Tschuggnall Peter - TheoArt-komparativ

Tschuggnall Peter

STUDIA NIEMCOZNAWCZE Warszawa 2009, tom XLI

Peter Tschuggnall (Innsbruck)

Northrop Frye, der Mythos und die Bibel

 

In Hinblick auf eine frühe Kultur, die er bestimmt und an der er seinerseits sich orientiert, kann der Mythos – nach Platon Ausdruck einer philosophischen Idee – als Deutungsversuch einer Wahrheit gesehen werden, die bestimmend ist, obwohl sie durch historisch gesicherte Fakten nicht belegt werden kann. Treffend charakterisiert dies der polnische Philosoph Leszek Kolakowski, der mit seinem Essay Die Gegenwärtigkeit des Mythos zu einer Erweckung des mythischen Bewusstseins anregen will. Erdachte und erzählte der frühe Mensch Mythen, so erfuhr er gerade darin die Ordnung des Daseins, denn er wusste von den Energien und Gesetzen, die die Wissenschaft feststellt, noch nichts. Mythos bedeutet im eigentlichen Sinne „Wort“, es besitzt Macht und Kraft, indem es wiederholt und immer wieder erzählt wird. Mythen können auch eine geheiligte Grundordnung bilden, die das Fortbestehen alter Vorstellungen, die in einem betreffenden Gebiet vorkommen, rechtfertigen oder einen Wandel vorantreiben.[1] Nach Hans Blumenberg sind Mythen „Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns“; ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, „sie auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen. [...] Es ist das Verhältnis, das in der Musik unter dem Titel ‚Thema mit Variationen‘ in seiner Attraktivität für Komponisten wie Hörer bekannt ist. Mythen sind daher nicht so etwas wie ,heilige Texte‘, an denen jedes Jota unberührbar ist.“[2]

Das Folgende will zuerst ein Streiflicht auf das Verhältnis von Mythos und Religion werfen, in einem weiteren Schritt einige Aspekte des Zusammenhangs von Bibel, Mythos und kulturgeschichtlicher Relevanz referieren, wie sie der kanadische Literaturkritiker Northrop Frye vorgestellt hat, und in einem dritten Schritt die vorwiegend kulturelle Sprengkraft dieses Spannungsfeldes vorstellen, die im Besonderen Georg Picht zur Diskussion stellte.

I.

Das Verhältnis von Mythos und Religion und der Zusammenhang mit dem Phänomen der Kunst wird, obgleich von alters her in menschliche Einstellungen eingegraben und bezeugt, stets von neuem diskutiert und unterschiedlich bewertet. Nach Mogens Bröndsted finden wir im Mythos den ursprünglichsten dichterischen Niederschlag der religiösen Vorstellungen, und auch Zoran Konstantinovic erinnert an den Zusammenhang von Mythos, Literatur und Religion:

„Religion und Dichtung haben ihren Ursprung im Mythos und schon von den frühesten Mythen an lässt sich allein im Versuch, der Vorstellung vom Übermenschlichen, vom Transzendentalen auch einen Namen zu geben, das Bemühen nach besonderer sprachlicher Gestaltung eines solchen Namens erkennen. Diese frühesten Mythen verbinden sich dann mit Träumen und Erzählungen von Gott und sie werden durch religiöse Symbole bereichert. So ist in der Dichtung neben allen anderen Erfahrungen aus sämtlichen objektivierbaren Bereichen des menschlichen Erkennens, Handelns, Fühlens und Gestaltens auch die Erfahrung des Religiösen als einer ästhetischen Erfahrung enthalten und sie lässt sich kontinuierlich durch die gesamte Weltliteratur hindurch verfolgen.“[3]

Der religiös inspirierte Mensch will durch die Vergegenwärtigung von Mythen dem Einen Gott oder den Göttern nahe kommen und am Sein teilhaben; in der Nachahmung der göttlichen Modelle drückt sich seine Sehnsucht nach Heiligkeit und zugleich sein ontologisches Heimweh aus; die heilige Zeit ist insofern eine mythische Urzeit, die wieder gegenwärtig gemacht wird. Interessant scheint, dass in den biblischen Mythen die Zeiten gleichsam teleskopisch zusammengeschoben werden: Der „Held“ des jüdischen Mythos ist nicht nur von den Taten und Gedanken seiner Umwelt geprägt; er ist sich seines Einflusses auch auf das Schicksal seiner Nachkommen bewusst und wird seinerseits vom Verhalten seiner Nachfahren geprägt.

Von psychologischer Seite aus hat Carl Gustav Jung die Bedeutung des Symbols hervorgehoben, wobei er zwischen dem Zeichen als einem Signal, das auf etwas hinweist, was es selbst nicht ist, und dem Symbol, das die angedeutete Wirklichkeit schon geheimnisvoll in sich enthält, unterscheidet. Ulrich Mann schreibt:

„Mythos und Symbol sind im Grund eines und dasselbe. Nach Jungs Verständnis ist das Wesentliche am Symbol ja seine Lebendigkeit, das echte Symbol, der Archetypos, löst immer ein Geschehen, also eine Geschichte aus. Das gilt ebenso für Ottos Begriff des ,echten‘ Mythos. Wir können sagen: Mythos ist das Sich-Ereignen der symbolischen Gestalt; Symbol ist die Gestalt des sich mythisch Ereignenden. Und beidemal leuchtet Ganzheit auf, genauer: ganzheitliche Beziehung zum Ganzen! So ist das echte Symbol, ist der echte Mythos der lebensträchtige Kern lebendiger Religion. [...] Der ‚echte‘ Mythos [...] stammt gewiss aus der ‚Wahrheit, die im Verborgenen liegt‘ (Psalm 51,8), doch ist diese Verborgenheit nie so groß, dass von ihr überhaupt nichts zu ahnen wäre. Die Echtheit des Mythos lässt sich am eigenen Erspüren immer, wenngleich natürlich immer nur annähernd, nachprüfen. Sie ist also letztlich doch konstatierbar.“[4]

Auffallend ist, dass der Begriff des Mythos im Neuen Testament nicht in der Bedeutung der zitierten Stelle aus Psalm 51 interpretiert wird (vgl. die Stellen 1 Tim 1,4; 4,7; 2 Tim 4,4; Titus 1,14; 2 Petr 1,16). Insofern seit Aufklärung und Romantik jedoch ein vertieftes und im Vergleich zu Spätantike und Mittelalter differenzierteres Verständnis des Mythos gewonnen werden konnte, ist die moderne Religionswissenschaft überzeugt, nicht ohne die Kategorie des Mythos auszukommen.[5]

Rudolf Bultmann stellte zur Diskussion, dass die Bibel mythisch denkt und die Vorstellungsbilder der Bibel mythologisch orientiert sind.[6] Seine hermeneutische Methode der Entmythologisierung, die er 1941 vorgeschlagen hat, war seiner Meinung nach Missverständnissen ausgesetzt. Er war sich dessen bewusst: „‘Entmythologisieren‘ – ein sicherlich unbefriedigendes Wort!“[7], und in Vorlesungen an der Yale- und Vanderbilt-Universität suchte er 1951 seine Absicht klärend darzulegen. Für Bultmann ist das „Entmythologisieren“ eine Deutungsmethode. Er will die tiefere Bedeutung hinter den mythologischen Vorstellungen wieder aufdecken, denn die Weltanschauung der Schrift sei mythologisch und daher dem modernen Menschen, dessen Denken von der Naturwissenschaft her geformt und nicht mehr mythologisch ist, fremd. Primär geht es nicht um das Entfernen mythologischer Aussagen, sondern um deren Auslegung.

In dem Zusammenhang einer sogenannten „Entmythologisierung“ scheint ein literarischer Text von Interesse. Wir lesen ihn unter dem Titel „Versuch einer Auflösung der Mythologie“ in dem Band Im Vaterland der Mythen des polnischen Dichters Zbigniew Herbert:

„Die Götter versammelten sich in der Baracke im Vorort. Zeus sprach wie gewöhnlich langweilig und lange. Der Beschluss: Die Organisation muss aufgelöst werden, genug der sinnlosen Konspiration, man muss der rationalistischen Gesellschaft beitreten und irgendwie überleben. Athene schluchzte im Winkel.

Gerecht – das sollte man unterstreichen – wurden die letzten Einnahmen verteilt. Poseidon war optimistisch gestimmt. Er brüllte lauthals, er käme zurecht. Am schlimmsten fühlten sich die Beschützer der regulierten Flüsse und der gerodeten Wälder. Heimlich vertrauten alle den Träumen, doch niemand wollte darüber reden.

Einwände gab es keine. Athene schluchzte im Winkel. Hermes enthielt sich der Stimme.

Sie kehrten zurück in die Stadt am späten Abend mit falschen Papieren in der Tasche und einer handvoll Kleingeld. Als sie die Brücke betraten, sprang Hermes in den Fluss. Sie sahen, wie er ertrank, aber niemand machte Anstalten, ihn zu retten.

Die Meinungen waren geteilt, ob es ein böses oder im Gegenteil ein gutes Omen war. Jedenfalls war es ein Ausgangspunkt zu etwas Unklarem, Neuem.“[8]

II.

Northrop Frye und seine Betrachtungsweise des Mythos, wie er sie in Der große Code entfaltet, finden wir in seiner grundlegenden Literaturtheorie Anatomie der Literaturkritik, 1957 als Anatomy of Criticism erschienen, vorgedacht.[9]

In vier Essays nähert sich Frye hier dem Verhältnis von Mythos und Literatur an. Für unsere Betrachtungen ist v.a. der dritte Essay von Belang.[10] Darin unterscheidet Frye vier „mythoi“ – „Typen“ –, die er jeweils einer Jahreszeit zuordnet: die Komödie dem Frühling, die Romanze dem Sommer, die Tragödie dem Herbst und Ironie bzw. Satire dem Winter. So erscheinen gewisse dem jahreszeitlichen Zyklus entsprechende literarische Strukturprinzipien und Charakterisierungen, und zwar bedingt durch das Erleben einer sozusagen rhythmisch wiederkehrenden Veränderung der Natur.

Frye nennt dann fünf Typen von literarischen Bildstrukturen, die konstant bleiben und bestimmten Aussageweisen zugeordnet sind: die (a) apokalyptische Bildsprache der mythischen, die (b) dämonische der ironischen, die (c) realistische (mimetische) und (d) romantische jeweils der analogen, sowie (e) drei „Zwischenbereiche“, die Frye auf die zuletzt genannten referiert.

