Kostner Peter - Der musikpädagogische Circulus vitiosus - TheoArt-komparativ

Der musikpädagogische Circulus vitiosus

Eine aktuelle Betrachtung

von Peter Kostner

 

„In der äußeren Rangordnung der Fächer, die ja nur die innere Bewertung widerspiegelt, steht Musik an vorletzter Stelle. Im Stundenplan bedenkt man sie mit letzten oder Nachmittagsstunden. Es ist kein Wunder, daß man dieses Anhängsel, diese Randerscheinung, die man so gerne als Erholung und Entspannung nach dem Ernst der schulischen Arbeit betrachtet […], am leichtesten entbehrlich findet.“ (Max Haager, 1948, S. 29) Man könnte meinen, eine aktuelle Beurteilung des Stellenwerts schulischer Musikerziehung. Dieses Klagelied stimmt Max Haager allerdings bereits im Jahr 1948 an.

Haben die MusikpädagogInnen immer schon gejammert und den Abgesang auf das Kulturland Österreich angestimmt? Oder hat sich die Situation derart geändert, dass man heute frohlocken und die düsteren Zeiten der Musikerziehung ins Gestern verbannen kann? Da würden wohl viele engagierte Lehrer/-innen laut aufschreien, wenn man die heutige Situation als eine „musikerziehungsfreundliche“ bezeichnen würde. Die Musik generell ist zwar so präsent wie noch nie, es wird in der breiten Bevölkerung mit Sicherheit so viel musiziert wie niemals zuvor, aber warum hat sich obige Diagnose aus den frühen Nachkriegsjahren - was den schulischen Musikunterricht anlangt - doch eher noch ins Negative gesteigert?

Die Musik an sich ist ein positiv besetzter Begriff, es wird selten jemanden geben, der den Wert von Musik als Produzent, Reproduzent oder Konsument negieren würde. Auch politisch Verantwortliche bekennen immer wieder vollmundig, wie wichtig denn für unsere heranwachsende Jugend und unsere Gesellschaft eine musikalische (Aus-)Bildung sei. Freilich die Kluft zwischen mündlichen Aussagen (und oft auch Versprechungen für die direkt darin Involvierten, wie z.B. Lehrpersonen) und realen Handlungen (zweifelsohne oft auch von gewissen Zwängen geleitet) ist eine große. Obwohl viele PädagogInnen mit ihren Schulkassen sehr oft Großartiges leisten, obwohl interessierten ZuhörerInnen bei Chorkonzerten innerhalb des Bundesjugendsingens vor Staunen der Mund offen bleibt, obwohl in Schwerpunktschulen erstaunenswerte Musiktheaterprojekte zur Aufführung gelangen, obwohl …., steht es außer Zweifel, dass das Schulfach Musik bei weitem nicht so positiv besetzt ist wie die Musik an sich.

Das Musikschulwesen ist mittlerweile in den Bundesländern bestens organisiert, mitunter lange Wartelisten belegen ein großes Interesse an musikalischer Ausbildung. Preisträgerkonzerte zeigen erstaunliche Leistungen der heranwachsenden Jugend. Also: Alles paletti im Musikland Österreich? Mitnichten, denn eine musikalische Allgemeinbildung, die in den Pflichtschulen alle Kinder erreicht, wird zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Im Rahmen der Schulautonomie wurden im Bereich der Sekundarstufe I Stunden vor allem auf der 7. und 8. Schulstufe gestrichen, weil es ja besonders in diesem Alter schwierig sei, Pubertierende für die Musik zu begeistern. Dies mag zweifelsohne stimmen, und doch kann mit einem entsprechenden Fachwissen, den geeigneten Methoden und Materialien „musikalisches Feuer“ entfacht werden. Dies ist für die vielen ungeprüft eingesetzten LehrerInnen im NMS-Bereich allerdings schwer zu bewältigen, hier fehlen logischerweise oft die fachlichen Voraussetzungen. Die armen KollegInnen flüchten oft in die Vermittlung von „Stoff“, anstatt sich mit Stimme, Körper und Instrument zu beschäftigen. Wie oft wurde schon auf Fachdidaktik-Tagungen dieses Problem erörtert, wie oft wurden Stellungnahmen und Resolutionen vom Bildungsministerium abwärts an alle Verantwortlichen im Bildungssystem verschickt, diesen unhaltbaren Zustand endlich zu beseitigen? Geschehen ist diesbezüglich gar nichts!

