Tschuggnall Peter - TheoArt-komparativ

Das Wort ist kein Ding

ZKTh 116 (1994) 160-178

Eine theologische Einübung in den literaturwissenschaftlichen Begriff der Intertextualität

 

Von Peter Tschuggnall, Innsbruck

 

Der in den späten 60er Jahren geprägte literaturwissenschaftliche Begriff der Intertextualität scheint für die künftige theologische Forschung von nicht geringem Interesse; im besonderen der Umgang mit dem ,Intertext‘, wie er nicht zuletzt von der Vergleichenden Literaturwissenschaft entwickelt wurde und in ihrem Rahmen Anwendung erfährt. Die Vergleichende Literaturwissenschaft, die Ansätze ihrer Methodologie und Theorie in Untersuchungen von interliterarischen Beziehungen, interliterarischen Parallelitäten sowie transliterarischen Zusammenhängen sieht, ordnet die Bereiche ,Alterität‘ und ,Intertextualität‘ in ihren Gesamtzusammenhang ein; komparatistische Analysen gehen dabei aus zum einen von dem Phänomen der Alterität literarischer Werke (worin der Blick vom Kontext hin zum Text gerichtet ist) und zum anderen eben von der Erfassung der Intertextualität (wobei die Beziehungen eines Textes zu seinem Kontext im Blickpunkt stehen).[1]

Eine erste Annäherung an das mit dem Begriff ,Intertextualität‘ ausgewiesene Phänomen empfiehlt sich anhand der Lektüre von bedeutenden Werken der Weltliteratur – etwa von T. S. Eliots „The Waste Land“, Umberto Ecos „Der Name der Rose“, Günter Grass‘ „Die Rättin“, Milan Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ und – ein Beispiel aus der neueren Lyrik – Peter Henischs „Hamlet, Hiob, Heine“. In einem weiteren Kontext eindrucksvoll herausgearbeitet und in die wirkliche Existenz menschlichen Lebens hineingezogen findet sich das als ,Intertext‘ bezeichnete Phänomen beispielsweise auch in Filmen (vgl. in jüngerer Zeit: Monty Python: „Das Leben des Brian“; Carlos Saura: „Carmen“; Peter Weir: „Der Club der toten Dichter“; Peter Greenaway: „Der Bauch des Architekten“).

Der vorliegende Beitrag möchte den theologischen Blick für die intertextuelle Betrachtungsweise schärfen. Zunächst wird eine kleine Hinführung zu dem Begriff ,Intertextualität‘ gegeben und im Anschluss daran – im besonderen am Beispiel von Søren Kierkegaards literaturphilosophisch-theologischem Essay „Furcht und Zittern“ – die Frage aufgeworfen, wie dieser Begriff in die Methodik der Theologie integriert werden könnte.

 

1. Der Begriff der Intertextualität

Wenn Renate Lachmann[2] feststellt, der Begriff der Intertextualität habe „in den letzten Jahren irritierende Dimensionen angenommen –konzeptionell sich verzweigend, terminologisch ausufernd“, so ist zu konstatieren, dass diese Bestandsaufnahme in Hinblick auf theologische Forschungen so gut wie keine Relevanz besitzt, weil der Intertextualitätsbegriff innerhalb der Theologie bislang kaum entsprechende Beachtung gefunden hat. (Ähnliches gilt auch bezüglich des in der Literatur und den anderen Künsten, im besonderen in der Architektur, des weiteren in Soziologie und Philosophie schon längst etablierten und dort zum Teil sehr kontrovers diskutierten ,Perspektive‘-Begriffs ,Postmoderne‘.) Der Teminus ,Intertextualität‘ gewann für die Literaturwissenschaft Bedeutung durch eine Untersuchung der Poststrukturalistin Julia Kristeva: „Semeiotiké: Recherches pour une sémanalyse“ (Paris 1969). Im Anschluss an Michail Bachtins Konzept der ,Dialogizität‘, das dieser vor allem am Beispiel Dostojewskijs erarbeitete, entwickelt Kristeva ihre Vorstellung von Intertextualität, indem sie Bachtins Konzept gewissermaßen „als genus proximum für alle Formen der Beziehungen zwischen dem Fremden und dem Eigenen annimmt. Die Auffassung Bachtins, daß jedes ,Wort‘, d. h. jede Aussage dem Wesen nach dialogisch ist, da es sich um ein Glied in der Kette anderer Aussagen handelt, gilt nach Julia Kristeva für alle Formen der Beziehungen zwischen dem ,Fremden‘ und dem ,Eigenen‘ in einem Text, und sie erfasst diese Formen eben als Intertext. Nach ihrer Theorie d‘ ensemble impliziert ein Text einen fremden Text als Zeichen einer fremden Sinnposition und ist zugleich auch Antwort auf diesen Text, eine Reflexion.“[3] Während für Bachtin die Differenz zwischen monologischen und dialogischen Texten von Bedeutung war, konstituiert sich für Kristeva jeder Text als ein Mosaik von Reminiszenzen, insbesondere von Zitaten, wobei der Begriff ,Text‘ auch auf nichtliterarische Größen Anwendung finden kann.[4] Gleichwohl und grundsätzlich jedoch gilt: Ein Text – und dazu sollten in einem weiteren Sinne auch Medien wie Musik, Bildende Kunst und Film gezählt werden – bezeichnet nicht bloß ein Mosaik von Zitaten; jede Art von Text ist beheimatet in einem schon vorhandenen Universum von Texten und Ereignissen, das nach und nach gewachsen ist und sich in die Aktualität des Lebens dynamisch eingewoben findet. Ein Text sollte in einem größeren Zusammenhang gesehen und kann mitunter erst aus dem Kontext erhellt werden. Er ist also nicht so etwas wie eine monologische Partie, die isoliert, losgelöst von jeglichem Zusammenhang sich liest und Exklusivität beansprucht. Vielmehr gilt zu bedenken, dass sich das Panorama von Texten beständig erweitert. Mit Karlheinz Stierle[5] ist diesbezüglich zu konstatieren: „Was wir Text nennen, ist ein Zustand der Sprache, dessen Möglichkeiten an komplexe Voraussetzungen gebunden sind.“ Kein Text fängt also voraussetzungslos an. Im Gegenteil: Jeder Text hat einen schon vorgegebenen Text als Ausgang und führt gleichsam einen Dialog, ein Gespräch mit dem Prätext. In diesem Zusammenhang wäre von seiten der Psychoanalyse Sigmund Freuds Begriff des Unbewussten und von seiten der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs Begriff des Archetypus zu erwähnen. Inwiefern gerade das von Freud und Jung Intendierte in das intertextuelle Gespräch hineingezogen ist, zeigt ein Zitat aus Max Frischs Roman „Stiller“ (1954), worin sich der Schweizer Schriftsteller als ein grandioser Ironiker erweist und ein Phänomen andeutet, das für die intertextuelle Betrachtungsweise von nicht geringem Interesse scheint und gewissermaßen ein „Leiden an der Intertextualität“[6] impliziert:

„Wir leben in einem Zeitalter der Reproduktion. Das allermeiste in unserem persönlichen Weltbild haben wir nie mit eigenen Augen erfahren, genauer: wohl mit eigenen Augen, doch nicht an Ort und Stelle; wir sind Fernseher, Fernhörer, Fernwisser. Man braucht dieses Städtchen nie verlassen zu haben, um die Hitlerstimme noch heute im Ohr zu haben, um den Schah von Persien aus drei Meter Entfernung zu kennen und zu wissen, wie der Monsun über den Himalaja heult oder wie es tausend Meter unter dem Meeresspiegel aussieht. Kann heutzutage jeder wissen. Bin ich deswegen je unter dem Meeresspiegel gewesen; bin ich auch nur beinahe (wie die Schweizer) auf dem Mount Everest gewesen? Und mit dem menschlichen Innenleben ist es genau wo. Kann heutzutage jeder wissen. Dass ich meine Mordinstinkte nicht durch C. G. Jung kenne, die Eifersucht nicht durch Marcel Proust, Spanien nicht durch Hemingway. Paris nicht durch Ernst Jünger, die Schweiz nicht durch Mark Twain, Mexiko nicht durch Graham Greene, meine Todesangst nicht durch Bernanos und mein Nie-Ankommen nicht durch Kafka und allerlei Sonstiges nicht durch Thomas Mann, zum Teufel, wie soll ich es meinem Verteidiger beweisen? Es ist ja wahr, man braucht diese Herrschaften nie gelesen zu haben, man hat sie in sich schon durch seine Bekannten, die ihrerseits auch bereits in lauter Plagiaten erleben. Was für ein Zeitalter! Es heißt überhaupt nichts mehr, Schwertfische gesehen zu haben, eine Mulattin geliebt zu haben, all dies kann auch in einer Kulturfilm-Matinée geschehen sein, und Gedanken zu haben, ach Gott, es ist in diesem Zeitalter schon eine Rarität, einen Kopf zu treffen, der auf ein bestimmtes Plagiatprofil gebracht werden kann, es zeugt von Persönlichkeit, wenn einer die Welt etwa mit Heidegger sieht und nur mit Heidegger, wir andern schwimmen in einem Cocktail, der ungefähr alles enthält, in nobelster Art von Eliot gemixt, und überall wissen wir ein und wieder aus, und nicht einmal unsere Erzählungen von der sichtbaren Welt, wie gesagt, heißen etwas; es gibt für uns heutzutage ... keine terra incognita mehr. Wozu also die Erzählerei!“[7]