Die Bedeutung eines literarischen Textes, z.B. eines Gedichts, seine Bildstruktur, sei ein statisches Schema, und die genannten fünf Strukturen seien analog zu Tonarten zu verstehen, in denen Gedichte geschrieben sind und sich schließlich auflösen. Das Erzählerische bringe es aber mit sich, dass von einer Struktur zu einer andern hinübergewechselt wird. Frye erläutert:

„Diese Bewegung spielt sich hauptsächlich in den drei Zwischenbereichen ab. Als Strukturen der reinen metaphorischen Identität erzeugen die Reiche der Apokalypse und der Dämonie die Idee des ewig Unwandelbaren; für ihre Projizierung in das Seiende bieten sich Himmel und Hölle an, wo es fortwährendes, aber kein fortschreitendes Leben gibt. Die Analogien der Unschuld und der Erfahrung stellen Anpassungen des Mythos an das Naturgeschehen dar: Sie bieten uns nicht die Stadt und den Garten am Endpunkt der menschlichen Einsicht, sondern die Vorgänge des Bauens und Pflanzens. Die Grundform solchen Fortschreitens ist eine zyklische Bewegung, das Abwechseln von Erfolg und Niedergang, Anstrengung und Rast, Leben und Tod; das macht den Rhythmus des Prozesses aus. Unsere sieben Kategorien von Bildern können mithin auch als verschiedene Formen kreisender Bewegung betrachtet werden.“[11]

Frye nennt folgende Kategorien von Bildern, sieben zyklische Symbole:

1. das „Götterreich“ als zentraler Vorgang von Tod und Wiedergeburt, Verschwinden und Wiederkehr, Inkarnation und Entrückung eines Gottes;

2. die „Feuerwelt der Himmelskörper“ als Anlass für drei wichtige zyklische Rhythmen: die tägliche Reise des Sonnengottes als eines Lenkers eines Bootes oder Wagens über den Himmel; der Zyklus der Sonnenwenden, der eine Erweiterung der gleichen Symbolik möglich macht und in unsere Weihnachtsliteratur eingegangen ist, wobei die Betonung hier mehr auf dem von den Mächten der Finsternis bedrohten, neu entfachten Licht liegt; der Mondzyklus, der unbeschadet seiner Rolle in vorhistorischer Zeit für die überlieferte abendländische Dichtung nicht so viel Bedeutung hat, aber doch eine strenge Analogie für den Dreitage-Rhythmus von Tod, Verborgensein und Auferstehung in unserer Ostersymbolik bezeugt;

3. das „Reich der Menschen" liegt zwischen dem des Geistes und dem der Tiere;

4. das „Tierreich“, es ist ausschließlich der natürlichen Ordnung unterworfen, erinnert den Gedanken an den tragischen Lauf des Lebens, der gewaltsam durch Unfall, Opfer, Gewalt oder übermächtige Notwendigkeit beendet wird und dessen Kontinuität nach dem tragischen Akt in etwas anderem besteht als dem Leben selbst;

5. das „Pflanzenreich“ bietet den oftmals mit einer Gottheit identifizierten oder durch sie dargestellten Zyklus der Jahreszeiten;

6. das „Dasein der Kultur“ scheint vergleichbar dem organischen Kreislauf von Wachstum, Reife, Verfall, Tod und Wiedergeburt, wie es gerade in der Dichtung nicht selten beschrieben wird;

7. auch in der „Symbolik des Wassers“ können wir einen Zyklus erkennen: Regen – Quelle – Brunnen – Fluss – Strom – Meer.

Im Großen Code, der ein sogenanntes „Spiegelbild-Schema“ aufweist, in dem die zwei Abschnitte und acht Kapitel sich gegenseitig widerspiegeln, macht Frye den „Mythos“ zu einem besonderen Thema. Im ersten Teil des Buches, „Die Ordnung der Wörter“, in Kapitel II als „Mythos I“, im zweiten Teil, „Die Ordnung der Typen“, in Kapitel VII als „Mythos II: Erzählung“.[12]

Greifen wir anfangs vor auf die unten im dritten Abschnitt vorgestellte Auffassung von Georg Picht, wonach alle tragenden Strukturen unserer Kultur, v.a. die Sprache, aus mythischem Denken hervorgegangen sind. Auch nach Frye kommen wir mit dem Lesen – hier nun: der Bibel – nicht weit, ohne auf sprachliche Strukturen zu treffen, die uns an das, was wir „Mythen“ nennen, erinnern. Frye möchte, explizit als „Literaturkritiker“, den Begriff „in seinem literarischen Kontext“ verankern, wonach Mythos „Handlung“, „Erzählung“ oder im Allgemeinen eben „eine reihenweise Anordnung von Wörtern“ andeutet.

Frye unterscheidet drei Phasen der Sprache: die metaphorische, die metonymische und die deskriptive. Das Wort „Mythos“ wurde mit der letztgenannten, der „Erzählung“, identifiziert und bedeutete im Grunde genommen „nicht eigentlich wahr“. So können die beiden Sätze „Die Bibel erzählt eine Geschichte“ und „Die Bibel ist ein Mythos“ dasselbe bedeuten. Manche Geschichten beanspruchen allerdings eine eigentümlichere Bedeutung als andere, nämlich solche, die den Menschen und der Gesellschaft mitteilen, was für sie wichtig scheint und also ein besonderes soziales Interesse erkennen lassen: Das können Götter sein, ihre Geschichte, ihre Gesetze oder ihre Klassenstruktur. Diese Geschichten – Mythen – unterscheiden sich von sogenannten Volkserzählungen (wenngleich sie, in einem sekundären Sinn, wie diese gleichfalls Geschichten oder sprachliche Erzählungen sind und zwischen ihnen kein konsequenter sprachlicher Unterschied besteht). Sie werden nicht einfach zur Unterhaltung oder anderen nicht essentiellen Zwecken erzählt. Sie sind nicht „profan“, sondern werden zu „heiligen Geschichten“ und bilden einen Teil dessen, was die biblische Tradition „Offenbarung“ nennt (siehe Abb. 1).

