dem Werk bezogen werden können. Und doch konstituiert gerade diese Indifferenz gegenüber Lob und Tadel wegen ihrer Inanspruchnahme imaginativer Erfahrung das Zentrum der mora­lischen Kraft der Kunst.

Shelley sagte: »Das große Geheimnis der Moral ist Liebe oder ein Überschreiten unserer Natur und die Identifikation unserer selbst mit dem Schönen, das in Gedanke, Tat oder Person außerhalb unserer selbst existiert. Um außergewöhnlich gut zu sein, muß man intensiv und umfassend der Imagination folgen.« Was für das Individuum gilt, gilt auch für das ganze Moralsystem in Gedanke und Tat. Während die Perzeption der Einheit des Möglichen und Wirklichen in einem Kunstwerk in sich selbst ein großes Gut ist, hört das Gute nicht mit der unmittelbaren und besonderen Gele­genheit auf, in der es sich befindet. Die Vereinigung, die sich in der Perzeption darstellt, dauert in der Erneuerung von Impuls und Denken an. Die ersten Andeutungen weitgehender und umfängli­cher Neuorientierungen von Wunsch und Absicht sind notwendig imaginativ. Kunst ist eine Art der Voraussage, wie sie nicht in Tabellen und Statistiken anzutreffen ist, und sie gibt Möglichkeiten menschlicher Beziehungen zu verstehen, die nicht in Regel und Vorschrift, Ermahnung und Verwaltung anzutreffen sind.

But art, wherein man speaks in no wise to man,
Only to mankind – art may tell a truth
Obliquely, do the deed shall, breed the thought.

(Aber Kunst, worin nicht der Mensch zum Menschen spricht,
Nur zur Menschheit – Kunst soll von einer Wahrheit künden
Verborgen, die Tat zu vollbringen, den Gedanken zu erzeugen.)

 

(Aus: John Dewey, Kunst als Erfahrung. Frankfurt a.M. 2016: Suhrkamp, S. 397-403)

 

 

Karl Popper

 

„Obwohl es im Allgemeinen zutrifft, dass wir nur solche Tatsachen auswählen, die mir irgendeiner vorgefassten Theorie zusammenhängen, so stimmt es doch nicht, dass wir nur solche Tatsachen auswählen, die die Theorie bestätigen oder sie gleichsam wiederholen. – Die Methode der Wissenschaft besteht vielmehr darin, dass man sich nach Tatsachen umsieht, die zur Widerlegung der Theorie führen könnten. Diesen Vorgang nennen wir Überprüfung der Theorie – wir sehen nach, ob die Theorie nicht einen Fehler enthält. Zugegeben, dass die Tatsachen im Hinblick auf die Theorie ausgewählt werden, und zugegeben, dass sie die Theorie bestätigen: Wenn die Theorie den Überprüfungen, den Widerlegungsversuchen standhält, so ist sie jedenfalls mehr als eine leere Wiederholung einer vorgefassten Meinung. Denn sie bestätigen die Theorie nur dann, wenn sie das Ergebnis erfolgloser Versuche sind, deren Voraussetzungen als ungültig zu erweisen, und wenn sie daher ein sprechendes Zeugnis zugunsten der Theorie ablegen. Es ist also meiner Meinung nach die Möglichkeit, sie zu widerlegen, ihre Falsifizierbarkeit, die die Möglichkeit der Überprüfung einer Theorie und damit ihre Wissenschaftlichkeit bestimmt.“

(Aus: Karl Popper, Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. München: Piper, 2002, S. 174f)

 

 

Thomas Nagel

 

„Die Philosophie muss komparativ vorgehen. Das Beste, was wir tun können, ist, auf jedem wichtigen Gebiet so vollständig und sorgfältig wie möglich konkurrierende alternative Konzeptionen zu entwickeln, die sich nach unseren jeweiligen Sympathien richten, und zu prüfen, wie sie gegeneinander abschneiden. Das ist eine glaubwürdigere Form des Fortschritts als der entscheidende Beweis oder die Widerlegung.“

(Aus: Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2016, S. 181)

 

 

Thomas Bernhard: Die Macht der Gewohnheit (Salzburger Festspiele 1974)


YouTube-Video, abger. 14.05.2020