Schluß Henning - TheoArt-komparativ

Von der Bildungskatastrophe zur Neubegründung der Schule

Herausforderungen der Breitenbildung in der Reformation

von Henning Schluß

 

Abstract

Für das mittelalterliche Bildungswesen bedeutete die Reformation eine massive Krise. Der Aufsatz vertritt die These, dass diese Krise insbesondere von Luther nicht nur als Nebenfolge der Reformation billigend in Kauf genommen, sondern das Ende des überkommenen Modells des Schulehaltens von ihm ausdrücklich angestrebt wurde. Allerdings nutzt Luther die Gunst der Stunde und wirbt nicht nur für die Neuerrichtung von Schulen. Er entwickelt neben verschiedenen Begründungen für Schule (auch ganz innerweltlichen) auch organisatorische Konzepte für die neue Schule. Aspekte der Reformpädagogik wie koedukative oder die Standesgrenzen überschreitende Perspektiven lassen sich nachweisen, die freilich immer wieder in den Horizont seiner Gegenwart eingebunden werden. Begründet werden diese neuen Perspektiven, ganz im Geist der Zeit, durch einen Verweis auf zurückliegendes, insbesondere die Griechen. Diese dienen für Luther wie die humanistischen Zeitgenossen als Vorbild für die Schulbildung . Dabei verändert Luther jedoch das antike Vorbild und schafft damit einen konzeptionell neuen Ansatz zur Begründung von Schule.


Schlagwörter: Reformation, Bildung, Schule, Bildungskatastrophe, Luther, Schulträgerschaft, Reformpädagogik

1 Vorbemerkung

Im Folgenden wird eine ideengeschichtliche Rekonstruktion versucht.1 D.h. es sollen pädagogische Konzeptionen Luthers analysiert und diskutiert werden. Eine Wirkungsgeschichte dieser Ideen wird hier nicht – oder nur ganz am Rande diskutiert. Ebenfalls soll in dem Beitrag nicht behauptet sein, dass der ganze Luther sich bruchlos auf die hier rekonstruierte, insbesondere schultheoretische Position festlegen ließe. Vielmehr scheinen in diesem Beitrag auch die Brüche in Luthers Argumentation durch. Dabei sind neben Entwicklungen in Luthers Denken unterschiedliche Adressaten und „Sitze im Leben“ des jeweiligen Schrifttums ebenso zu bedenken, wie die in der bildungstheoretischen Diskussion gegenwärtig wieder vermehrt diskutierten Bedenken gegen die Annahme eines starken homogenen und konsistenten Subjekts, das in seinen Argumentationen kontinuierlich mit sich selbst identisch sei (Sattler 2009).2
Vielmehr geht es darum, dem Entstehen von Begründungszusammenhängen von Schule in einer geschichtlichen Umbruchssituation nachzuspüren. Dabei wird interpretativ der Schwerpunkt auf diese neu entstehenden Argumente gelegt. Es wird nicht behauptet, dass die vorgeführten Argumente hier ihren einmaligen und ersten Ursprung haben. Hier sei lediglich behauptet, dass in der spezifischen reformatorischen Situation auch die Art der Begründung von Schule und Bildung sich dramatisch änderte. Luther selbst hatte an diesem breitenwirksamen Argumentationswechsel erheblichen Anteil. Die hier vorzufindenden Begründungsfiguren, das ist die Behauptung, bleiben oder werden zuweilen Jahrhunderte später Kernbestand abendländischen bildungs- und schultheoretischen Denkens, ohne dass hier eine lineare Wirkungsgeschichte behauptet wäre. Wenn man so will, werden lediglich vertraute pädagogische Argumente zu einer Zeit aufgesucht, in der sie in gegenwärtigen Geschichtsschreibungen der Pädagogik häufig nicht vermutet werden.
Insgesamt läuft der Vortrag auf die These hinaus, dass die Bildungsreform, die mit der Reformation ihren Ausgang nahm, aber im „konfessionellen Zeitalter“ (Martin Jäggle) keineswegs auf sie beschränkt blieb, aus einer veritablen Bildungskatastrophe hervorging, in der überkommene Muster nicht mehr überzeugten und gerade deshalb Begründungsstrukturen neu erwirtschaftet werden mussten. Diese entstehen unter Bezugnahme auf noch ältere Muster, werden aber in der Transformation spezifisch verändert, so dass sie faktisch jedenfalls teilweise neu sind.

2 Einleitung

In der protestantisch motivierten pädagogischen Geschichtsschreibung, mindestens bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts, kam die Kennzeichnung von Luthers Bedeutung für die Pädagogik eher einer Hagiographie als einer kritischen pädagogischen Historiographie gleich. Als Beispiel mag hier die einflussreiche Geschichte der Pädagogik von Karl Schmidt gelten, der am Ludwigsgymnasium in Köthen/Anhalt Oberlehrer war. Die vier Bände seiner Geschichte der Pädagogik gliedern sich wie folgt: Erster Band: Die Geschichte der Pädagogik in der vorchristlichen Zeit (1860), Zweiter Band: Die Geschichte der Pädagogik von Christus bis Luther (1860), Dritter Band: Die Geschichte der Pädagogik von Luther bis Pestalozzi (1861), Vierter Band: Die Geschichte der Pädagogik von Pestalozzi bis zur Gegenwart (1862).
Es kann nicht verwundern, dass mit der Emanzipation der Erziehungswissenschaft von ihren jeweiligen konfessionellen Prägungen3 die Hagiographien der jeweiligen konfessorischen Zentralgestalten zurückgedrängt wurden, ihre Bedeutung für die Pädagogik relativiert oder negiert oder vor allem in Hinblick auf negative Auswirkungen hin untersucht wurde. Das liegt freilich auch daran, dass mit einem weniger voreingenommenen Hinschauen auch die Schattenseiten der Protagonisten deutlicher hervorgetreten sind. Insbesondere bei Luther sind die Schattenseiten vielfach deutlich und so rückt sein Drängen auf Folgsamkeit gegenüber der Obrigkeit in das kritische Blickfeld, oder seine Haltung zu den Juden – insbesondere in den späteren Jahren mit schrecklichen Aussagen und für pädagogische Fragen, insbesondere in Zeiten, in denen wir uns um die Integration von Menschen mit Behinderung bemühen, sind seine Aussagen zu Menschen, die wir heute als behindert bezeichnen würden, schlichtweg inakzeptabel.4 Es soll also im Folgenden nicht darum gehen, die Seiten der „schwarzen Pädagogik“ zu ignorieren oder zu bestreiten.