Grob gesprochen zeigt der Begriff ,Intertext‘ „die Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Texten“ an, des weiteren die Gesamtheit der Texte, „an die man sich während der Lektüre eines bestimmten Textes oder Textabschnitts erinnert“[8]. Der Komparatist Manfred Schmeling[9] schlägt einen Drei-Stufen-Plan zur Analyse von Intertextualität vor:

„Die Analyse der im eigentlichen Sinne ,textuellen‘ Vorgänge steht an erster Stelle. Welche Formen textueller Rückbezüglichkeit (z. B. direkte und indirekte, konvergierende oder kontrastierende etc.) treten in Erscheinung? Auf welchen Ebenen (z. B. des Idiolekts, der narrativen Verknüpfungstechnik, des ,Inhalts‘) manifestieren sie sich? Welche expliziten (thematisierten) Bezüge gibt es? Der nächste Schritt betrifft das Erkennen der hermeneutischen Vorgänge, die Fragen nach den hinter den textuellen Interaktionen stehenden, sie bedingenden oder begleitenden Auffassungsakten ... Damit verbunden ist zugleich der dritte Aspekt, die ,interliterarische Symbiose‘ (Durisin) als Sonderproblem der Intertextualität.“

Die intertextuelle Analyse erfordert ein hermeneutisches wie strukturales Bewusstsein, das den Blick auf die Strukturen eines Werkes sowie auf die formale Beschreibung von Fremdbestimmungen eröffnet, also die durch einen entsprechenden Einfluss hervorgerufene Wirkung ausleuchtet. (Die positivistisch orientierte ,Einfluss‘forschung gilt in weiten Teilen der Komparatistik überwunden zugunsten der Frage nach der ,Wirkung‘, die ein Einfluss ausüben kann.) Ein Text ist somit nicht als ein bloßes Material zu betrachten, vielmehr soll die genuine Möglichkeit kreativer literarischer Gestaltung erkannt und so der bedrohlichen Langeweile am Text entgegengewirkt werden. Nicht also bloß der Einfluss, den ein vorgegebener Text auf einen Schriftsteller ausübt, soll Thema der intertextuellen Untersuchung sein, sondern primär die Art und Weise, wie der Kontext, also die ,Prä-Existenz‘ eines Textes, ,weiterlebt‘ und den Rezipienten zu faszinieren vermag.[10] Auf dem Prüfstand intertextueller Aufgabenstellung lautet somit die Frage: Welche Wirkung zeitigt ein Einfluss, d. h. auf welche Art und Weise wirkt die Vorlage weiter, welche aktuelle Relevanz besitzt sie?

Ein Text, der zu einem Moment einer intertextuellen Bewegung wird, kann in seinem neuen Sitz den Sinn und die Bedeutung, die ihm im ursprünglichen Kontext zugekommen waren, verlieren und im neuen Text ,aufgehoben‘ sein. Nimmt man hierbei als Gradmesser den dritten Schritt von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Dialektik, nämlich das Ansich und Fürsich einende An-und-für-sich, dann kann dieses Aufgehobensein Verschiedenes besagen und die Bedeutung haben von abgeschafft, aber auch von bewahrt und von emporgehoben. Auf die Sphäre der Intertextualität übertragen, hieße das, dass der rezipierte Text einerseits seine ursprüngliche Sinnbedeutung beibehalten und sie in den neuen Text hinüberretten, anderseits wiederum sie verwandeln und nunmehr Neues zum Ausdruck bringen kann.

Neben Formen wie der Parodie und Travestie, die differenzierende Merkmale beschreiben, sind hinsichtlich ,abgebender‘ Literatur (dem Kontext) und ,aufnehmender‘ Literatur (dem Text) im besonderen Wirkungsformen mit integrierender Funktion von besonderer Bedeutsamkeit. Diese sind gegeben in Formen wie der ,Reminiszenz‘ (Allunion, Motto, Zitat), dem ,literarischen Impuls‘ (Titel, Untertitel), der ,literarischen Kongruenz‘ (Variation oder Paraphrase, Nachgestaltung) und der , Filiation‘ (ein Begriff, der literarische Erscheinungen im Rahmen ethnisch verwandter oder aus einer gemeinsamen Tradition sich entwickelnder nationaler Literaturen beleuchtet, in denen eine unmittelbare Wirkung wie auch eine Nachfolgebeziehung bestehen kann; in jüngerer Zeit wird dieser Begriff auch auf die Verwandtschaft literarischer Gestalten mit ihren Vorbildern ausgeweitet).[11]

George Steiner[12] hat in bezug auf ,Deutungen‘ hingewiesen, es sei zu beachten, dass Literatur, Musik und Kunst Grund und Grundlage des Seins der Interpretationen und Urteile sind, die dadurch jeweils hervorgerufen werden. Von entscheidendem Gewicht sei demnach der Prätext aller folgenden und damit zusammenhängenden Textualitäten, Inter-Textualitäten und Gegen- Textualitäten. Daraus ergibt sich:

„Eine gute Deutung, eine in Freiheit vollzogene Deutung wird immer ,zeitlos‘ sein. Das heißt, dass unsere Mühe der Bewillkommnung, der Befragung immer jetzt stattfinden wird, in der Gegenwärtigkeit einer Gegenwart. Doch ist diese Unmittelbarkeit historisch geprägt. Wo unsere Begegnung mit dem stattfindet, was aus der Vergangenheit zu uns spricht, wissen wir, dass das Idiom, dass die formalen Konventionen, dass die Aura von Konnotation und Referenz nicht mehr die unseren sind. Sie müssen in größerem oder geringerem Umfang gelernt bzw. ,nachgeschlagen‘ werden.“[13]

Umberto Eco[14] hat bezüglich des Zusammenspiels von Text und Interpretation aufmerksam gemacht, dass das Standard-Kommunikationsmodell (Sender – Botschaft – Empfänger) nicht das eigentliche Funktionieren des kommunikativen Verkehrs beschreibt. Nach Eco ist das, was im allgemeinen ,Botschaft‘ genannt wird, ein Text – verstanden als ein Netzwerk von unterschiedlichen Botschaften, die ihrerseits wiederum von unterschiedlichen Codes abhängig und auf unterschiedlichen Signifikanzebenen wirksam sind. Schon das bloße Existieren von Texten erzeuge das Problem einer recht eigentümlichen Kommunikationsstrategie, die auf einem flexiblen Signifikationssystem beruhe. Ein Autor, der einen Text aufbaut und kommunikativ gestaltet, müsse sich auf eine Reihe von Codes verlassen, die den von ihm verwendeten Ausdrücken gegebene Inhalte zuordnet, und er müsse davon ausgehen, dass das Ensemble von Codes, auf das er sich verlässt, das gleiche ist, das der mögliche Leser mit ihm teilt; er müsse also schon das Modell eines möglichen Lesers im Blick haben, der die Ausdrücke des Autors so interpretiert, wie der Autor dies seinerseits auf generative Art und Weise tat. (Eco spricht in diesem Zusammenhang vom ,Modell-Leser‘.)