Nach Frye unterscheiden sich Mythen, die er nicht als eine Form des dichterischen und schöpferischen sowie des begrifflichen Denkens sieht und für die nicht eine „Ursache“ angenommen werden müsse, im Vergleich zu Volkssagen in zweifacher Hinsicht: Zum einen verbindet sie so so etwas wie ein „Kanon“, als nämlich ein Mythos seinen Platz in einer miteinander verknüpften Gruppe von Mythen hat, in einer „Mythologie“, die somit ein „Faktum“ der menschlichen Existenz ist und zur Weit der Kultur und Zivilisation gehört, die der Mensch geschaffen hat und noch bewohnt; zum andern umreißen Mythen ein spezifisches Gebiet der menschlichen Kultur und trennen es von andern ab. Frye weist auf einen wesentlichen kulturgeschichtlichen Umstand hin:

„Eine Mythologie, die in einer spezifischen Gesellschaft verwurzelt ist, übermittelt ein Erbe gemeinsamer Anspielungen und sprachlicher Erfahrungen, und so hilft eine Mythologie, eine Kulturgeschichte zu entwickeln.

Da eine Mythologie sehr viel legendäre und traditionelle Geschichte enthält, unterstützt sie auch die Entwicklung dessen, was wir Geschichte nennen sollten. Deshalb sind historische Erzählungen die frühesten Formen deskriptiver Techniken des Schreibens. Aber, wie wir vom vorigen Kapitel [Sprache I] wissen, hat die Literatur und insbesondere die poetische Dichtung die Funktion, den metaphorischen Sprachgebrauch neu zu erschaffen. Daher ist die Literatur der direkte Nachfahre der Mythologie, falls wir überhaupt von ihr als einem Nachfahren sprechen können. [...] Aber Mythos und Literatur sind schon im Gilgamesch-Epos, das viel älter als irgendein Teil der Bibel ist, vollkommen vermischt, und das trifft auch für Homer zu, dessen Epen ungefähr zur gleichen Zeit entstanden wie die älteren Teile des Alten Testaments. Daher ist es für das vorliegende Buch unmöglich, die Literatur als eine Kontamination des Mythos zu betrachten: Sie ist ein integraler und zwangsläufiger Teil der Entwicklung eines Mythos. Auf die Frage, was ein Mythos ‚bedeutet‘, gibt es mehrere Antworten [...]. Aber was er einem Literaturkritiker bedeutet, umfasst alles, was die spätere Literatur daraus gemacht hat.“[13]

Frye stellt in Richtung Bibelbetrachtung die Frage zur Diskussion, ob die Erzählungen – wenn sie Mythen in dem angedeuteten Sinn sind und Wirklichkeit oder Fiktion vermitteln wollen – der Geschichtsschreibung zuzurechnen oder Dichtungen sind. Jedenfalls mag, wenn wir von der Bibel reden, etwas nicht stimmen, näherhin in Richtung der Formulierung „wahr oder erfunden“.

Frye konkretisiert, dass weder die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments Geschichte noch die Evangelien eine Biografie sind. Die „Idee einer historischen Tatsache als solche“ sei nirgends in der Bibel angegeben; so gehörten z.B. die Erzählungen über Abraham und den Auszug der Israeliten einem Bereich an, den man „geschichtliche Erzählung“ nennen kann. Ägyptologen scheint es ja in ihrem Erfahrungsbereich nicht möglich, dieser Geschichte nachzuspüren. Wenn wir also „auf etwas stoßen, was wie tatsächliche Geschichte aussieht und wir mit Daten und unterstützenden Beweisen bestätigen können, dann stellen wir fest, dass es eine didaktische und manipulierte Geschichte ist. [ ... ] Ohne Zweifel ist die Bibel ein stark parteiisches Buch: Wie bei jeder anderen Form von Propaganda ist nur das wahr, was der Verfasser für wahr hält; und das Gefühl der Dringlichkeit in der Beschreibung kommt viel freier zum Ausdruck, wenn es nicht behindert ist vom Wirrwarr dessen, was sich tatsächlich ereignet haben mag.“[14]

Frye deutet im Rückblick auf das Entmythologisierungs-„Programm” von Rudolf Bultmann wie folgt:

„Man drängt uns manchmal, die Evangelien zu ‚entmythologisieren‘, damit sie für die modernen Grundsätze der Glaubwürdigkeit relevanter werden. [ ... ] Es wäre interessant festzustellen – wenn wir das könnten –, was für ein Mensch der ursprüngliche ‚historische‘ Jesus war, ehe seine Lehren durch seine Jünger in mythische und legendäre Verzerrungen ausarteten. Aber wenn wir versuchten dies mit einem Grad von Gründlichkeit zu tun, bliebe von den Evangelien einfach nichts übrig. Die Verfasser oder Redakteure der Evangelien waren für uns zu schlau, und immer, wenn wir glauben, etwas ganz Einzigartiges und im historischen Sinn „Wirkliches“ entdeckt zu haben, stellen wir fest, dass sie diese Schlussfolgerung durch ein Echo aus oder eine Parallele mit dem Alten Testament oder einem zeitgenössischen jüdischen Ritual blockiert haben und auf irgendein anderes Motiv für die in Frage kommende Textstelle hinweisen. Und dennoch [...]: Ihr Ziel war offensichtlich, uns etwas mitzuteilen zu versuchen und nicht, uns von anderem Wissen abzuhalten. Es gibt frühes säkulares Beweismaterial für den Aufstieg des Christentums, aber es gibt praktisch keinen wirklichen Beweis für das Leben Jesu außerhalb des Neuen Testaments und alle Beweise für eine so wichtige historische Figur sind in diesem Buch hermetisch eingeschlossen. Aber es scheint auch klar, dass die Verfasser des Neuen Testaments das beabsichtigten. [...] Es ist seit mindestens einem Jahrhundert klar, dass die Bibel aus ,mythischem Zuwachs‘ besteht, während die einzelnen Stückchen glaubhafter Geschichte entbehrlich sind, wie viele es davon auch geben mag.“[15]

Frye erklärt, ohne neue archäologische Beweise könnten wir keinen Schritt weiterkommen (neuere Forschungsergebnisse bestätigen mittlerweile seine Auffassung) und kritisiert den Drang, Mythen zu erklären, indem etwa zeitgenössische Ereignisse mit uralten Geschichten in Einklang gebracht werden wollen und nennt als Negativ-Beispiel, wie im 17. Jahrhundert Fossilien und ähnliche geologische Phänomene verwendet wurden, um die Wahrheit des Sintflutberichts in der Genesis zu beweisen. (Dieses Beispiel wäre bezüglich neuerer Diskussionen über den Kreationismus und den Begriff des Intelligent Design zu ergänzen.)

Frye kritisiert den unhinterfragten „Buchstabenglauben“ als ein Merkmal des antiintellektuellen christlichen Populismus und bezweifelt, dass eine unkritische Haltung der Wahrheit näher kommt als eine kritische; ein Beweis sei – in Richtung der Bibel gesehen – desto irreführender, je vertrauenswürdiger er scheint. Hier scheint die unvermeidliche Wechselbeziehung von Mythologie und Dichtung bis zu einem gewissen Grad mitzuspielen:

„Vielleicht sollten die Mythen der Bibel als Dichtung gelesen werden, genauso wie wir Homer und das Gilgamesch-Epos als Dichtung lesen. Mit Sicherheit sind die dichterischen Stellen der Bibel echt dichterisch auf eine Weise, wie die historischen Teile nicht historisch sind. Und wenn wir fragen, warum die biblischen Mythen näher der Dichtung als der Geschichte stehen, liefert das aristotelische Prinzip, worauf ich mich in meiner Kritik ständig bezogen habe, bis zu einem Punkt eine Antwort. Die Geschichte macht spezifische Aussagen und ist deshalb von den außerhalb von Wahrheit und Unwahrheit liegenden Kriterien abhängig; die Dichtung macht keine spezifischen Aussagen und ist daher nicht von diesen Kriterien abhängig. Die Dichtung drückt das Universelle eines Ereignisses aus [...]. In unserer Sprache ist es das Universelle, das durch den Mythos, die Gestalt der geschichtlichen Erzählung, vermittelt wird. [...] Und dennoch, obgleich das Lesen der biblischen Mythen als Dichtung eine freiere Tätigkeit ist, als wenn man sie als faktische Geschichten liest, bleibt es unmöglich, die Bibel gänzlich als Dichtung zu betrachten.“[16]

Weltgeschichte, die die Kriterien der gewöhnlichen Geschichte verwendet, und Heilsgeschichte können nicht übereinstimmen. Eine Eigenschaft der Literatur besteht in Wiederholungen, in Anspielungen und in ihrem Respekt vor dem, was wir Tradition nennen. Sogar eine Gesellschaft, die des Schreibens unkundig wäre, könnte ihre wichtigen Mythen nicht im Gedächtnis behalten, wenn diese nicht ständig wiederholt werden. In der eigentlichen Geschichte dagegen gibt es keine Wiederholungen. Der Mythos dagegen ist als Geschichte dichterisch und wird von der Literatur neu erschaffen, als eine Geschichte mit einer spezifischen sozialen Funktion wiederum ist er ein. Aktionsprogramm für eine bestimmte Gesellschaft, hier wie dort bezieht er sich auf das, was möglich ist, nicht auf das Wirkliche. Die primäre Funktion des Mythos besteht also darin, nach „innen“ zu blicken, auf die Interessen der Gesellschaft, der diese Mythologie eigen ist. Die Wissenschaft ist eine spätere kulturelle Entwicklung, sie blickt nach außen, auf die Naturvorgänge selbst.