Der Blick auf Luther bei der Suche nach pädagogischen Klassikern ist gegenwärtig alles andere als selbstverständlich. 1996 hat Friedrich Schweitzer im Jahrbuch für historische Bildungsforschung diagnostiziert, dass der Umfang der Behandlung Luthers und der Reformation in den einschlägigen bildungshistorischen Überblickswerken im 20. Jahrhundert kontinuierlich zurückging (Schweitzer, 1996, S. 9). In Auswahlausgaben von Klassikern der Pädagogik fehle Luther gänzlich.
Diese Zurückhaltung mag insofern verwundern, als sich noch immer das Vorurteil hält, dass der Protestantismus mit der Bildung Hand in Hand gehe, wohingegen das katholische Arbeitermädchen vom Lande noch in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als der Inbegriff der bildungsfernen Schichten angesehen wurde (Dahrendorf, 1965, S. 48). Wenn aber der Protestantismus bildungsnah ist, dann ist es doch naheliegend, an der Wurzel des Protestantismus auch die Wurzel neuzeitlichen Massenbildungsengagements zu vermuten. Gerade dies ist allerdings nicht der Fall. Die Reformation ging einher mit einer Verheerung der althergebrachten Bildungslandschaft. Diese Verheerung hatte mehrere Gründe. Im bereits zitierten Aufsatz argumentiert Friedrich Schweitzer, dass die Unterminierung mittelalterlicher Bildung durch Luther und die Reformation nicht intendiert gewesen sei, sondern eine ungewollte Nebenfolge der Reformation gewesen sei. Diese Interpretation ist aus mindestens zwei Gründen naheliegend: Zum Ersten hatte die Reformation Luthers zur Auflösung der Klöster geführt. Diese Auflösung der Klöster war für die Bildung aber in doppelter Weise fatal. Zum einen waren Klöster Orte mittelalterlicher Elementarbildung nicht nur für die Novizen.5 Mit dem Verlust der Klöster gab es diese Orte des Lernens nicht mehr.
Zum Zweiten entschwand mit ihnen, wie auch mit der Kirchenhierarchie insgesamt, ein zentrales Motiv für die Eltern, ihre Kinder überhaupt zur Schule zu schicken. Denn in der Kirche waren die Kinder versorgt. In der Schrift zur Unterweisung der Visitatoren schreiben die Autoren 1538 im Rückblick:6

„Für dieser zeit ist man umb des bauchs willen zur schule gelauffen [...]“ (Luther, 1538/1909, S. 236). Mehr ins Detail ging Luther in seiner Schrift an die Ratsherren (1524). „Ja weyl der fleyschliche hauffe sihet, das sie yhre söne, töcher und freunde nicht mehr sollen oder mügen ynn klöster und stifft verstossen und aus dem hause und gutt weysen und auff frembde güttter setzen, will niemand meher lassen kinder leren, da mit sie sich erneren.” (Luther, 1524/1899,S. 28)7

Für die Eltern gab es vielerorts in protestantischen Landen demnach weder die Möglichkeit, ihre Kinder zur Schule zu schicken, noch überhaupt eine Motivation, für eine derart bedeutende Investition. Die Ausbildung der Kinder war für die Eltern zumeist kostenpflichtig. Darüber hinaus entgingen ihnen auch die Einnahmen durch die fehlende Arbeitskraft der Kinder für die Zeit, die diese in der Schule zubrachten. Bildung bedeutete deshalb einen doppelten Verlust ohne das Versprechen einer späteren Rendite durch eine Karriere im Klerus oder zumindest ein gesichertes Auskommen im Kloster.
Das Absterben der Bildungsinstitutionen aber ist nicht nur eine fatale Nebenfolge der Reformation, sondern sie ist auch intendiert. Die Umbrüche in der Reformationszeit gingen neben den bedeutenden Reformatoren vielfach auch von den Schwärmern aus, von denen sich die Reformatoren mühevoll abgrenzten. Gerade diejenigen unter ihnen, die den Geist besonders unmittelbar am Wirken sahen, hatten für Bildung nicht viel übrig. Luther setzt sich auch in der Ratsherrenschrift mit diesen bildungsfeindlichen Ansichten, insbesondere am Beispiel des Sprachenlernens, mit den Waldensern auseinander.8
Aber auch Luther selbst hielt das Zugrundegehen der alten Erziehungsinstitutionen nicht für einen Schaden, den er als Nebenfolge hinnahm und bedauerte, sondern er wandte sich sehr gezielt gegen diese Schulen. Luther spart mit drastischen Worten nicht und bezeichnet das ganze Schulwesen seiner Zeit als vom Teufel initiiert.9 Bedenkt man, wie oft und mit welch drastischer Wortwahl Luther diese Ablehnung der alten Erziehung betreibt, so kann man sich als Leser des Eindrucks nicht verwehren, dass hier jemand mit Herzblut einem kaputten Erziehungssystem den Kampf angesagt hat.

„Ja was hat man gelernt ynn hohen Schulen und klöstern bisher, denn nur esel, klötz und block werden? Zwenzig, vierzig jar hat eyner gelernt und hat noch widder lateinisch noch deutsch gewußt. Ich schweyge das schendlich lesterlich leben, darynnen die elde jugent so jemerlich verderbt ist. War ists, ehe ich wollt, das hohe schulen und klöster blieben so, wie sie bis her gewesen sind, das keyn ander weyse zu leren und leben sollt fur die jugent gebraucht werden, wöllt ich ehe, das keyn knabe nymer nichts lernte und stum were.“ (Luther, 1524/1899, S. 31)10

Allerdings ist dies nicht Luthers letztes Wort in der Bildungsfrage. Denn Luther entwickelt eine Alternative. Diese klingt in vielem utopisch und sie ist es, denn sie hat noch keinen Ort in seiner Gegenwart. Luther entwickelt seine pädagogische Utopie kontrafaktisch. Allerdings nicht illusionär, sondern er nimmt sehr gezielt die neu aufscheinenden Möglichkeiten seiner Zeit wahr.

In dieser kontrafaktischen und utopischen Entwicklung der insbesondere Schulpädagogischen Vorstellung Luthers werden viele Argumente vorgebracht, deren Entstehen gemeinhin sehr viel später vermutet wird. Hier wird deutlich, dass gerade die Ablehnung des zerstörten alten Bildungskonzepts nicht nur eine Neugründung von Schulen nötig machte, sondern vor allem auch eine Neubegründung von Schulen.