 

2. Intertextualität in der Theologie

„Das Wort ist kein Ding, sondern das ewig bewegte, sich ewig verändernde Medium des dialogischen Umgangs“, sein Leben „besteht im Übergang von Mund zu Mund, von Kontext zu Kontext, von Kollektiv zu Kollektiv, von Generation zu Generation“, und es bleibt hierbei „seines Weges eingedenk. Es vermag sich nicht restlos aus der Gewalt jener Kontexte zu lösen, in die es einst einging“; das sagte Michail Bachtin[15] 1929. Und Ossip Mandelstam[16], den nicht zuletzt Paul Celan für die deutsche Sprache (wieder)entdeckte, schrieb schon 1921:

„Ist das Ding vielleicht Herr über das Wort? Das Wort ist Psyche. Das lebendige Wort bezeichnet keinen Gegenstand, sondern erwählt sich, gleichsam zur Heimstatt, diese oder jene gegenständliche Wertigkeit, Stofflichkeit, einen Körper, der ihm zusagt. Und um diesen Gegenstand bewegt sich das Wort frei, so wie die Seele um einen verlassenen, doch nicht vergessenen Körper irrt ... Urplötzlich ist alles zum Gemeingut aller geworden. Geht und nehmt euch. Alles ist zugänglich: alle Labyrinthe, alle Verstecke, alle verborgenen Gänge. Das Wort ist zu einer Schalmei nicht mit sieben, sondern mit tausend Röhren geworden, die der Atem aller Jahrhunderte auf einmal zum Klingen bringt.“

Der Zusammenhang, auf den diese Zitate verweisen, indem sie mit Bereichen wie Intertextualität und Dialogizität konfrontieren, erfährt in seiner Komplexität Rezeption und Erhellung in verschiedenen Bereichen des Denkens, und er scheint prädestiniert, gerade theologischen Rezeptionsforschungen neue Aspekte zu eröffnen. Ein methodologischer Ansatzpunkt, der in einem weiteren Kontext gleichfalls ein Anstoß dafür sein könnte, worauf insbesondere die Theologie ihr intertextuelles Augenmerk zu richten hätte, ist angedeutet von Paul Ricœur[17] in seinem komparatistisch angelegten Buch „Die lebendige Metapher“, worin er darauf aufmerksam macht, man müsse „den semantischen Mechanismus der Metapher, nämlich das Entstehen einer neuen Bedeutung auf den Trümmern der Prädikation, die den gewöhnlichen lexikalischen Regeln entspricht, begriffen haben, um zu verstehen, dass dieser andere Sinn eine andere Dimension der Wirklichkeit aufdeckt und damit eine neue Deutung der Welt und unserer selbst freisetzt“. Für theoretische Grundlagen von Forschungen zur Intertextualität könnte auch geltend gemacht werden, was Ricœur[18] in „Zufall und Vernunft in der Geschichte“ anmerkt, dass man nämlich gleichermaßen davon sprechen könne, „dass die Geschichte als erzählte Erzählung aus mannigfaltigen Ereignissen besteht (made out) und dass diese Ereignisse in eine einzige und vollständige Geschichte transformiert werden (made into)“. Ricœurs Aussage, ein Text in seinem neuen Umfeld decke eine andere Dimension der Wirklichkeit auf, wirft ebenso wie sein Hinweis, die Geschichte als ,erzählte Erzählung‘ bestehe aus mannigfaltigen Ereignissen, ein Licht auf die Verwobenheit von Intertextualität und Theologie. Zumal bezüglich biblischer Theologie scheint das eine wie das andere Diktum zutreffend: Betrachtet man nämlich biblische Theologie als ,erzählte Theologie‘[19] sowie die eine oder andere biblische Geschichte als ,theologische Erzählung‘[20], und bedenkt man die Verortung eines Textes in seinem jeweiligen Kontext, so dürfte sich die Fruchtbarkeit der neuen Betrachtungsweise sehr bald zeigen.

Bedauerlicherweise liegen von seiten der Theologie kaum theoretische und praktische Studien zur Intertextualität vor. Die Ursache, dass die Sphäre der Intertextualität als Ausgangspunkt von Analysen bislang kaum fruchtbringend in die Methodik der Theologie integriert wurde, dürfte darin begründet liegen, dass der Begriff der Intertextualität und die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, zu wenig bekannt sind. Und doch – es gibt auch theologische Untersuchungen, die von dem Phänomen der Intertextualität wissen. Vielleicht könnte Richard B. Hays‘ Buch „Echoes of Scripture in the Letters of Paul“ (New Haven 1989), das die Intertextualität in den Paulinischen Briefen diskutiert, ein möglicher Impuls für die künftige theologische Forschung sein, zumal die Sphäre der Intertextualität darin auch praktische Anwendung findet.[21]

Inwiefern die Beschäftigung mit dem Intertext für die Theologie im allgemeinen gewinnbringend sein könnte, ist von den Vertretern der einzelnen theologischen Disziplinen für das jeweilige Fachgebiet abzuklären und zu beantworten. Für die Bibelwissenschaften jedenfalls hat Hans Hübner ein offensichtliches Interesse daran bekundet; er schreibt:

„Die Theorie der Intertextualität als Theorie der Beziehungen zwischen Texten scheint sich also für die Bemühungen, die Rezeption des Alten Testaments im Neuen methodisch und kategorial in den Griff zu bekommen, geradezu anzubieten. Bisher ging es in den exegetischen Bemühungen um die Feststellung der atl. Zitate im Neuen und um die Verifizierung der Anspielungen auf atl. Texte; es ging zuweilen auch darum, das theologische Verhältnis beider Testamente aufgrund dieser Feststellungen und Verifizierungen zu bestimmen. Was uns aber dringend fehlte, war eine überzeugende Theorie, mit der man die Rezeption des Alten Testaments im Neuen als Rezeption methodologisch reflektieren kann und die dadurch dem Exegeten eine Methode an die Hand gibt, die Forschung an dieser Rezeption verantwortlich und zugleich erfolgreich weiterzuführen. Sollte die Theorie der Intertextualität tatsächlich einen Schlüssel zur methodologischen Lösung dieses Problems bieten, so zeigte sich uns der eigentümliche Tatbestand, dass einerseits in den letzten Jahrzehnten das Verhältnis von Altem und Neuem Testament zueinander eines der drängendsten und wohl auch heikelsten theologischen Themen war, zumal sich in ihm das emotional aufgeladene Verhältnis ,Christentum – Judentum‘ meldete, dass andererseits aber ein von der Literaturwissenschaft zur Verfügung gestelltes Instrumentarium, das gerade an dieser Stelle hilfreich sein könnte, etwa zwei Jahrzehnte lang unbeachtet geblieben wäre.“[22]

Dass die intertextuelle Betrachtungsweise für die Bibelwissenschaften eine Bereicherung darstellen könnte, scheint kaum bestreitbar. Eine theologische Beschäftigung mit Intertextualität könnte des weiteren aber auch zu einer intensiven Zusammenschau des Fragenkomplexes ,Religion und Literatur‘ führen, der sowohl die Literaturwissenschaft als auch die theologische Forschung künftig entscheidend mitprägen dürfte.

 

3. Die Sphäre der Intertextualität in Søren Kierkegaards theologisch-literaturphilosophischem Essay „Furcht und Zittern"

3.1 Kierkegaards Existenzmodell

Auf welche Art und Weise der Text mit dem Kontext in einer Beziehung stehen kann, sei an einem Beispiel ausgewiesen.[23] Im Namen des Pseudonyms Johannes de Silentio nimmt Søren Kierkegaard (1813-1855) in seiner theologisch-literaturphilosophischen Abhandlung „Furcht und Zittern“ Bezug unter anderem auf das alttestamentliche Abraham-Opfer (Gen 22,1-19): Abraham wird von Gott aufgefordert, seinen Sohn Isaak als Brandopfer darzubringen.[24] Abraham ist zum Opfer bereit, er wird aber vom Engel des Herrn von der Opferung abgehalten, „denn jetzt weiß ich, dass du Gott fürchtest“ (Gen 22,12). In Anlehnung an diese Erzählung schildert Kierkegaard zum einen, was Glaube bedeuten kann, zum anderen richtet er den Blick auf seine eigene Existenz und bringt nicht zuletzt auch die Tiefe des Problems ins Spiel, das sich für ihn auftat, als er sich entschloss, seine Verlobung mit Regine Olsen aufzulösen, weil er glaubte, dass seine Schwermut ein Hindernis sei für die Ehe. Wie Abraham sein Vorhaben, Isaak zu opfern, vor diesem verschweigt, so schweigt auch Kierkegaard gegenüber seiner Verlobten über die wahre Ursache der Auflösung der Beziehung. Abrahams Bereitschaft zum Opfer wird von Kierkegaard also in seine persönliche Situation integriert. Übertragen auf die Sphäre der Intertextualität heißt das: Für Kierkegaards ,Text‘ „Furcht und Zittern“ wird Abrahams Opfer zum ,Kontext‘. Ähnlich verfährt der Däne übrigens auch andernorts, beispielsweise in „Die Wiederholung“, und zwar in Anlehnung an die alttestamentliche Ijob-Gestalt. (In der Weltliteratur, auch in Bildender Kunst und Musik sind biblische Protagonisten häufig bezeugt und fungieren dort als Sinnbild theologischer, soziologischer und psychologischer Problemstellungen, als Symbol persönlicher Lebensanschauung.)