Die Struktur der PädagogInnenbildung neu gab mit einem im Vergleich zur bisherigen Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen zeitlich deutlich erweiterten Studium berechtigten Anlass zur Hoffnung, auch die Musikerziehung könne sich hier sinnvoll und gut positionieren. Es geschieht genau das Gegenteil! Was hier nun an den einzelnen Häusern besonders im Primarstufenbereich an Ausbildungsangebot oder, wenn man will, auch an Ausbildungspflicht in den Studienarchitekturen und Curricula angeboten wird bzw. vorhanden ist, grenzt mitunter an eine Negierung bzw. Auslöschung der Musikpädagogik. Wenn man Argumentationen hört, dass das „Angstfach“ Musikerziehung drastisch reduziert werden müsse, um in Zukunft den LehrerInnenbedarf decken zu können und um vor allem wieder männliche Studienwerber (denn Männer würden so ungern singen) zu gewinnen, dann kommt kalter Schauer hoch. Gerade dort, wo die Begeisterung für die Musik grundgelegt werden kann und muss, sollen in Zukunft PädagogInnen mit einer Musikausbildung unterrichten, die in manchen österreichischen Bundesländern nicht einmal mehr als abgespeckte Light-Version bezeichnet werden kann. Die Pädagogische Hochschule Tirol bemüht sich hier im Rahmen der Möglichkeiten zumindest um eine halbwegs gediegene Grundausbildung. Tatsache ist, dass die Ausbildung zum Lehramt in der Primarstufe beinahe in allen Hochschulen Österreichs mit einer zum Teil enormen Reduktion im Fachbereich Musikerziehung erfolgen wird (und teilweise war sie seit der Hochschulwerdung im Jahr 2007 schon eine „Sparflammenausbildung“). Es leben die Zeiten, in denen in den 80er Jahren des letzten Jhs. österreichweit die Ausbildung für das VS-Lehramt in ME mit 17 Semesterwochenstunden erfolgte! Eine im neuen System angedachte Schwerpunktausbildung wird zwar einigen PrimarstufenlehrerInnen sehr gute Qualifikationen vermitteln können, aber wie unterrichten dann diejenigen Lehrpersonen, welche einen anderen Schwerpunkt gewählt haben, den musikalischen Bereich? Denn ein FachlehrerInnensystem in den sog. „Begabungsfächern“ wird eine Stellenbesetzungspolitik in der Grundschule nicht bewältigen können!

Wie nun die Lehramtsausbildung im Sekundarstufenbereich erfolgen wird, steht derzeit noch etwas in den Sternen. In den einzelnen Entwicklungsverbünden ist man um Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Hochschulen bemüht. Diese funktioniert da etwas besser und dort etwas schlechter. Die PädagogInnenbildung neu würde die Chance bieten, Erfahrungen, Stärken und Expertisen zwischen den Institutionen auszutauschen bzw. diese zu bündeln. So könnten die künstlerische „Schmalspurausbildung“ der pädagogischen Hochschulen deutlich aufgewertet, der Praxisbezug und die schulpraktischen Studien der universitären Ausbildung gestärkt werden (wobei diese Bewertung an den verschiedenen Standorten Österreichs durchaus differenziert zu sehen ist). Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass hier Kooperationen und Vernetzungen stattfinden, welche einer gediegenen (schulischen) Musikpädagogik dienlich sind. Dies scheint allerdings derzeit nicht unbedingt der Fall zu sein. Vor allem ist hier zu beachten, nachdem die konzeptionelle Führung in diesem Bereich den Universitäten obliegt, dass der größere Teil der 10 bis 14-Jährigen in der NMS die Pflichtschule absolviert. Es gilt zwar derselbe Lehrplan, aber die Bedingungen und Zugänge für gelingenden und gewinnbringenden Musikunterricht sind hier doch gänzlich andere als in der AHS.