3 Die utopische Alternative – Luthers Konzept von Schule

Schulische Bildung gehört für Luther 1524 zu den kommunalen Aufgaben.11 Mit dieser Zuschreibung grenzt er sich von drei anderen möglichen Trägern von Bildung und Erziehung ab. Zuvörderst von der alten Schule unter kirchlicher Leitung. Aber auch den Fürsten und Herren traut er die Schulträgerschaft nicht zu, da sie mit anderem beschäftigt sind: „[...] sie haben auffm schlitten zufaren, zu trincken und ynn der mumerey zu lauffen und sind beladen mit hohen merrcklichen geschefften des kellers, der küchen und der kamer” (Luther, 1524/1899, S. 45).12 Zum dritten scheint ihm auch die alleinige häusliche Erziehung nicht mehr ausreichend zu sein.13 Aber die elterliche Erziehung reicht aus mindestens drei Gründen nicht aus. Zum ersten würden die Eltern sich nicht immer ihrer Verantwortung bewusst sein. Für sie habe es sich mit dem in die Welt setzen der Kinder getan. Zum zweiten sind die Eltern selbst oft zu ungeschickt und unwissend, als dass sie ihre Kinder erziehen könnten.14 Zum dritten schließlich, selbst wenn sie die nötigen Kenntnisse hätten, so ließe ihnen doch die Sorge um den täglichen Lebensunterhalt keine Zeit, sich ausführlich mit Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu beschäftigen, und eigene „Zuchtmeister“ können sie sich nicht leisten. Ganz abgesehen von den Waisen, die ja auch der Erziehung bedürfen (ebd.).
Zusätzlich zu den drei genannten Argumenten für die Schule gibt es jedoch noch eines, das besondere Aufmerksamkeit verdient. Luther sieht, dass die Welt zu komplex geworden ist, als dass häuslicher Unterricht allein dieser Komplexität gerecht werden könnte. Was bestenfalls häuslich angehen mag, ist eine rudimentäre Haltungs-Erziehung, die jedoch völlig unzulänglich ist, eben weil es ihr an Unterricht mangelt.

„Und wenn die zucht auffs höhest getrieben wird und wol gerett, so kompts nicht ferner, denn das eyn wenig eyn eyngezwungenen und erbar geberde da ist, sonst bleybens gleychwol eyttel holzböcke, die wider hie von noch da von wissen zu sagen, niemand wider radten noch helffen konnen.“ (ebd.)

Unterricht und Erziehung gehören demnach für Luther zusammen. Nicht nur das Wissen und Können leidet bei einem Ausbleiben des Unterrichts, sondern auch die Erziehung bleibt notwendig äußerlich; sie wird erzwungen. Luther reagiert somit sensibel auf die Entwicklung des Kindes. Während im ersten Stadium der häuslichen Erziehung das Primat zukommt, ist diese später jedoch allein unzureichend.15 Die Schule als Institution ergänzt im späteren Kindesalter die Familie ohne diese jedoch abzulösen.16 Die Komplexität der Welt bedarf der Schule, um in sie angemessen einführen zu können, da die Alternative des ungeschulten, häuslichen in die Welt Hineinwachsens schon aufgrund des großen Zeitaufwandes ganz aussichtslos ist.
Eine so anspruchsvolle Erziehung in einer Schule kommunaler Trägerschaft ist jedoch nur dann zu verwirklichen, wenn die Stadt auch ordentliche „tüchtige meyster und meysterynn“ hält. Als positives Beispiel dienen die Heiden, die Römer, die ihre Jugend gründlich in Sprachen und den „freien Künsten“ ausbildeten, und so zu „allerley tüchtig und geschickt waren“ (Luther, 1524/1899, S. 35). Eben deshalb drängt Luther auf eine angemessene Entlohnung der Schulmeister. Gute Bildung kostet Geld, das verschweigt Luther nicht, aber er stellt den Ratsherren eindringlich vor Augen, dass Bildung eine Investition in die Zukunft des gesamten Gemeinwesens ist, wenigstens so viel oder gar mehr als die anderen kommunalen Aufgaben, für die bereitwillig Geld ausgegeben wird.17 Mit der schlechten Bezahlung hängt auch das geringe Sozialprestige zusammen. Luther setzt seine ganze Person ein, um das Ansehen des Lehrerberufes anzuheben und seine Bedeutung bewusst zu machen.
So argumentiert Luther in der Predigt von 1530, dass er, wenn er das Predigeramt lassen müsste oder könnte, keines lieber haben würde als das des Lehrers, und er erkennt ihm einen ebenso hohen Stellenwert zu wie dem Predigeramt (Luther, 1530/1909, S. 579–580). So konzipiert Luther die neue Schule vor dem Hintergrund der absichtlichen Zerstörung der alten: „Denn es ist mein ernste meynung, bitt und begirde, das dise esel stelle und teuffels schulen entweder ynn abgrund versüncken oder zu Christlichen schulen verwandelt werden“ (Luther, 1524/1899, S. 31). Statt des alten Lernens mit Angst, Jammern, Zittern und Steupen, will Luther das „natürliche“ Interesse, den Erkenntnisdrang und auch den Bewegungsdrang in seiner Vorstellung der Schule positiv aufnehmen. Statt die Kinder in die starren Schulen einzupassen, solle man doch lieber die Schulen und die Darbietung des Unterrichtsstoffs an kindliche Bedürfnisse anschlussfähig gestalten.18 Diese neue Art der Schule kann sich Luther für die Breite des gesamten Bildungskanons vorstellen.
Luther argumentiert gegen die Mehrheitsmeinung, dass zum gesellschaftlichen Fortkommen institutionalisierte Erziehung nicht vonnöten sei. Auch ohne das Seelenheil in Betracht zu ziehen, gibt es für ihn ein starkes, rein innerweltliches, Interesse an institutionalisierter Bildung. Allerdings nicht aus dem kurzfristigen Zweck einer egoistischen Selbstversorgung, sondern Bildung ist nötig zugunsten des Allgemeinwohls.19 Hinzu kommen theologische Argumente für die schulische Bildung. Zum einen sollte die Bildung früh einsetzen, denn das Ziel eines allgemeinen Priestertums machte es unerlässlich, dass jeder und jede lesen und schreiben können sollte. Luther forderte auch deshalb eine allgemeine Bildung von Jungen und Mädchen. Zum anderen legte Luther schon früh Wert auf eine Ausbildung der Pastoren, um den Wirren des reformatorischen Überschwanges Einhalt zu gebieten. Alle evangelischen Pastoren sollten ein Studium absolvieren und sich in Wittenberg prüfen lassen.20
Besonders intensiv widmet sich Luther in seiner Schrift an die Ratsherren der Elementarbildung der Kinder. „Ach lieber so leret uns doch eyne ander weyse, die Gott gefellig und unsern kindern seliglich sey, Denn wyr wöllten jha gerne unsern lieben kindern nicht alleyn den bauch, sondern auch die seel versorgen.“ (Luther, 1524/1899, S. 29) Die Rede von „Gottgefälligkeit und Seligkeit“ bedeutet keineswegs, dass Luther die heidnischen Autoren aus der Schule verbannen möchte und allein auf die Bibel setzte. Das Gegenteil ist der Fall. Sieht man sich den Textkanon an, der in der Schrift an die Visitatoren empfohlen wird, so zeigt sich, dass die Bibel anfangs gar nicht auftaucht, sondern klassische Autoren wie Äsop, Terenz, Plautus etc., desgleichen Lehrbücher von Erasmus und die Pädologie des Mosellanus. Die Stellung zur Bibel als Unterrichtsbuch bringt die Schrift, deren Verfasserkreis bei den Reformatoren des Augsburgischen Bekenntnisses zu suchen ist, deutlich zum Ausdruck: „Denn etliche lernen gar nichts aus der heiligen schrift. Etliche lernen die kinder gar nichts denn die heilige schrift, Welche beide nicht zu leiden sind.“ (Luther, 1538/1909, S. 238)21