Kierkegaard, der sich seiner dänischen Heimat und insbesondere der schon damals gewiss nicht unbedeutenden Stadt Kopenhagen[25] zeitlebens verbunden fühlte und kirchlichen wie staatlichen Missständen stets (und das eine oder andere Mal wohl: allzu) kritisch gegenübertrat, nannte sich einen religiösen Schriftsteller und reflektierte in seinen Werken immer wieder auf Texte unterschiedlichster Herkunft. Literarische Fremdbestimmung ist im Rahmen von Kierkegaards Gesamtwerk mannigfach ausweisbar, nicht zuletzt in „Furcht und Zittern“, einer frühen Schrift, die von außerordentlicher literarischer Finesse geprägt und von theologisch wie philosophisch tief lotenden Gedankengängen getragen ist. In Kierkegaards Schrifttum ist das intertextuelle Spiel konkret kaum bestimmbar ohne eine zumindest minimale Kenntnis seiner Methode. Primär ist es Kierkegaard zu tun um die menschliche Existenz, sie ist für ihn der Impuls seines Denkens, das geprägt ist von den sich zwar nicht ausschließenden, aber graduell doch deutlich voneinander abgegrenzten Sphären der Existenz: der ästhetischen, der ethischen und der religiösen Sphäre. In „Stadien auf des Lebens Weg“ (1845) äußert Kierkegaard sich folgendermaßen bezüglich des Zusammentreffens dieser drei Stadien:

„Es gibt drei Existenzsphären: die ästhetische, die ethische, die religiöse. Das Metaphysische ist die Abstraktion, und es gibt keinen Menschen, der metaphysisch existiert. Das Metaphysische, das Ontologische ist, aber es ist nicht da, denn wenn es da ist, so ist es im Ästhetischen, im Ethischen und im Religiösen, und wenn es ist, so ist es die Abstraktion von dem Ästhetischen, dem Ethischen und dem Religiösen oder ein Prius, das diesen vorhergeht. Die ethische Sphäre ist bloß Durchgangssphäre, und daher ist ihr höchster Ausdruck die Reue als eine negative Handlung. Die ästhetische Sphäre ist die der Unmittelbarkeit, die ethische ist die der Forderung (und diese Forderung ist so unendlich, dass der einzelne Mensch stets bankrott macht), die religiöse Sphäre ist die der Erfüllung, jedoch wohlzumerken, nicht einer Erfüllung wie der, dass man Gold in einen Stock oder in eine Tasche füllt, denn die Reue hat eben unendlich Raum geschafft, und daher dann der religiöse Widerspruch: zugleich auf 70000 Faden Wassers zu liegen und dennoch fröhlich zu sein. – Da die ethische Sphäre ein Durchgang ist, den man jedoch nicht ein für allemal durchgeht, da die Reue ihr Ausdruck ist, so ist die Reue das am meisten dialektische. Kein Wunder darum, dass man sie fürchtet, denn gibt man der Reue einen Finger, so nimmt sie die ganze Hand.“[26]

Die von Kierkegaard in die Diskussion des Denkens eingebrachten Existenzsphären sowie die damit in engem Zusammenhang stehende und von seiten des Dänen als eine legitime Form des Philosophierens betrachtete ,indirekte Mitteilung‘ – Kierkegaard spricht in seinen Schriften sehr oft durch Pseudonyme – bezeugen die Methode seines Denkens[27], das nicht isoliert von seinem Leben gesehen werden darf. (Hierin ähnelt Kierkegaard ein wenig Augustin und unterscheidet sich deutlich von nicht wenigen anderen Dichtern, Theologen und Philosophen, beispielsweise von Hegel.) Kierkegaards Existenzsphären und Mitteilungsformen sind nichts weniger als willkürliche Hirngespinste eines etwas absonderlichen Denkers; sie sind vielmehr Ausdruck einer Lebens- und Denkhaltung, die von Wandel geprägt und auf Zukunft hin offen ist.[28] Das zeigen schon Kierkegaards 1843 publizierte Werke, die gleichsam die Initialzündung seines Denkens bezeichnen und es schon nahezu vollständig ausweisen[29]: „Entweder-Oder“, „Die Wiederholung“, „Furcht und Zittern“. Der im ersten Teil von „Entweder-Oder“ beschriebene und in der Mozartischen Gestalt des Don Juan seinen Meister findende pseudonyme Verfasser Ästhetiker A ist ein unglücklicher Dichter – kleinlaut, schwach und nichtig; der donjuaneske Typus, so schreibt er, genießt stets, er ironisiert wie die Welt so auch sich selbst, kann also das angestrebte Glücklichsein nicht leben, weil er eben nie wirklich ,ist‘, sondern immerzu nur ,wird‘ und deshalb seine Erlebnisse schon im vorhinein überholt hat, indem er gleichsam die Gegenwart in die Zukunft hinein auflöst.[30] (Einen guten Einblick hierzu gibt das „Tagebuch des Verführers“, das „Entweder-Oder“ eingebunden ist und dessen ersten Teil beschließt.) Der Ethiker B, der in Gestalt des Assessors Wilhelm meisterhaft gezeichnet ist (zweiter Teil von „Entweder-Oder“), will den Ästhetiker mit der Problematik menschlicher Existenz konfrontieren und ihm vor Augen führen, dass das Ethische nicht ein weltfremder Rigorismus ist, sondern der rechte Weg zum glücklichen Dasein, das in der Ausgewogenheit von Ästhetischem und Ethischem bestehe. Der Ethiker rät A: Verzweifle!, sage ja zu deiner Verzweiflung, weil du dann deine Selbstverlorenheit erkennen und vom ego-zentrierten ,Ich‘ zur Verwirklichung des ,Selbst‘ gelangen kannst. Dieses Zu-sich-selbst-Kommen ist eine erst durch die Verzweiflung ermöglichte Wiedergeburt aus sich selbst, die Kierkegaard ,Selbstwahl‘ nennt – sie bedeutet die Befreiung von den Fesseln des Ich, den Sprung in die Freiheit des Selbst. Näher besehen ist dieses Sicheingestehen der eigenen Verzweiflung ein Gedanke, den Kierkegaard in „Die Wiederholung“ weiterspinnt, es ist jene (noch ethische) Bewegung, die in „Furcht und Zittern“ als „Bewegung der unendlichen Resignation“ beschrieben wird und die Bahn freimacht für die Glaubensbewegung und somit für das Paradox des Glaubens selbst. Den Weg aus dieser immer noch begrenzten Dimension der Bewegung unendlicher Resignation weist Johannes de Silentio, der von Kierkegaard vorgeschobene Verfasser von „Furcht und Zittern“, der anhand der aufrüttelnd-skandalösen Abraham-Isaak-Erzählung (Gen 22,1-19) darauf aufmerksam macht, dass der Fall eintreten könne, wo zwischen der Unendlichkeit und der Endlichkeit eine Diskrepanz aufbricht. Der von Kierkegaard gezeichnete Abraham gewinnt durch eigene Kraft sein ,ewiges‘ Selbst, indem er verzichtet, sowohl unmittelbar zu leben wie der Ästhetiker als auch im Sinne allgemein geltender Normen glücklicher Familienvater zu sein wie der Ethiker. Während der Ethiker dem Ästhetiker klarzumachen sucht, er könne sich durch die Selbstwahl ,wieder‘bekommen, erweitert Kierkegaard nun in „Furcht und Zittern“ das in „Entweder-Oder“ anvisierte Blickfeld und sagt, dass zwar die Bewegung der Unendlichkeit aus eigener Kraft vollzogen werden könne, nicht aber die (als entscheidend anzusehende) Rückkehr zur Endlichkeit, weil diese nicht in der Kraft des Menschen steht, sondern des Glaubens an das Paradoxe bedarf, das entgegen menschlichem Begreifen und Berechnen daran festhält, dass Abraham sein Sohn von Gott gleichsam wiedergegeben wird. Diese Glaubensbewegung erweist sich somit nach Kierkegaards Philosophie als entscheidend, sie ist der sogenannte , Sprung‘, der in scheinbar absurder Dialektik die Gegensätze von Ewigem und Zeitlichem aufreißt wie auch deren Verbindung schafft; diese Verbindung nennt Kierkegaard den , Augenblick‘ und meint damit das Ewigsetzen des Geschichtlichen und Geschichtlichsetzen des Ewigen – unüberbietbar manifestiert im Incognito des menschgewordenen Gottes Jesus von Nazaret. (Diese hier nicht mehr weiter verfolgte theologische Thematik erhellt Kierkegaard immer wieder in seinen an „Furcht und Zittern“ anschließenden Schriften; sie gipfelt in „Einübung im Christentum“.)