Die Ab- und Aufstiege der biblischen Geschichte bilden eine Reihe von mythoi. Alle Höhepunkte und Tiefpunkte scheinen metaphorisch miteinander verbunden (siehe Abb. 2). Demnach sind der Garten Eden, das Gelobte Land, Jerusalem und der Berg Zion austauschbare Synonyme für die Heimat der Seele; in christlichen Bildern wären alle in ihrer geistigen Form identisch mit dem „Reich Gottes“. Ägypten, Babylon und Rom sind dann symbolisch derselbe Ort und der Pharao aus Exodus, Nebukadnezar, Antiochus Epiphanes und Nero symbolisch die gleiche Person. Nach dieser Betrachtungsweise erweisen sich die Erretter Israels, nämlich Abraham, Moses, Josua, die Richter, David und Salomo als Prototypen des Messias oder endgültigen Erlösers. Weil der Exodus die endgültige Befreiung und der Typ aller weiterer Befreiungen ist, stellt er, mythisch gesehen, das Ereignis des Alten Testaments dar. Diesem Prinzip entsprechend müsste die Auferstehung Christi, um die sich das Neue Testament dreht, aus dieser Sicht der Antityp zum Exodus sein.

Sehen wir die biblische Erzählung im Allgemeinen als eine Reihe von Ereignissen im menschlichen Leben an, so werden sie zu einer Kette von Ab- und Aufstiegen. Das Volk Gottes gerät immer wieder in Gefangenschaft und wird gerettet, während die heidnischen Reiche ein umgekehrtes Schicksal trifft. Als Inbegriff der biblischen Erzählung nennt Frye das Buch Ijob, als Inbegriff der biblischen Bilder die Offenbarung. Ijob stürzt, wie Adam, in eine Welt des Leidens und der Verbannung, er „bereut“, geht also durch eine „Metanoia“ oder, so Frye, eine „Metamorphose des Bewusstseins“ und wird dann wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt. Ijobs Qualen erweisen sich somit nicht als eine Strafe, sondern als eine Prüfung (in gewisser Weise vergleichbar der Prüfung Abrahams in Gen 22, seinen Sohn Isaak zu opfern). Das Buch Ijob erweist sich aus dieser Sicht technisch als eine Komödie, die ein „Happy End“ hat: Ijobs Reichtum wird wiederhergestellt.[17]

III.

In seiner Analyse des Mythos in Der große Code zeigt Frye eindrücklich die weitreichende kulturgeschichtliche Wirkung der Bibel auf: Sie prägte die abendländische Kulturgeschichte — Vilém Flusser nennt die Bibel „den Grundtext des Westens“[18] –, und sie weist auch eine literarische bzw. ästhetische Dimension auf (nicht nur „an sich“, sondern auch durch ihren „intermedialen“ Impuls hinsichtlich der Fortschreibung in Literatur und Künsten[19]). Der deutsche Religionsphilosoph und Pädagoge Georg Picht mahnt ein: „Die Vernunft des europäischen Denkens ist als Projektion des Gottes der griechischen Philosophie bis in ihre innersten Elemente vom Mythos durchtränkt. Es ist ein Zeichen mangelnder Aufklärung, wenn wir das nicht wissen.“[20]

Carl Friedrich von Weizsäcker macht in seinem Vorwort zu Pichts Buch Kunst und Mythos[21] darauf aufmerksam, dass die zerstörenden Folgen unseres Denkens mit dieser Unaufgeklärtheit über uns selbst zusammenhängen und wir, um sagen zu können, was Denken und Philosophie sei, zuerst wissen müssten, was Mythos ist; dies aber sei dem Blickfeld des modernen Menschen entschwunden als ein Phänomen einer fernen Vergangenheit, das dort nicht mehr wahrgenommen wird, wo es im Rücken unseres Bewusstseins fortdauernd in uns wirkt. Einen hilfreichen Zugang bietet nach Weizsäcker das mit dem Mythos tief verwandte Phänomen der Kunst. Diesen Eingang wählt Georg Picht:

„Die Worte ‚Kunst‘ und ,Mythos‘ verweisen das Denken in ein für das moderne Bewusstsein verdunkeltes Reich. Wir wissen nicht, was sie bedeuten. Der ideologische Missbrauch von Phantomen des Mythos und der spätbürgerliche Ausverkauf von Kunst bezeugen nicht die Gegenwart, sondern das Verschwinden dessen, womit hier umgegangen wird. Auch die wissenschaftliche Erforschung der Künste und der Religionen aller Völker konnte sich nur deshalb ausbreiten, weil Kunst und Mythos selbst ihre Macht über menschliches Bewusstsein verloren hatten. Die Wissenschaft steht außerhalb der Sphäre ihrer Gegenstände. Sie konstituiert sich, wie allein schon ihre Sprache bezeugt, durch eine eigentümliche Blindheit gegen mythische Welterfahrung und künstlerische Form. So sanktioniert neuzeitliche Wissenschaft eine Einstellung des Bewusstseins, die Kunst und Mythos nicht einmal mehr negieren kann, weil sie so beschaffen ist, dass das, was negiert zu werden scheint, gar nicht mehr wahrgenommen wird.“[22]