Die Bildungsinhalte wachsen von Haufen zu Haufen. Geht es beim ersten Haufen nur um eine Grundbildung, die allen zukommt, die Lesen und Schreiben und Grundkenntnisse in Latein aber auch Musik beinhaltet, beschäftigt sich der zweite Haufen mit den Fabeldichtern des Altertums, modernen Lehrbüchern z.B. von Erasmus, aber auch ausgewählten Teilen der Bibel und dem Glaubensbekenntnis und Katechismus. Ein Schwerpunkt der Ausbildung liegt auf der Beherrschung der Grammatik. Der dritte Haufen schließlich beschäftigt sich mit anspruchsvollen antiken Autoren wie Virgil, Ovid, Cicero. Für ihn nimmt Luther eine Praxis der Philanthropen vorweg, das Erlernen der Sprache durch die ständige Benutzung im Unterricht zu beflügeln.22 Dialektik und Rhetorik kommen als Unterrichtsfächer hinzu (Luther, 1538/1909, S. 237ff.).
Wie gezeigt, war für Luther die Welt so komplex geworden, dass die eigene häusliche Erfahrung nicht mehr ausreichte, um der Welt noch gewachsen zu sein. So blieb für Luther nur noch eine spezifische Art der Unterrichtung übrig, die er als eine beschreibt, die wie „ynn eym spigel“ wirken müsse. In diesem Spiegel sollten ausgewählte Gegenstände dargestellt werden, damit die Kinder, daraus „yhren synn schicken und sich ynn der welt laufft richten künden mit Gotts furcht“ (Luther, 1524/1899, S. 45, Hervorhebung, H.S.). Diese künstliche Darstellung einer Welt, die zu komplex ist, um sie in einem einzigen Menschenleben durch eigene Erfahrung selbst zu begreifen, soll nicht dazu dienen, die Interpretationen dieser Darstellung gleich mit zu liefern. Der Sinn des Weltverlaufes, der aus der komplexen Welt nicht zu entnehmen ist, ist auch nicht aus ihrer künstlichen Darstellung einfach zu entnehmen, sondern dieser Sinn ist von den Schülerinnen und Schülern selbst zu rekonstruieren.23 Durch solche Unterrichtung kommt es demnach nicht nur zu einem Wissen um die Dinge, sondern der Unterricht hat auch insofern eine bildende Funktion, als er die Sinngebung durch die Schülerinnen und Schüler selbst anregt. Die hier formulierte „Bildungstheorie“ überlässt es den Schülerinnen und Schülern aus der im Spiegel dargebotenen Welt sich die, für sie entscheidenden Bestandteile, so zusammenzusetzen, dass sie „yhren synn“ daraus gewinnen. Erinnert sei an Herbarts Abhandlung „Über die ästhetische Darstellung der Welt“ der 280 Jahre später ein vergleichbarer Kerngedanke zugrunde liegt (Herbart, 1804/1982).
Weiterhin erscheint es bemerkenswert, dass Luther Schulen nicht nur für Knaben, sondern auch für Mädchen forderte.24 Mädchen und Jungen sind demnach beide bildungsfähig (Luther, 1520/1888, S. 461; Luther, 1524/1899, S. 44 u.ö.).25 Diese Öffnung der institutionalisierten Bildung gilt nicht nur für beide Geschlechter, sondern sie überschreitet auch die Standesschranken.26 Schulbildung soll demnach allen zukommen, nicht nur den gesellschaftlichen Ständen, die sich bislang den Müßiggang leisten konnten, sondern sogar Waisen und verwahrlosten Kindern, für deren Bildung die Stadt die Verantwortung übernehmen muss (Luther, 1524/1899, S. 34–35). Andererseits sieht Luther die Verwirklichung dieser Forderung nicht als einen Aufruf zur Entlastung der Kinder von der Arbeit im ganzen Haus, die zur Lebenserhaltung des Haushaltes fest mit eingeplant ist. Die Forderung nach allgemeiner Schulbildung ist keine, die gesellschaftliche Strukturen der Gesellschaftsordnung des 16. Jahrhunderts notwendig sprengen würde.27
Es findet sich ein weiteres über die reale Situation hinausgehendes Kriterium zur unterschiedlichen Behandlung einzelner. Nicht mehr die Standesschranken sind es, die eine je spezielle Ausbildung notwendig machen, sondern es sind die Leistungen der Einzelnen.28 Bildung wird in dieser Argumentation Luthers nicht mehr als Standesprivileg thematisiert. Der Übergang zwischen den einzelnen Haufen der allgemeinen Schule soll einzig durch das Kriterium der Leistung bestimmt werden.29 Und selbst für die höhere Bildung ist Leistung das einzige Zugangskriterium, das Luther nennt.30
Das bürgerliche Prinzip der Leistung löst das vorneuzeitliche des an den Stand gebundenen Zugangs zu höherer Bildung (bezogen auf Luthers Argumentation) ab.31 In der Folge der PISA-Untersuchungen wurde deutlich, dass wir de facto über die ideengeschichtliche Aneignung dieses Prinzips in den deutschsprachigen Ländern noch nicht hinaus gekommen sind, weil die Schulabschlüsse im deutschsprachigen Raum wie kaum sonst wo von der sozioökonomischen Herkunft abhängen (Maaz, Baumert & Cortina, 2008).
Für Luthers Engagement zur Etablierung einer allgemeinen Bildung gibt es verschiedene Gründe. Den größten Raum nimmt die notwendige Ausbildung zum geistlichen Stand ein (vgl. z.B. Luther, 1524/1899, S. 35ff.). Er plädiert ausdrücklich für ein Erlernen sowohl des Griechischen als auch des Hebräischen, denn nur so könnte man sich wahrhaft mit dem Text, dem Wort Gottes, auseinandersetzen und auch in Disputen bestehen. Die sprachliche Bildung schützt die Geistlichen vor der Gefahr der Anpassung des Wortes Gottes an das eigene Gutdünken. Hilft aber auch z.B. im Disput mit den Juden besser zu bestehen.32
Bildung bedeutet für Luther jedoch nicht nur Befähigung für den geistlichen Bereich, sei es als Laie oder Hauptamtlicher, sondern Bildung und Erziehung ist auch für das Zurechtfinden in der Gesellschaft unerlässlich. Von besonderem Interesse ist dabei der politische Bereich. Wiederum stellt Luther die Griechen und Römer als unerreichte Vorbilder dar, da sie ihre Jugend so hervorragend ausbildeten, dass sie „feyne geschickte leutt“ bekamen. Und das, obgleich sie doch noch gar nicht wussten, dass sie damit Gott wohlgefällig waren (Luther, 1524/1899, S. 44). Die Regierenden müssen gebildet sein, nicht nur die Geistlichen. Gleich ob sie nun „Fürst, Herr, Ratman“ oder sonst eine Obrigkeit sind. Für eine vernünftige Regierung bürgt eben nur eine gebildete Regierung! Diese Forderung ergibt sich für Luther aus der Eigenlogik der Welt, und es bedarf dazu keines ausdrücklichen göttlichen Gebotes (ebd.). Das kommt freilich dennoch hinzu.
Ein Argument für die schulische Bildung scheint mir jedoch bemerkenswerter als alle vorangegangenen zu sein, obschon es nicht viel Raum in seiner Argumentation einnimmt.33 Luther formuliert vorsichtig, aber dennoch scheint in diesem fast zaghaften Satz etwas auf, was einer genaueren Analyse wert ist: „Ich rede fur mich: Wenn ich kinder hette und vermöchts, Sie müsten mir nicht alleyne die sprachen und historien hören, sondern auch singen und die musica mit der gantzen mathematica lernen. Denn was ist dis alles denn eyttel kinder spiel? darynnen die Kriechen yhre kinder vor zeytten zogen, da durch doch wunder geschickte leut aus worden zu allerley hernach tüchtig.“ (Luther, 1524/1899, S. 46) An dieser Stelle scheint der Horizont moderner pädagogischer Fragestellung zweifellos auf. Die Griechen sind auf Grund ihrer universalen Bildung Vorbild. Diese universale Bildung befähigt nicht zu irgendeinem bestimmten Beruf im Sinne einer Aus-Bildung, sondern Bildung wird hier als etwas Allgemeines verstanden, indem sie zu „allerley“ tüchtig macht. Wozu im Einzelnen die Kinder tüchtig gemacht werden müssen, konnte man in der Ständegesellschaft noch wissen, in neuzeitlichen Gesellschaften gibt die Standesherkunft der Eltern keine verbindliche Auskunft über die Bildungsaspirationen und Anforderungen der nächsten Generation mehr. In neuzeitlichen Gesellschaften muss es Pädagogik deshalb darum gehen, die Heranwachsenden mit einem so offenen Wissen auszustatten, dass durch dieses Wissen nicht mehr ihr gesellschaftlicher Stand prädeterminiert ist, oder umgekehrt der gesellschaftliche Stand der Eltern den zu erwerbenden Wissenskanon der Heranwachsenden determiniert, was wiederum die gesellschaftliche Ordnung zementiert. Luthers Ideal ist eine schulische Bildung, die so umfassend ist, dass die Heranwachsenden prinzipiell zu „allerley tüchtig“ seien.34
Die Entscheidung, auf welche Tätigkeit sie sich dann verlegen, kann weder von dem Stand der Eltern noch vom Bildungssystem übernommen werden, sondern ist nun eine Entscheidung, die in der Hand der Heranwachsenden selbst liegt.