 

3.2 „Furcht und Zittern“ vor dem Hintergrund einer intertextuellen Bestandsaufnahme

Worin aber besteht nun die eigentliche Intention der philosophisch-theologischen Abhandlung „Furcht und Zittern“, die im Untertitel als ,dialektische Lyrik‘ bezeichnet und einem Pseudonym namens Johannes de Silentio zugeschrieben ist?[31] Das Werk ist teils eine Deutung, teils eine – absichtliche – Umdeutung des biblischen Abraham-Opfers, auch literarischer Ausdruck von Kierkegaards frühem Glaubenskampf, seiner Entlobungskrise und seiner kritischen Beurteilung des Hegelschen Systems, somit also eine Standortbestimmung in bezug auf Glaube, Existenz und Philosophie. In „Furcht und Zittern“ umkreist Kierkegaard den Sprung aus dem ästhetischen und ethischen Lebensstadium in die Sphäre des Glaubens. Den von ihm als ,Glaubensritter‘ bezeichneten Abraham vergleicht Kierkegaard mit ,ethisch-tragischen Helden (Agamemnon, Jephta und Junius Brutus), auch mit ,ästhetischen‘ Helden (z. B. Faust und der alttestamentlichen Tobias-Gestalt). Im Gegensatz zu diesen jedoch glaubt Abraham ,kraft des Absurden‘, sein Glaube ist nämlich – so Kierkegaard – nicht verifizierbar, also ein mit dem Verstand nicht fassbares Paradox.

 

Titel und Untertitel

Titel, Untertitel, pseudonymer Verfassername geben wie auch die Wahl des dem Werk vorangestellten Mottos Auskunft über Kierkegaards ,literarischen Impuls‘. Den Ausdruck ,Furcht und Zittern‘ – nach Immanuel Kant[32] „ein hartes Wort, welches, missverstanden, zur finstersten Schwärmerei antreiben kann“ – dürfte Kierkegaard dem Alten oder Neuen Testament entnommen und in entsprechendem Sinne angewendet haben. Insbesondere die Stelle Phil 2,12: „Müht euch mit Furcht und Zittern um euer Heil“ (vgl. Ps 2,11 u. 55,6; 2 Kor 7,15; Eph 6,5) dürfte in Frage kommen, wenn man bedenkt, dass sich in Kierkegaards Tagebuch die folgende Eintragung findet: „Furcht und Zittern (vgl. Phil 2,12) ist nicht der erste Antrieb (primus motor) im christlichen Leben, denn das ist die Liebe; aber es ist, was die Unruhe in der Uhr ist – es ist die Unruhe des christlichen Lebens“ (II A 370).[33] Ein in der endgültigen Formulierung des Titels (wie auch des Untertitels und des Mottos) sowie in der Benennung des pseudonymen Verfassers sich äußernder entscheidender literarischer Impuls, „Furcht und Zittern“ zu schreiben, dürfte für Kierkegaard – wie oben schon erwähnt – vor allem in seinem Verhältnis zu Regine Olsen begründet liegen. Sie gab den wohl entscheidenden Anstoß für Kierkegaards ,Wirksamkeit als Schriftsteller‘ (so benennt der Däne eine autobiographische Schrift). Mit ihr verlobt er sich 1840, löst die Verlobung aber nach wenigen Monaten auf. Die Gründe für diese Handlung sind mehr oder weniger dunkel, und es ist erschütternd, was Kierkegaard in sein Tagebuch notiert: „Das einzige, das mich tröstet, ist, dass ich mich zum Sterben niederlegen und dann in meiner Todesstunde die Liebe gestehen könnte, die ich nicht gestehen darf, solange ich lebe, die mich gleichermaßen glücklich und unglücklich macht“ (III A 90). Der in der Kopenhagener High Society wohlbekannte Kierkegaard, „der junge Löwe der Kopenhagener Gesellschaft: eine Art nordischer Variante eines Stendhalschen oder Balzacschen Helden seines Zeitalters“[34], opfert sein Ansehen und gibt sich als ein Schuft aus, weil er der Ansicht ist, daß Regine Olsen nur auf diese Art und Weise aus einer durch die Lösung der Verlobung hervorgerufenen Krise zu finden vermöge. Das Resultat dieser Taktik ist für Kierkegaard niederschmetternd: Regine scheint den Verlust ihres Verlobten viel schneller, als von diesem erwartet, zu verschmerzen und heiratet wenig später Frederik Schlegel. Dass diese Begebenheit mit „Furcht und Zittern“ in einem Zusammenhang steht, ist offenkundig und geht aus den mit „Mein Verhältnis zu ,ihr‘“ betitelten Aufzeichnungen von 1849 klar hervor, worin Kierkegaard sein Regine-Verhältnis aus späterer Sicht noch einmal reflektiert und seine frühere Vorgangsweise verteidigt: „Doch musste das Verhältnis gebrochen werden, und grausam musste ich sein, um ihr zu helfen – schau, das ist ,Furcht und Zittern‘“ (X5 A 150,7).

„Furcht und Zittern“ trägt den Untertitel ,dialektische Lyrik‘. Durch die eher ungewöhnliche Verflechtung der Begriffe ,Dialektik‘ und ,Lyrik‘ dürfte Kierkegaard wohl sagen wollen, dass er sich sowohl als Dichter versteht, der seine Betrachtungen dialektisch ausführen, als auch als ein philosophisch und theologisch orientierter Autor, der seine Erörterungen lyrisch darlegen will. Kierkegaard will also seinem Leser bedeuten, auf den Sinnzusammenhang der Ausdrücke ,Lyrik‘ und ,Dialektik‘ zu achten, die in „Furcht und Zittern“ auf grandiose Art und Weise in immer wieder neuen Variationen miteinander orchestriert sind und auf klassische Werke der literarischen Gattung ,Lyrik‘ wie des philosophischen Begriffs der Dialektik Bezug nehmen. Beispiele der von Kierkegaards Pseudonym angeführten diesbezüglichen Reminiszenzen wären etwa die Sage „Agnete und der Meermann“, des weiteren eine von Aristoteles in seiner „Politik“ erzählte Geschichte, wonach Seher einem Bräutigam ein Unheil vorhersagen, das in seiner unmittelbar bevorstehenden Heirat gründet, sowie anderseits die Struktur des dialektischen Dreischritts, die Hegel selbst gerne anhand der Genese des Menschen illustrierte und auf die in „Furcht und Zittern“ kritisch reflektiert wird. Nicht unwichtig zu bemerken ist hierbei, dass Kierkegaards Abraham-Schrift ihrerseits dialektisch strukturiert und an manchen Stellen wiederum sehr poetisch gehalten ist und dass Kierkegaards dialektisches Spiel sich nicht zuletzt darin zeigt, dass einige Teile seiner Schrift wohl ebensogut sich unter den Begriff ,lyrische Dialektik‘ subsumieren ließen. Theodor Haecker hat mit Blick auf den Untertitel von Kierkegaards „Furcht und Zittern“ gesagt: „Dialektische Lyrik! Über 2000 Jahre hat es gedauert, bis dieser Untertitel für das Symposion oder den Phaidon gefunden wurde.“[35]

 

Pseudonymer Verfassername und Motto

Der pseudonyme Verfasser von „Furcht und Zittern“ ist Johannes de Silentio. Der Name ,de Silentio‘ kann bedeuten, dass der Verfasser über das Schweigen redet oder dass er etwas verschweigen will. Das Motiv des Schweigens durchzieht also wie die biblische Erzählung über das Opfer des Abraham so auch Kierkegaards Schrift. Johannes de Silentio reflektiert über den Glauben, ihm fehlt aber nach eigener Aussage der Mut zum Glaubenssprung, und, vor dem Paradox des Glaubens stehend, muss er notgedrungen schweigen. Auch der biblische Abraham verschweigt dem Sohn sein Vorhaben, nämlich ihn auf Gottes Geheiß hin als Brandopfer darzubringen. Somit stehen wohl die Intention der biblischen Erzählung und der von Kierkegaard für sein Pseudonym gewählte Verfassername Johannes de Silentio in einem wechselseitigen Zusammenhang.