Picht spricht von der „Indifferenz" als einem der hintergründigsten Phänomene der modernen Zivilisation. Als deren Nährboden nennt er die Anonymität der Massen, die Vernunft und Freiheit ihrer Gehalte beraubt und die Utopie einer mündigen Menschheit vergiftet. Nach Picht, für den alle tragenden Strukturen unserer Kultur, v.a. die Sprache, aus mythischem Denken hervorgegangen sind[23], zeige uns das Kunstwerk „einen letzten Widerschein jener Mächte, die im Zeitalter des Mythos den Menschen als die sie umgebende Wirklichkeit erschienen, später aber verdrängt worden sind und nun im Untergrund des modernen Menschen ihr Wesen treiben. Das unheimliche Medium aller mythischen Gestaltungen ist ihre Indifferenz gegen alles, was man später ,menschlich‘ nannte. [...] Die ältesten unter jenen Dokumenten, die wir heute als Kunstwerk betrachten, finden sich in Gräbern. Mit ihnen beginnt die Geschichte des homo sapiens überhaupt. In der Kunst bezeugt sich [...] das Wissen des Menschen, dass er – nun nicht im Spiel, sondern im Ernst – aus dem Leben herausgehoben sein wird. Sie ist seine Antwort auf die Gewissheit des Todes. Aus dieser Gewissheit steigt der Glanz auf, in dem sie das Leben verherrlichen kann. Es gibt keine Kunst, die nicht, indem sie durch ihre reine Form schon verewigt, das Leben transzendieren und damit in die Gegenwart des Todes eintreten würde. Das Gleiche gilt vom Mythos in allen seinen Formen. Deswegen werden zugleich mit den sogenannten ,Realitäten‘ auch die Utopien nichtig, sobald sie der magische Finger des Künstlers berührt. Die künstlerische Form dementiert alle gesellschaftlichen oder privaten Aspirationen. Sie dementiert, was die Neuzeit ,Hoffnung‘ nennt“; Kunstwerk und mythische Erscheinungen sind nach Picht „geschichtliche Mächte“, in denen sich universale Gehalte manifestieren, „die in den isolierten Gehäusen der Ästhetik und der Religionswissenschaft nicht domestiziert werden können" und „ein Erdbeben verursachen, das die gesamte Sphäre jener Realität, in der wir uns eingerichtet haben, erschüttert. Die Stellung, die wir zur Kunst einnehmen, ist mit der Stellung des Menschen zu Gott, seiner Stellung zur Wahrheit und seiner Stellung in Natur und Gesellschaft unauflösbar verkoppelt, denn Kunst entsteht am Schnittpunkt dieser Dimensionen unseres Daseins.“[24]

Picht kritisiert die Kluft zwischen Kunst und (christlichem) Glauben, v.a. die Praxis der (wie Sören Kierkegaard sagte) „besoldeten“ Christenheit: Die Gehalte des Glaubens seien wegen der Blindheit seiner Diener aus dem Bereich der Theologie „emigriert“:

„Der wirkliche Aberglaube der Neuzeit – der Wahn, wir hätten uns vom Mythos emanzipiert – ist ein so selbstverständliches Medium der theologischen Reflexion geworden, dass nicht einmal in der Auseinandersetzung um Bultmann etwas von den Gewalten des Mythos sichtbar wurde. Auch die modernsten unter unseren Theologen stehen noch ungebrochen in einer bürgerlichen Bildungstradition, die sich als neue Synthese von Griechentum und Christentum ausgab. Deshalb bereitet es ihnen keine schlaflosen Nächte, dass Hegel in seiner ,Ästhetik‘ nachweisen konnte, die europäische Kunst sei der in die Sphäre des Geistes transportierte Kultus der griechischen Götter. Niemand empfindet den unüberbrückbaren Widerspruch zwischen der Denkweise zeitgenössischer Theologie und jenen Erfahrungen, aus denen romanische Plastik oder die Matthäus-Passion hervorgegangen sind. […] Bilder, die man zu bloßen Objekten ästhetischer Betrachtung entwürdigt hat, braucht Gott nicht zu verbieten, um sich offenbaren zu können. Für ein Bewusstsein, das es genießt, sich selbst und seine vermeintliche Freiheit im Spiegel seiner Indifferenz zu betrachten, versinkt auch das Kreuz in den Nebeln der Historie; die Eschatologie erscheint als ein unverständliches apokalyptisches Mythologem. Der fundamentale Gegensatz zwischen Glaube und Mythos wird auf blasphemische Weise seines Sinnes beraubt, wenn theologischer Modernismus sich darauf beruft, das Evangelium sei immer schon so aufgeklärt gewesen wie das vom Mythos emanzipierte Denken der Neuzeit. Zwischen dem Licht der Offenbarung und der Welt des Mythos, in das es einbricht, besteht ein unaufhebbarer Zusammenhang. Wenn unser Bewusstsein sich der Welt des Mythos entzieht und dessen substantielle Gehalte verdrängt, wird auch das Licht der Offenbarung unsichtbar. Wenn man die unmittelbare Gewalt des Mythos und seine Erscheinung in der Kunst nicht mehr wahrnimmt, muss auch der Sinn des Glaubens sich verflüchtigen. Indem man die Erfahrung negiert, die vom Evangelium vorausgesetzt wird, negiert man das Evangelium selbst, weil es sich als Widerspruch gegen diese Erfahrung darstellt. Das hindert nicht, dass Theologie und Kirche sich gegen alle Wirklichkeiten versperren, aus denen ihnen der gegenwärtige Sinn von Kreuz und Eschatologie wieder aufgehen könnte. [...] Weil die gegenwärtige Allgewalt des Mythos von Theologie und Kirche nicht wahrgenommen wird, hat sich der notwendige Widerspruch gegen die Kunst in die Kunst selbst verlagern müssen. [...] Wenn das Evangelium aus Theologie und Kirche entschwindet, muss es von ,Gottlosen‘ verkündet werden, auch wenn sie gar nicht wissen, was sie sagen. Die Frage nach der Wirklichkeit von Kunst und Mythos ist also mit der Frage nach dem unaufhebbaren Widerspruch des Evangeliums zu Kunst und Mythos unlösbar verkoppelt. Wir können das Eine ohne das Andere nicht mehr begreifen und sind doch durch die Fatalität der Geschichte mit einem Bann geschlagen, der uns gegen beides blind macht.“[25]