4 Zusammenfassung

Die These von der doppelten Zerstörung alter Erziehungsinstitutionen durch die Reformation stand am Beginn der hier vorgestellten Überlegung. Zum einen unabsichtlich als Nebenfolge der Reformation (Verlust der Orte und Motive von schulischer Lehre). Zum anderen der bewusste Angriff auf die alten Erziehungsinstitutionen durch Luther selbst und den schwärmerischen Flügel, dessen Vertreter sich auf die Unmittelbarkeit des Geistes beriefen. Gegen letztere argumentiert Luther an, indem er die Bedeutung von Wissen herausstreicht.
Luther plädiert demnach für Wissen und institutionalisierte Wissensvermittlung und Erziehung, im Angesicht der dramatischen Abwesenheit dieser Institutionen. Es wurde rekonstruiert, dass seine kontrafaktische und utopische Argumentation für die Schule und den Schulbesuch weder die alten Argumente für Schule wiederholen kann noch will, weil die alten Argumente obsolet geworden sind und weil sie für ihn geradezu teuflisch sind. Der unmittelbare Gewinn weder des ins Kloster-schickens, noch des zur Schule-schickens waren nicht mehr gegeben.
In dieser Situation muss Luther geradezu Argumente für die Schule neu erfinden und erfindet in diesem Argumentationsgang auch die Schule neu. Das Muster, in dem Luther diese kontrafaktische, utopische Neuerfindung anpreist, ist allerdings nicht das „Pathos des Neuen“ (Arendt, 1994, S. 257). Denn dass das Neue als etwas Gutes und Verheißungsvolles begriffen wurde, ist eine damals keineswegs gängige Auffassung, die bestenfalls im 18. Jahrhundert als Breitenphänomen auftaucht. Bis dahin ist Neues oft suspekt. Das Neue bedeutet die Entfernung vom guten Alten. Selbst der Wahlspruch der Humanisten war nicht, Neues zu bringen, sondern zu den Quellen zurückzugehen. Und so folgt Luther auch in der Neuerfindung des Erziehungswesens dem Muster seiner Zeit. Das Neue wird nicht als Neues eingeführt, sondern es wird verstanden als die Wiederaufrichtung des Alten, das verschüttet wurde, durch Mutwillen oder den Lauf der Geschichte. Die Re-formation hat dieses „Zurück-zu-den-wahren-kirchlichen-Verhältnissen“ noch im Namen. Auch in pädagogischen Fragen behauptet Luther deshalb zurückzugehen zum Alten. Er bringt Beispiele aus der Antike und der Bibel, um dieses Zurück zu einer christlichen Erziehung zu illustrieren. Deshalb liegt es nahe zu übersehen, dass hier Neues formuliert wird, weil es nicht mit dem Pathos des Neuen vorgetragen wird, sondern mit dem Anspruch dessen, der das Alte zurechtbringt. Der Teufel hat die alte christliche Erziehung verfälscht, nun muss sie wieder ins Lot gebracht werden.
Zwar gab es in der Antike öffentliche Bildungsinstitutionen, aber doch längst nicht für alle, wie Luther aus theologischen, aus politischen und pädagogischen Gründen fordert. Mädchen z.B. waren weithin von öffentlicher Bildung ausgeschlossen. Das ist für Luther inakzeptabel.
Neu sind auch die Begründungsformen. Konnte bislang mit der Wohlversorgtheit durch die Gabe ins Kloster argumentiert werden, wobei die Bildung einiger eher ein Abfallprodukt der Überlebensbestrebungen war, so führt Luther ein Argumentationsmuster für Bildung ein, das die Unbestimmtheit des Menschen zur Grundlage hat. Gerade weil wir nicht mehr wissen, was aus dem Einzelnen wird – was er oder sie aus sich macht – deshalb ist Bildung wichtig, damit man zu „allerley tüchtig ist“!35
Darin deutet sich ein Begriff der Kindheit an, wie er gewöhnlich erst mit Rousseau (1762/1995) gebraucht wird, und der sich darin auszeichnet, dass die Erwachsenen nicht um die Bestimmung der Kinder wissen.36 Durch Luthers neues Konzept von Erziehung wird damit nicht mehr die Bestimmung des Menschen vorweggenommen, sondern Erziehung ist so zu gestalten, dass sie die Selbstbestimmung des Menschen (zumindest partiell) ermöglicht. Luther beantwortet so die zentrale pädagogische Frage, der Schleiermacher klassisch Ausdruck verleihen wird: „Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?“ (Schleiermacher, 1826/1959, S. 38) Luthers Antwort – die zweifelsohne schon moderne Züge trägt – lautete dann: ‚Wir wissen, dass die Bildung für die jüngere Generation gut ist, wenn wir auch nicht mehr wissen, wozu sie jede und jeder Einzelne künftig gebrauchen wird‘.
Ebenso beachtenswert ist Luthers Argumentation in Bezug auf die eigene Erfahrung.37 Luther schätzt die eigene Erfahrung durchaus. Sein zentrales Argument gegen ein Lernen bloß aus der eigenen Erfahrung ist jedoch die Endlichkeit des Menschen. Denn lernen aus der eigenen Erfahrung kostet viel Zeit. Zugleich aber argumentiert er gegen ein feststellendes Erziehungswesen an, das die Erfahrungen zubereitet und jedem seinen Teil Erfahrung zumisst. Aus dieser Ablehnung beider Varianten des Lehrens entwickelt er ein Konzept, das die Aufgabe der Schule so beschreibt, die Bildungsgegenstände so auszuwählen und zu komprimieren und darzustellen, dass die Schüler an diesen pädagogisch ausgewählten komprimierten Bildungsgegenständen wiederum eigene Erfahrungen machen können. Die eigene Interpretation und Bewertung der Schülerinnen und Schüler wird so weder vorweggenommen noch ausgeschaltet, sondern geradezu befördert. So kann die Erziehung ihrer Aufgabe des Hineinnehmens in die gegebene Kultur ebenso gerecht werden, wie dem Bewahren des jeweils neuen und eigenen Weltzugangs der Kinder – um die Aufgabenbeschreibung der Pädagogik nach Hannah Arendt zu paraphrasieren.