Einen äußerst subtilen und ironisch gewürzten Umgang mit der intertextuellen Form der Allusion oder Anspielung zeigt die Art und Weise, wie Johannes de Silentio sich im Vorwort abgrenzt von Hegels Ethik-Verständnis (das im zweiten Teil von „Furcht und Zittern“ näher entfaltet und kritisch betrachtet wird). Johannes de Silentio – als der „Verfasser dieser Schrift" – kritisiert darin tiefsinnig-ironisch das Hegelsche ,System‘ und das Bestreben, den Glauben auf den Begriff zu bringen (auch das Rezensionswesen und wissenschaftliche Betrachtungsweisen werden hier mit brillanter Ironie durchleuchtet):

„Der Verfasser dieser Schrift ist keineswegs Philosoph, er hat das System nicht verstanden, ob es da ist, ob es fertig ist, er hat schon genug für seinen schwachen Kopf bei dem Gedanken, welch einen ungeheuren Kopf jeder in unserer Zeit haben muss, da jeder solch einen ungeheuren Gedanken hat. Wenn man auch imstande wäre, den ganzen Inhalt des Glaubens in die Form des Begriffs umzusetzen, so folgte daraus nicht, dass man den Glauben begriffen hat, begriffen, wie man in ihn hineinkam oder wie er in uns hineinkam. Verfasser dieser Schrift ist keineswegs Philosoph, er ist, poetice et eleganter, ein Extraschreiber, der weder das System schreibt noch das System verspricht, der sich weder am System verschreibt noch dem System verschreibt. Er schreibt, weil dies ihm ein Luxus ist, der an Behaglichkeit und Evidenz gewinnt, je weniger da kaufen und lesen, was er schreibt. Er sieht leicht sein Schicksal voraus in einer Zeit, da man die Leidenschaft ausgestrichen hat, um der Wissenschaft zu dienen, in einer Zeit, da ein Verfasser, der Leser haben will, darauf achten muss, so zu schreiben, dass es sich bequem durchblättern lässt während des Mittagschlafs, und darauf achten muss, sein äußeres Auftreten dem jenes höflichen Gärtnerburschen in der Annoncenzeitung anzugleichen, der mit dem Hute in der Hand und guten Empfehlungen von der Stelle, wo er zuletzt gedient hat, sich einem höchstgeehrten Publikum anempfiehlt. Er sieht sein Schicksal voraus, gänzlich ignoriert zu werden, er ahnt das Entsetzliche, dass die eifrige Kritik ihn mehrere Male geschulmeistert stehen lassen wird; ihm graut vor dem noch Entsetzlicheren, dass der eine oder andere betriebsame Registrator, ein Paragraphenschlucker ... ihn in Paragraphen zerschneiden wird, und das mit derselben Unerbittlichkeit wie der Mann, der, um der Interpunktionswissenschaft zu dienen, seine Rede einteilte, indem er die Worte zählte, so dass alle 50 Worte ein Punkt und alle 35 ein Semikolon kam.“[36]

Aber nicht bloß Titel, Untertitel und pseudonymer Verfassername geben einen adäquaten Einblick in die literarisch wie biographisch gefärbte Fremdbestimmung des Werkes, vielmehr kommt darin auch dem Motto eine besondere Bedeutung zu, also jener ,kleinen literarischen Form‘ (W. Rehm), die dem Autor eine gewiss nicht zu unterschätzende Stil- und Aussagemöglichkeit bietet, über deren präludierende, pikant pointierende oder polemisch provozierende Wirkung Kierkegaard Bescheid wusste und die er deshalb in seinen Werken immer wieder behutsam einsetzte.[37]

Kierkegaards Pseudonymität und seine Wahl des Mottos bedingen einander, sie stehen wie in anderen von ihm in der Form der indirekten Mitteilung herausgegebenen Schriften so auch in „Furcht und Zittern“ in einem Zusammenhang und werfen ein Licht auf die innerhalb der Kierkegaard-Forschung noch zu wenig einsichtig gemachte Methodik Kierkegaards.

Als Motto zu „Furcht und Zittern“ wählte Kierkegaard ursprünglich das folgende Zitat aus „Briefe zu Beförderung der Humanität“ (1793-1797) von Johann Gottfried Herder[38]: ,,,Schreibe!‘ sprach jene Stimme und der Prophet antwortete: für wen? Die Stimme sprach: ,schreibe für die Todten! für die, die du in der Vorwelt lieb hast.‘ – ,Werden sie mich denn lesen?‘ – ,Ja: denn sie kommen zurück, als Nachwelt!‘“ Kierkegaard hatte zunächst die Absicht, dieses Zitat zu verwenden und dabei das Ja Herders in ein Nein umzuwandeln, verwendete aber dann doch ein anderes Zitat; er glaubte nämlich, dieses entspreche seiner persönlichen Situation besser, war doch inzwischen seine Verlobung mit Regine Olsen in Brüche gegangen. Das „Furcht und Zittern“ nunmehr vorangestellte Motto ist einem Briefentwurf Johann Georg Hamanns[39] (an Friedrich Nicolai; 4. März 1763) entnommen und lautet in der Kierkegaard-Fassung: „Was Tarquinius Superbus in seinem Garten mit den Mohnköpfen sprach, verstand der Sohn, aber nicht der Bote.“ Das bedeutet: Weil der Sohn als einziger die Mitteilung begreift, kann er dem Vater antworten, und zwar im Incognito, also in anderen nicht erkennbarer Art und Weise. Die Wahl dieses Mottos ist ein dialektischer Geniestreich Kierkegaards, bringt dieser doch dadurch die entscheidenden Pole seiner Biographie in einen Zusammenhang, nämlich das Verhältnis zu seinem Vater einerseits wie auch die Beziehung zu Regine Olsen anderseits. Zum einen weiß Kierkegaard von der Schwermut des Vaters, die in erster Linie wohl in einer Jugendsünde gründete. Das Wissen darum, das es Kierkegaard möglich machte, die Verhaltensweisen des Vaters besser zu verstehen, ist ausgewiesen in einer Tagebuchnotiz: „Das Entsetzliche mit dem Mann, der einmal als kleiner Junge, als er Schafe hütete auf der jütischen Heide, viel Schlimmes litt, hungerte und fror, sich auf eine Anhöhe stellte und Gott verfluchte – und der Mann war nicht imstande, das zu vergessen, als er 82 Jahre alt war“ (VII A 4). Durch die Wahl dieses Mottos gibt Kierkegaard also Einblick in sein Verhältnis zum Vater, und er weist zusätzlich auch hin auf die Leserin Regine Olsen, der es beim Erscheinen des Buches wohl als einziger möglich gemacht werden sollte, darin eine Erklärung für die eigenartige Verhaltensweise ihres Verlobten zu finden, der ,schwieg‘ und die Beziehung mit ihr ohne offenkundigen äußeren Anlass auflöste.

Das von Kierkegaard gewählte Motto reminisziert somit nicht bloß einen anderen Autor, es gibt vielmehr – wie Titel, Untertitel und pseudonymer Verfassername – Auskunft auch über den Impuls, „Furcht und Zittern“ zu schreiben und zu veröffentlichen, einen Impuls, der von persönlichen Lebenserfahrungen gespeist war und massiv einwirkte auf die Existenzbetrachtung des Dänen. Zusätzlich bietet das Motto wie auch das Buch insgesamt eine Interpretation des biblischen Abraham-Opfers, im besonderen des Minimal-Dialogs zwischen Abraham und Isaak. Kierkegaard will seinem Leser deutlich machen, dass es Gründe geben kann, die gegenseitiges Einverständnis einzig und allein im Schweigen auszudrücken vermögen.