Der Mythos also „sagt aus“, und zwar „wesenhaft“, „entscheidend“.[26]

Auch nach Franz Rosenzweig stehe alle Kunst unter dem Gesetz der mythischen Welt, sie habe eine Abgeschlossenheit in sich, eine Unabhängigkeit von „höheren“ Gesetzen und eine Freiheit von „niederen“ Pflichten, die der Welt des Mythos eigentümlich sind; eine Grundforderung an das Kunstwerk scheint darin zu liegen, dass von seinen Gestalten, auch wenn sie die Tracht unseres Alltags tragen, ein „Schauer des Mythischen“ ausgeht. Der Wechselstrom von Leidenschaft und Schicksalsschluss ist Antrieb für die dynamischen Züge des Mythos:

„Grundlos im Hass wie in der Liebe, denn es gibt keine Gründe unter ihrem Leben, rücksichtslos, denn es gibt kein Zurück, nach dem sie sehen müssten, ihr freier Erguss nicht geleitet, nur gehemmt vom Spruch des Schicksals, ihr Müssen nicht gelöst durch die freie Kraft ihrer Leidenschaft, und dennoch beides, Freiheit und Wesen, eins in der rätselhaften Einheit des Lebendigen – das ist die Welt des Mythos.“[27]



[1] Vgl. R. Guardini, Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik. Mainz 1979; O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. München 1988; L. Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos. München 1984; vgl. P. Tschuggnall, Mythos, Religion und Kunst. Hinweise auf ein genuines Verhältnis. In: Bibliographie für Symbolik, Ikonographie und Mythologie. Internationales Referateorgan. Hg. H. Jung u. Eschweiler. Baden-Baden 2004, 5-27 (dort weitere Literatur).

[2] H. Blumenberg, Arbeit am Mythos. Frankfurt a.M. 1979, 40.

[3] Z. Konstantinovic, Religion als Gegenstand interdisziplinärer Literaturbetrachtung. Methodologische Ausgangspunkte. In: P. Tschuggnall, Religion – Literatur – Künste II. Anif / Salzburg 2002, 7-17, hier: 7. Vgl. M. Bröndsted, Dichtung und Schicksal. Innsbruck 1989; vgl. zum Folgenden auch K. Kerényi (Hg.), Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Darmstadt 1967; R. von Ranke-Graves – R. Patai, Hebräische Mythologie. Reinbek 1986; M. Eliade, Das Heilige und das Profane. Frankfurt 1990; C.G. Jung, Psychologie und Religion. München 1991.

[4] U. Mann, Schöpfungsmythen. Stuttgart 1985, 19f.

[5] Vgl. von theologischer Seite aus u.a. J. Knox, Myth and Truth. London 1966; F. Schupp, Mythos und Religion. Düsseldorf 1976; H. Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung. Freiburg i.B. 1984; ein umfangreiches zweibändiges Werk hat G. Hasenhüttl vorgelegt (Glaube ohne Mythos. Mainz 2001).

[6] R. Bultmann, Jesus Christus und die Mythologie. Das Neue Testament im Licht der Bibelkritik. Gütersloh 1984.

[7] Ebd. 16; vgl. kritisch zu Bultmann: W. Pannenberg, Christentum und Mythos. Gütersloh 1971.

[8] Z. Herbert, Im Vaterland der Mythen. Griechisches Tagebuch. Hg. K. Dedecius. Frankfurt a.M. 1980, 40.

[9] Impulse hinsichtlich Frye verdanke ich Peter Seyffert, Lakehead (Kanada), dem Übersetzer des Code. Ihm ist der vorliegende Beitrag dankbar zugedacht.

[10] N. Frye, Analyse der Literaturkritik. Aus dem Amerikanischen von E. Lohner u. H. Clewing. Stuttgart 1964,160-165; Abdruck in: Texte zur modernen Mythentheorie. Hg. W. Barner, A. Detken u. J. Wesche. Stuttgart 2003, 109-116 (Einleitung zu Frye von S. Heudecker, hier: 106f); vgl. N. Frye, Anatomy of Criticism. Four Essays. Princeton University Press 1957, 158-162: Theory of Mythos: Introduction.

[11] Texte zur modernen Mythentheorie, 109.

[12] N. Frye, Der große Code. Die Bibel und Literatur. Aus dem Englischen von P. Seyffert. Anif / Salzburg 2007, 51-73; 197-225.

[13] Ebd. 54.

[14] Ebd. 60.

[15] Ebd. 62.

[16] Ebd. 66f.

[17] Ebd. 220-225.

[18] V. Flusser, Die Schrift. Frankfurt a.M. 1992, 38.

[19] W. Wolf, The Musicalization of Fiction: A Study in the Theory and History of Intermediality. Amsterdam 1999.

[20] G. Picht, Theologie – Was ist das? Stuttgart 1977, 15.

[21] G. Picht, Kunst und Mythos. Mit einem Vorwort von C.F. von Weizsäcker. Stuttgart 1996.

[22] Ebd. 1.

[23] Ebd. 376.

[24] Ebd. 6f

[25] Ebd. 8-10.

[26] Vgl. G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion. Tübingen 1990, 468-472.

[27] F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Frankfurt 1993, 37f.

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