Zugleich gibt es bei Luther aber auch immer noch die alten Argumentationsformen, die Anhaltspunkte dafür liefern, dass Luthers Verständnis von Volksschule nicht mit dem modernen übereinstimme. Zu beachten ist hier, dass Luther den Eltern die Ängste nehmen muss, dass die Kinder nicht mehr in der heimischen Wirtschaft mithelfen können.
Wie jeder Mensch des Übergangs stehen bei ihm die alten Argumente, parallel neben den neuen. Wie Rousseau stereotyp von der Mädchenerziehung handelt, wie sehr Pestalozzi die Schule ablehnt und für häusliche Erziehung plädiert, so fällt auch Luther zuweilen hinter die von ihm selbst formulierten pädagogischen Maßstäbe zurück.
Bemerkenswert ist, dass Luther es nie bei abstrakten Forderungen belässt, sondern die materialen Voraussetzungen einer allgemeinen Bildung mit benennt und einfordert. Was Luther als Konzept entwirft, ist jedoch revolutionär neu. Er beschreibt eine Utopie und setzt auch alle Hebel ins Werk, diese herzustellen.
Systematisierend lässt sich konstatieren: Der erfahrende Mangel (an Bildungsmöglichkeiten und Bildungsmotivation) provoziert bildungstheoretische Neueinsätze, z.B. in der Konstruktion von Legitimationsverfahren für Bildungsnotwendigkeiten. Empirisch sind diese aber nur kaum realisiert. Immerhin kann man in Gernrode im Harz nicht nur ein romanisches Damenstift bewundern, sondern die Äbtissinnen des Stifts hingen der Reformation an. Elisabeth von Weida gründete bereits 1521 Schulen und 1533 gründete ihre Nachfolgerin, Anna von Kittlitz, eine Dorfschule, die sich merklich an der Ratsherrenschrift orientierte. Insofern lassen sich zumindest sporadisch Spuren von praktischen Wirkungen der Elementarbildungsbemühungen Luthers nachweisen.

 

1 Der Beitrag fußt auf Überlegungen zur pädagogischen Bedeutung Luthers, die erstmals im Jahr 2000 diskutiert wurden, und übernimmt Teile dieses Beitrags (vgl. Schluß, 2000; weiterentwickelt in Schluß, 2010 und Schluß, 2014). Die Perspektive der hier vorgetragenen Fragestellung ist jedoch eine deutlich andere und wurde verengt und erweitert zugleich. Die Überlegungen zum Freiheitsgedanken mussten ebenso entfallen wie die zum Bildungs- und Erziehungskonzept. Dafür korrigiere ich mich, was die Einschätzung von Luthers Haltung zu den überkommenen Schulen angeht. Hier musste die Position deutlich verschärft werden.

2 In der Aufnahme einer literaturtheoretischen Unterscheidung geht es in dem Beitrag nicht so sehr um den „konkreten Autor“ Martin Luther als um den „abstrakten Autor“ – also den Autor, wie er im Text selbst enthalten ist (vgl. Schmid, 1986).

3 Auch wenn nachgewiesen werden kann, dass diese Emanzipation keineswegs vollständig erfolgt ist (Tröhler, 2012).

4 In zwei Tischreden äußert sich Luther zu sogenannten Wechselbälgern und Kielkröpfen – die wir wohl heute als behindert bezeichnen würden. Insbesondere die Tischrede 5207 ist hier in den Blick zu nehmen (Luther, 1540/1919, S. 8), in der Luther davon berichtet, wie ihn der anhaltische Fürst fragt, was mit einem Wechselbalg zu tun sei, das jüngst in Dessau zum Stadtgespräch wurde. Luthers Ratschlag, das Kind in der Mulde zu ertränken, wurde von den anwesenden Fürsten, u.a. vom sächsischen Kurfürsten abgelehnt, woraufhin Luther dafür plädierte, für das Kind in der örtlichen Kirche ein Vater Unser beten zu lassen. Vgl. zu diesem ganzen Komplex und zur Darstellung und kritischen Auswertung der insbesondere in der Heilpädagogik immer wieder zitierten Belege die Dissertation von Nils Petersen (Petersen, 2003, S. 58–64). Aufschlussreich ist hierbei zumindest auch, dass Luthers radikaler Vorschlag, der in dem Kind ein vom Teufel ausgewechseltes Kind erblickte, eben nicht aufgenommen wurde.

5 Zur klösterlichen Elementarbildung vgl. Kruppa & Wilke, 2006.

6 Die Autorschaft ist nicht letztlich geklärt. Es stimmt in ihren Intentionen mit Luther und Melanchthon überein.

7 Auch in der sechs Jahre später erschienenen „Predigt, daß man die Kinder zur Schule halten solle“, hatte sich die Situation anscheinend noch nicht gebessert: „Lieben freunde, weil ich sehe, das sich der gemeine man frembd stellet gegen die Schulen zu erhalten und ihre kinder gantz und gar von der lare zihen und allein auff die narunge und bauchs sorge sich geben, [...]“ (Luther, 1530/1909, S. 526).