 

Zitat und Paraphrase

Auch in vier Meditationen, die in die Schrift einstimmen wollen und die Abraham-Isaak-Erzählung variieren, ist diese Intention spürbar. Diese Kurzerzählungen sind sowohl in ihrer literarischen Gestaltung als auch in ihrer theologischen (Um-)Deutung unvergleichliche Paraphrasierungen des biblischen Prätextes und könnten einem musikalischen Begriff entsprechend bezeichnet werden als ,Thema mit Variationen‘. In jeder dieser Erzählungen leistet zwar wie das biblische Vorbild so auch ein ,poetischer‘ Abraham dem Gottesbefehl Folge. Im Unterschied zur biblischen Aussage lässt sich dieser Gehorsam jedoch nicht vom Glauben leiten, er ist vielmehr von Angst und Zweifel geprägt. Das primär hervorstechende – in der sogenannten Sekundärliteratur allerdings kaum beachtete – Merkmal dieser Umdeutungen ist der Umstand, dass Kierkegaard gerade durch Akzentverschiebungen die Intention der biblischen Vorlage – darin handelt es sich um eine Erzählung, die eine Glaubensprobe und das Vertrauen Abrahams in seinen Gott schildert – verdeutlicht, was insbesondere aus der ersten Variation – am Beginn steht als Zitat Gen 22,1f – ersichtlich ist, die offenkundig auch biographische Anhaltspunkte aufweist – Kierkegaards Vater schweigt gegenüber seinem Sohn über Anlass und Ursache seiner Niedergeschlagenheit, Kierkegaard seinerseits wiederum gibt sich lieber als ein Schuft aus, als seiner Verlobten die wahren Hintergründe der Trennung darzulegen.

Kierkegaards Alter ego Johannes de Silentio erzählt:

,,,Und Gott versuchte Abraham und sagte zu ihm: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebst, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn dort zu einem Brandopfer auf dem Berge, den ich dir zeigen will‘ [1 Mose 22,1-2]. – Es war ein früher Morgen. Abraham stand zeitig auf, ließ die Esel satteln und verließ mit Isaak seine Wohnstätte. Sara aber sah ihnen vom Fenster aus nach, hinab ins Tal, bis sie sie nicht mehr sah. Sie ritten schweigend drei Tage lang, am Morgen des vierten Tages sagte Abraham noch immer kein Wort, sondern erhob seine Augen und sah den Berg Morija in der Ferne. Er ließ die Knechte zurück und ging allein mit Isaak an der Hand auf den Berg. Aber Abraham sprach zu sich selbst: ,Ich möchte doch vor Isaak nicht verheimlichen, wohin ihn dieser Gang führt.‘ Er blieb stehen, legte seine Hand zu einem Segen auf Isaaks Haupt, und Isaak beugte sich, um den Segen entgegenzunehmen. Und Abrahams Angesicht war voll väterlicher Liebe, sein Blick war mild, seine Worte klangen ermahnend. Aber Isaak konnte ihn nicht verstehen, seine Seele konnte sich nicht erheben; er umfasste Abrahams Knie, er warf sich flehentlich vor seine Füße, er bat um sein junges Leben, um seine hoffnungsvolle Zukunft, er erinnerte an die Freude im Hause Abrahams, und er erinnerte an den Kummer und an die Einsamkeit. Da richtete Abraham den Jungen wieder auf, nahm ihn an die Hand und ging weiter, und seine Worte waren voll Trost und Ermahnung. Aber Isaak konnte ihn nicht verstehen. Er bestieg den Berg Morija, aber Isaak verstand ihn nicht. Da wandte er sich einen Augenblick von ihm ab, aber als Isaak das Angesicht Abrahams wieder zu sehen bekam, da war es verändert, sein Blick war wild, seine Erscheinung war entsetzlich. Er packte Isaak an der Brust, warf ihn an die Erde und sagte: ,Dummer Junge, glaubst du, ich sei dein Vater? Ich bin ein Götzenverehrer. Glaubst du, es ist Gottes Befehl? Nein! Es ist meine Lust.‘ Da erbebte Isaak und rief in seiner Angst: Gott im Himmel, erbarm dich meiner, Gott Abrahams, erbarm dich über mich; habe ich keinen Vater auf Erden, so sei du mein Vater!‘ Aber Abraham sagte leise bei sich selbst: , Herr im Himmel, ich danke dir; es ist doch besser, dass er glaubt, ich sei ein Unmensch, als dass er den Glauben an dich verlöre.‘“[40]

 

4. Abschließende Überlegungen

Der Begriff der Intertextualität, von der Poststrukturalistin Julia Kristeva Ende der 60er Jahre eingeführt, ist im Anschluss an Michail Bachtins Konzept der Dialogizität entwickelt worden. Schon Bachtin selbst forderte, die feinen Veränderungen der Bedeutung bei angespannter Dialogizität zu erforschen[41], und er gab so einen ersten Anstoß für die mittlerweile als ,Alterität‘ und ,Intertextualität‘ bezeichneten Ausgangspunkte literaturtheoretischer Analysen. Nach Bachtin ist jedes Wort, eigentlich jede Aussage dem Wesen nach dialogisch. Das gilt für alle Formen der Beziehungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden; der Begriff ,Text‘, verstanden als eine Reflexion, die eine fremde Aussage als Zeichen einer fremden Sinnposition impliziert, kann hierbei auch auf nicht-literarische Größen Anwendung finden, und so ist jede Art von Text schon beheimatet in einem Universum von Texten, kann also aus diesem Kontext heraus in die Aktualität des Lebens dynamisch eingewoben werden.

Die über eine positivistisch orientierte Betrachtungsweise weit hinausführende intertextuelle Untersuchungsmethode macht es möglich, diese Gestaltungsebene unter dem Blickwinkel zu befragen, wie eine Vorlage weiterwirkt, welchen aktuellen Anreiz sie bietet, welche Wirkung ein Einfluss hervorruft. Am Beispiel von „Furcht und Zittern‘ kann diese Fragestellung gut erörtert und der theologische Blick auf die Sphäre der Intertextualität methodisch geschärft werden. Søren Kierkegaard, dessen methodisches Vorgehen von der Frage der menschlichen Existenz getragen ist, erkennt – als ein auch in Fragen von Dichtung, Philosophie und Musik kompetenter religiöser Schriftsteller – am Text die genuine Möglichkeit kreativer literarischer Gestaltung. Im besonderen der Text Gen 22,1-19 ist für Kierkegaard hierbei der Kontext, dem er sich gewissermaßen in ,Furcht und Zittern‘ nähert und den er – um seine Intention zu veranschaulichen – zum Teil absichtlich anders akzentuiert, als dies eine bibeltheologische Untersuchung der Stelle ergibt. Die kontextuelle Verschlungenheit des ,neuen‘ Textes „Furcht und Zittern“ äußert sich schon deutlich in Titel, Untertitel, pseudonymem Verfassernamen und Motto. Insgesamt schildert Kierkegaard den ,Sprung‘ in den Glauben, und er vergleicht dessen ,kraft des Absurden‘ am Paradox des Glaubens festhaltenden biblischen Akteur Abraham mit ethisch-tragischen sowie mit ästhetischen Helden.

Der mannigfach belesene Däne reflektiert in „Furcht und Zittern“ auch auf andere biblische Perikopen. Um seine Intention zu verdeutlichen, greift er verschiedene Formen der Intertextualität auf, und wie die Bibel so finden sich häufig auch eingewoben antike Schriften (z. B. Homer, Ovid, Plutarch, Horaz, Euripides, Livius, Apuleius, Diogenes Laertius, Longus, Platon, Aristoteles, Seneca) sowie neuzeitliche Dichtung und Philosophie (z. B. Heiberg, Öhlenschläger, Boileau, Olufsen, Baggesen, Andersen, Cumberland, Shakespeare, Goethe, Schiller, Lessing, Descartes, Hegel, Kant, Rosenkranz, Hamann). Dabei ist es Kierkegaard nicht darum zu tun, bereits von anderen Geschriebenes oder (wie sein Regine-Verhältnis zeigt) persönlich Erlebtes bloß als ,Material‘ zu verwenden; vielmehr formt er dieses nicht selten um und ordnet es sehr subtil ein in seine eigene literarische Produktion, deren Methodik getragen ist insbesondere von Pseudonymen und der Form der indirekten Mitteilung. Eine Konfrontation mit Kierkegaard scheint unter anderem auch deshalb fruchtbar, weil er menschliche Existenz nicht bloß spekulativ umkreist, sondern ihr auch mit Bezug auf Dichtung und Musik nachspürt und so den Blick auf das von ihm in die Diskussion eingebrachte Denkmodell von ästhetischer, ethischer und religiöser Kategorie schärft.