Man ist um die Schulmusik in Österreich redlich bemüht, sie ist vielen Pädagogen ein Anliegen (einzelnen Personen und auch den Engagierten in den verschiedenen „musikalischen Verbünden“ wie AGMÖ, BAGME, LAGs, …). Man arbeitet an Innovationen (z.B. Kooperationen mit den Musikschulen, der „Stimmbogen“ stellt das qualitätsvolle Singen in den Mittelpunkt, etc.) und Konzepten. Die von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II und auf höherer Ebene sogar für die PädagogInnenbildung an den Pädagogischen Hochschulen formulierten Kompetenzen in Musik versuchen einer „Beliebigkeit“ schulischer Musikerziehung entgegenzuwirken und sich auch an internationalen Entwicklungen zu beteiligen bzw. sogar Impulse nach außen abzugeben. Diese Kompetenzen werden allerdings schwer erreichbar sein, wenn sich ein „musikpädagogischer Circulus vitiosus“ nicht unterbrechen lässt. Schlechter Musikunterricht in der Primarstufe von nicht entsprechend ausgebildeten PädagogInnen wird wenig musikalische Begeisterung für die Sekundarstufe entfachen können, auf Hochschul- und Universitätsebene verlieren wir à la longue die für die Musik brennenden angehenden PädagogInnen, zumal die schulischen musikalischen Erfahrungen wenig motivierend waren. Eine etwas drastische Sichtweise, die zum Teil heute schon gilt, aber sich in Zukunft noch satt verstärken könnte. Die guten Lehrkräfte in den Musikschulen, Konservatorien und Universitäten werden die musikalischen Talente im vokalen und instrumentalen Bereich finden, fördern, ausbilden und zu Höchstleistungen animieren. Aber es geht um die musikalische Grundausbildung für alle Kinder. Denn wer geht sonst in Zukunft noch ins Sinfoniekonzert oder ins Musiktheater?

Noch einmal der Blick zurück: „Österreich, das Land der größten und besten musikalischen Tradition, läuft Gefahr, daß seine einstige Vormachtstellung auf diesem Gebiete wesentlich geschmälert wird, wenn nicht eine erfolgreiche Musikerziehung das musikalische Bildungsniveau des Volkes so weit hebt, daß eine Anschlußmöglichkeit an die inzwischen weit fortgeschrittene musikalische Hochkunst geschaffen wird“, so die Ängste von Franz Pandion im Jahr 1948. (Franz Pandion, 1948, S. 29) Das Verständnis für eine musikalische Hochkunst und dessen Praxis ist eine zu erstrebende Seite der Musikpädagogik, das Verständnis für Musik jeglicher Art sowie deren Praxis und die Offenheit dafür die andere. Das Bestreben aller engagierten MusikerInnen gilt einer „erfolgreichen Musikerziehung“ - wie es Pandion formuliert hat – hier sind uns allerdings ziemlich oft die Hände auf den Rücken gebunden, sodass wir uns leider sehr schwer rühren können!

 

Literaturverzeichnis

• Haager, M. (1948). Gedanken und Vorschläge zum Aufbau des Musikunterrichts in der Mittelschule. In Musikerziehung, Zeitschrift der Musikerzieher Österreichs. (S.29) (Heft 2). Wien: ÖBV.
• Pandion, F. (1948). Gedanken und Vorschläge zum Aufbau des Musikunterrichts in der Mittelschule. In Musikerziehung, Zeitschrift der Musikerzieher Österreichs. (S.30) (Heft 2). Wien: ÖBV.
• Sammer, G. (2014). Kompetenzorientierter (Musik-)Unterricht. In MIP – Die Praxiszeitschrift für den Musikunterricht. (S. 6-10) (Heft 41). Innsbruck/Neu-Rum: Helbling.