8 „Etliche auch wie die Brüder Waldenses die Sprachen nicht nützlich achten.“ (Luther, 1524, S. 42)

9 „Darumb hat er [der Teufel] fast weyslich than zu der zeyt, da die Christen yhre kinder Christlich auffzogen und leren liessen. Es wollt yhm der junge hauffe zu gar entlauffen und ynn seinem reich eyn unleidliches auffrichten. Da fur er zu und breyttet seyne netze aus, richte solche klöster, schulen und stende an, das es nicht müglich war, das yhm eyn knabe het sollen entlauffen on sonderlich Gottis wunder.“ (Luther, 1524/1899, S. 29)

10 Freilich ist kritisch damit zu rechnen, dass es sich hier um eine nachträgliche Rationalisierung eines erfahrenen Verlusts handelt. Ein Effekt, der den erlittenen Verlust nachträglich zu einem Geschenk umdeutet. Das dafür stehende Argument, dass es sich hier nicht um eine nachträgliche Rationalisierung eines eigentlich bedauerten Verlusts handelt, scheint mir zu sein, dass Luther hier seine eigene Schulerfahrung beschreibt und verallgemeinert: „Und ist itzt nicht mehr die helle und das fegfewer unser schulen, da wir ynnen gemartert sind uber den Casualibus und temporalisbus, da wir doch nichts denn eyttel nichts gelernt haben durch so viel steupen, zittern, angst und jamer“ (Luther, 1524/1899, S. 46). „Steupen“, „Zittern“, „Angst“ und „Jammer“ sind die Begriffe die Luther beim Zurückdenken an die alten Schulen einfallen. Sie sind ihm die Hölle und das Fegefeuer.

11 Das gilt jedoch nicht für eine basale Erziehung, für die weiter die Familie zuständig bleibt (Luther, 1519/1884, besonders der 3. Teil: S. 170–171). Es gilt auch nicht für die höheren Schulen und Universitäten, deren Reform er den Fürsten ans Herz legt (Luther, 1520/1888, bes. S. 459ff.).

12 Und die, die guten Willens sind, müssen sich enthalten, um nicht den anderen als „narren odder ketzer” zu gelten.

13 Das bedeutet jedoch nicht, dass Luther nicht um die Wichtigkeit der häuslichen Erziehung wusste. Im 3. Teil des „Sermons von dem ehelichen Stand“ handelt Luther von der Kindererziehung, der ihm zufolge das größte Gewicht zukommt. Sie soll sorgfältig geschehen. Wenn die Eltern nicht in der Lage sind, die eigenen Kinder zu erziehen, sollen sie es Leuten überlassen, die es verstehen. Der eheliche Stand ist nur dann ein gelungener, wenn auch die Kindererziehung gelungen ist. Wird sie vernachlässigt, ist der gesamte Ehestand verfehlt (Luther, 1519/1884, S. 170–171).

14 Vgl. dazu Luther: „der gemeyn man thut hie nichts zu, kans auch nicht, wills auch nicht, weys auch nicht“ (Luther, 1524/1899, S. 44).

15 „Die zucht aber, die man daheyme on solche schulen fur nimpt, die will uns weyse machen durch eygen erfarung. Ehe das geschicht, so sind wyr hundert mal tod und haben unser lebenlang alles unbedechtig gehandelt, denn zu eygener erfarung gehört viel zeyt.“ (Luther, 1524/1899, S. 45)

16 Die Abfolge der Erziehungsinstitutionen wird in den meisten Arbeiten chronologisch mit der Entwicklung Luthers erklärt. Diese Untersuchungen berufen sich auf die maßgebende Monographie von Werner Reininghaus (1969). Unter Berufung auf die „Ordnung eines gemeinen Kastens“ in der sich Luther 1523 für ein gemischtverantwortetes Schulprojekt in Leisnigen aussprach, das aber aus mehreren Gründen scheiterte, wird abgeleitet, dass erstens diese Schulorganisation elterndominiert war und sich zweitens in dieser Organisationsform Luthers eigentliche Präferenz ausdrücke. Alle anderen von ihm später vorgeschlagenen Lösungen seien nur Notlösungen. So auch die Schrift an die Ratsherren vom folgenden Jahr. Eigentlich sei die Schule für Luther nur die „Hilfsanstalt der Eltern“ (so z.B. Retter, 1996, S. 50 unter Berufung auf Reininghaus). Eine solche Interpretation übersieht jedoch zweierlei. Zum einen waren auch in Leisnigen die Eltern nicht die alleinigen Träger der Schule. Eleonore Kamp-Franke stimmt Reininghaus insofern zu, als sie die Motivation der Adressierung des Schreibens von 1524 in dem Scheitern der gemischten Verantwortung von „2 Adeligen, 2 Ratsherren, 3 städtischen Bürgern und 3 Bauern“für die Schule sieht (Kamp-Franke, 1994, S. 253). Der zweite Einwand ist jedoch bedeutender. Selbst wenn Luthers Präferenz ursprünglich einem gemischtverantworteten Schulmodell mit starker Elternbeteiligung gegolten hätte, so gibt es kein Anzeichen dafür, dass die „eigentliche“ Position Luthers in dem früheren Text zu suchen ist. Viel mehr argumentiert er in der Schrift von 1524 erheblich differenzierter und mit systematisch stärkeren Argumenten für die öffentliche, kommunale Schule. In diesem Sinne auch Mahrenholz (1997, S. 35). Insofern lässt sich hier eine Veränderung der Position Luthers zur Trägerschaftsfrage beschreiben.

17 „Lieben herrn, mus man jerlich so viel wenden an büchsen, wege, stege, demme und der gleichen unzelichen stucke mehr, da mit eyne stad zeyttlich fride und gemach habe, Warumb sollt man nicht viel mehr doch auch so viel wenden an die dürfftige arme jugent, das man eynen geschickten man oder zween hielte zu schulmeystern?“ (Luther, 1524/1899, S. 30)

18 „Weyl denn das junge volck mus lecken und springen odder yhe was zu schaffen haben, da es lust ynnen hat, und yhm darynn nicht zu weren ist, auch nicht gut were, das mans alles weret: Darumb sollt man denn yhm nicht solche schulen zurichten und solche kunst furlegen? Syntemal es itzt von Gottis gnaden alles also zugerichtet ist, das die kinder mit lust und spiel leren kunden, es seyen sprachen odder ander künst oder historien.” (Luther, 1524/1899, S. 46)

19 „Wenn nu gleich (wie ich gesagt habe) keyn seele were und man der Schulen und Sprachen gar nichts dürffte umb der Schrifft und Gottis willen, So were doch alleyn dise ursach gnugsam, die aller besten schulen beyde fur knaben und meydlin an allen ortten auff zu richten, das die wellt, auch yhren welltlichen stand eusserlich zu halten, doch bedarff seiner geschickter menner und frawen.“ (Luther, 1524/1899, S.44)

20 Wie oben an der Auseinandersetzung mit den Waldensern gezeigt, waren sich darin keineswegs alle Reformatoren einig, wie der Disput mit den Böhmischen Brüdern zeigt. Die standen der Höheren Bildung und sogar dem Gebrauch der lateinischen Sprache sehr skeptisch gegenüber, weil von ihr die Gefahr einer Infizierung mit dem katholischen Geist ausginge. Vgl. die knappe Darstellung zum „Bildungsstreit“ zwischen Martin Luther und dem böhmischen Bruder Lucas im Jahre 1523 bei Rydl, 1996.