[1] Vgl. Z. Konstantinoric, Vergleichende Literaturwissenschaft. Bestandsaufnahme und Ausblicke (Germanistische Lehrbuchsammlung 81). Bern 1988, 119-135. Vgl. zum Begriff der Intertextualität: Th. Verweven – G. Witting, Parodie, Palinodie, Kontradiktio, Kontrafaktur – Elementare Adaptionsformen im Rahmen der Intertextualitätsdiskussion. In: Dialogizität. Hg. R. Lachmann. München 1982, 202-236; Ch. Grivel, Thèses préparatoires sur les intertextes. In: ebd. 237-248; K. Stierle, Werk und Intertextualität. In: Das Gespräch, Hg. K. Stierle – R. Warning (Poetik und Hermeneutik 11). München 1984,139-150; R. Lachmann, Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: ebd. 133-138; M. Schmeling, Textuelle Fremdbestimmung und literarischer Vergleich. In: Neohelicon 12,1 (1985) 231-239; M. Geier, Die Schrift und die Tradition. Studien zur Intertextualität. München 1985; U. Broich – M. Pfister, Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35). Tübingen 1988; R. Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Funkfurt a. M. 1990; Intertextuality. Theories and Practices. Hg. M. Worton –J. Still. Manchester 1990.

[2] Lachmann, Ebenen (s. Anm. 1) 133.

[3] Konstantinovic (s. Anm. 1) 123 Anm. 5. Vgl. R. Lachmann, Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mytho-Poetik als Paradigma dialogisierter Lyrik. In: Das Gespräch (s. Anm. l) 489-515. Vgl. von Bachtin besonders: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur (Ullstein-Buch 35218). Frankfurt a. M. 1985 (Erstfassung Leningrad 1929).

[4] Vgl. H. Hübner, Intertextualität – die hermeneutische Strategie des Paulus. Zu einem neuen Versuch der theologischen Rezeption des Alten Testaments im Neuen. In: ThLZ 116 (1991) 882-898, hier 883f.

[5] Stierle (s. Anm. 1) 139-150, hier 140.

[6] Schmeling (s. Anm. 1) 238.

[7] M. Frisch, Stiller (Suhrkamp-Tb. 105). Frankfurt a. M. 1973,186f.

[8] Schmeling (s. Anm. 1) 232.

[9] Ebd. 235f.

[10] Vgl. zur rezeptionsgeschichtlichen Methode H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation (edition suhrkamp 418). Frankfurt a. M. 1984,144-207.

[11] Vgl. Konstantinovic (s. Anm. 1) 124-129.

[12] G. Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von B. Strauß (Edition Akzente). München 1990, 220.

[13] Ebd. 221.

[14] Vgl. U. Eco, Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen. Hg. M. Franz – St. Richter (Reclam Leipzig 1285). Leipzig 1990, 190-245.

[15] Bachtin (s. Anm. 3) 129f.

[16] O. Mandelstam, Über Dichtung. Essays. Hg. P. Nerler (Kiepenhauer Bücherei 4). Leipzig 1991, 14f.

[17] P. Ricœur, Die lebendige Metapher (Übergänge 12). München 1991 (bes. Kap. II/2, 63-73: „Die Metapher als Sinnveränderung“).

[18] P. Ricœur, Zufall und Vernunft in der Geschichte. Tübingen 1986, 11.

[19] M. Buben, Abraham der Seher. In: M. Buben, Werke. Bd. 2: Schriften zur Bibel. München 1964, 871-893, hier 876.

[20] C. Westermann, Forschung am Alten Testament. Gesammelte Studien. Bd. 1 (TB 24). München 1964, 72.

[21] Auf Hays‘ Studie nimmt kritisch würdigend Bezug Hübner in seinem Artikel Intertextualität (s. Anm. 4).

[22] Ebd. 882f.

[23] Vgl. zum Folgenden P. Tschuggnall, Die Sphäre der Intertextualität in Søren Kierkegaards theologisch-philosophischer Abhandlung „Furcht und Zittern“. In: Neohelicon 20,1 (1993) 187-200.

[24] Vgl. P. Tschuggnall, Das Abraham-Opfer als Glaubensparadox. Bibeltheologischer Befund – Literarische Rezeption – Kierkegaards Deutung (EHS 23, 399). Frankfurt a. M. 1990.

[25] In diesem Zusammenhang vielleicht nicht uninteressant: Kopenhagen zählte 1853 etwa 130.000 Einwohner (vgl. R. Skovmand, Danmarks historie. Folkestyrets Fødsel. 1830-1870. Kopenhagen 1978, 388; Hinweis von K. Demetz).

[26] S. Kierkegaard, Stadien auf des Lebens Weg. In: S. Kierkegaard, Gesammelte Werke. Bd.15. Hg. E. Hirsch [u. a.].  Düsseldorf 1958, 507.

[27] Vgl. P. Tschuggnall, Søren Kierkegaards Mozart-Rezeption. Analyse einer philosophisch-literarischen Deutung von Musik im Kontext des Zusammenspiels der Künste (EHS 20, 364). Frankfurt a. M. 1992, 78.

[28] Vgl. H. Deuser, Kierkegaard. Die Philosophie des religiösen Schriftstellers (EdF 232). Darmstadt 1985, 149.

[29] Vgl. zum Folgenden Tschuggnall, Das Abraham-Opfer (s. Anm. 24) 179f; W. Schulz, Søren Kierkegaard. Existenz und System. In: Søren Kierkegaard. Hg. H.-H. Schrev (WdF 179). Darmstadt 1971, 297-323, hier 299-309.

[30] Vgl. in diesem Zusammenhang E. J. Ziolkowski, Kierkegaard's Concept of the Aesthetic: A Semantic Leap from Baumgarten. In: Literature and Theology 6 (1992) 33-46.

[31] Vgl. Tschuggnall, Das Abraham-Opfer (s. Anm. 24) bes. 84-156. 176-194; W. Greve, Kierkegaards maieutische Ethik. Von „Entweder-Oder II“ zu den „Stadien“. Frankfurt a. M.1990, 162-188; J. Slök, Christentum mit Leidenschaft. Ein Weg-Weiser zur Gedankenwelt Søren Kierkegaards (KT 83). München 1990, 91-103.

[32] I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: I. Kant, Werke. Hg. W Weischedel. Bd. 4. Darmstadt 1966, 645-879, hier 722.

[33] Tagebuchaufzeichnungen Kierkegaards sind hier zitiert nach der Gesamtausgabe der Werke Kierkegaards (Hg. E. Hirsch [u. a.]. Köln 1951ff) und angegeben nach der entsprechenden Archivnummer.

[34] K. Stern, Die Flucht vor dem Weib. Zur Pathologie des Zeitgeistes. Salzburg 1968, 148.

[35] Th. Haecker, Søren Kierkegaard. In: Søren Kierkegaard (s. Anm. 29) 19-51, hier 24f.

[36] S. Kierkegaard, Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio. Hg. L. Richter (Tb. Syndikat – EVA 23). Frankfurt a. M. 1984, 9f.

[37] Vgl. W. Rehm, Mottostudien. Kierkegaards Motti. In: W. Rehm, Späte Studien. Bern 1964, 215-248; Tschuggnall, Das Abraham-Opfer (s. Anm. 24) 115-117.

[38] J. G. Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität. In: J. G. Herder, Werke. Bd. 18. Hg. B. Suphan. Berlin 1883, 92 (95. Brief).

[39] J. G. Hamann, Briefwechsel. Bd. 2. Hg. H. ZiesemerA. Henkel. Wiesbaden 1956, 195: „Was Tarquinius Superbus in seinem Garten für die lange Weile mit den Mohnköpfen (that) sprach, verstand der Sohn, aber nicht der Bote.“

[40] Kierkegaard, Furcht und Zittern (s. Anm. 36) 12.

[41] Bachtin (s. Anm. 3) 124.

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