21 Anders sieht dies Dieter Fauth, der behauptet: „Auch im allgemeinen Schulwesen wollte Luther die Bibel im Zentrum wissen. Jeder Christ sollte mit neun oder zehn Lebensjahren das Evangelium auswendig wissen.“ (Fauth, 1994, S. 487) Luther äußert dies in der Schrift an den Adel, jedoch mit dem Nachsatz, dass dies heute nicht einmal die Prälaten könnten.

22 Zur großen Bedeutung, die Luther dem Sprachunterricht beimisst, siehe das zweite Kapitel von Mahrenholz, 1997, S. 41–67.

23 Luther ist freilich kein Konstruktivist, sondern geht davon aus, dass der Sinn der Welt von Gott gegeben ist (Pesch, 1985). Auch wenn sich das „yhren“ auf die dargestellten Gegenstände bezieht, die durch die Darstellung den ihnen immanenten Sinn offenbaren und nicht auf die Kinder, so geht es dennoch um eine Sinnrekonstruktion der Schülerinnen und Schüler, die durch eine künstliche Darstellung lediglich angeregt wird.

24 Bereits 1520 fordert Luther eigene Mädchenschulen: „Und wollte Gott, eine jegliche Stadt hätte auch eine Mädchenschule, darinnen das Tages die Mägdlein eine Stunde das Evangelium hörten, es sei zu deutsch oder lateinisch.“ (Luther, 1520/1888, S. 461) Siegrid Westphal weist nach, dass dies der erste verbürgte Beleg der Forderung nach einer eigenen Mädchenschule ist und Luther hier weiterginge selbst als die Humanisten (Westphal, 1996, S. 138–139). In der Folge werden nicht nur Frauen unterrichtet, sondern sie unterrichten selbst, werden Schulleiterinnen und Hofmeisterinnen (Westphal, 1996, S. 147–148).

25 „Luthers allgemeine Grundsätze einer christlichen Erziehung kennen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede.” (Westphal, 1996, S. 136)

26 An dieser Stelle ist eine gegensätzliche Argumentationslinie zu beachten. Luther selbst stellt sich rhetorisch die Frage eines möglichen Kontrahenten, um so seine Vorstellungen entgegnen zu können: „So sprichstu ‚Ja, wer kan seyner kinder so emperen und alle zu junckern ziehen?’“ Die Antwort Luthers besteht in der Schulorganisation. Sie soll so gestaltet sein, dass die Zeit der Kinder in der Schule begrenzt ist und so den Eltern noch genügend Zeit bleibt, die Kinder im Haushalt mithelfen zu lassen oder sie ein Handwerk zu lehren. „Meyn meynung ist, das man die knaben des tags eyn stund odder zwo lasse zu solcher schule gehen und nichts deste weniger die ander zeyt ym hausse schaffen, handwerck lernen und wo zu man sie haben will.“ (Luther, 1524/1899, S. 46–47) Die konträre bildungstheoretische Position, die hier nun wieder die Eltern als diejenigen benennt, die der Bildung der Kinder ihr Ziel geben, steht in deutlichem Gegensatz zum Anspruch der Selbstbildung, der weiter oben herausgearbeitet wurde. Dieser Widerspruch beider Positionen in diesem Text wird am ehesten verständlich in Rücksicht auf die Adressaten, die als Ratsherren eben auch Eltern sind und die nicht befürchten sollen, ihren gewohnten Anspruch auf die Kinder aufgeben zu müssen.

27 Allerdings auch noch nicht die der Pädagogischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, wie Hanno Schmitt an der Untersuchung des von Rochowschen Schulexperiments in Reckhan herausarbeitet (Schmitt, 2003).

28 „Solche tüchtige knaben solt man zur lere halten, sonderlich der armen leute kinder“ fordert er in der „Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle“ (Luther, 1530/1909, S. 545). Aber auch die weniger Begabten sollen Schulbildung erhalten. Schulbildung ist in Luthers Argumentation nicht etwas, das vom Privileg der oberen Stände nun zum Privileg der Leistungsstarken wird, sondern eher denkt er im Sinne einer „kompensatorischen Bildung“ an eine besondere Bevorzugung der ansonst in der Gesellschaft besonders Benachteiligten, um so die Chancengleichheit zu befördern. „Wie wol daneben dennoch auch die anderen knaben, ob sie nicht so wol geschickt weren, auch sollten lernen, zum wenigsten latein verstehen, schreiben und lesen.“ (vgl. Schluß, 2016)

29 „Wilche aber der ausbund dar unter were, der man sich verhofft, das geschickte leut sollen werden zu lerer und lereryn, zu prediger und andern geystlichen emptern, die soll man deste mehr und lengerda bey lassen odder gantz daselbs zu verordenen.“ (Luther, 1524/1899, S. 47)

30 So auch schon in der Schrift an den christlichen Adel (Luther, 1520/1888, S. 461). Vgl. auch Goebel, 1985, S. 7–26, bes. S. 9.

31 Anders interpretiert Tenorth die Schrift an die Ratherren. Er meint, Luther schwanke in seiner „Zielsetzung unentschieden zwischen den Erwartungen der Kirche und den Notwendigkeiten einer Qualifizierung für den Stand“ und könne weder „eine allgemeine Laienbildung im weltlichen Geist denken noch eine Elementarbildung ohne berufsvorbereitende Funktion“ (Tenorth, 1988, S. 67). Alternativ lässt sich interpretieren; die Schrift ziele – im Rahmen der ökonomischen und religiösen Situation des 16. Jahrhunderts – auf beides ab. So schreibt Kamp-Franke, zunächst von der Leisinger Kastenordnung ausgehend: „Denn nunmehr, dies wird in den noch folgenden Schulschriften Luthers deutlicher, geht es vorwiegend nicht mehr um die schulmäßige Aneignung von für den jeweiligen Beruf konkret verwertbaren Qualifikationen – abgesehen von den Ämtern im geistliche und weltlichen Regiment –, sondern in hohem Maße um die Aneignung einer als adäquat definierten, unverzichtbaren Haltung gegenüber Arbeit und Leben(sbedingungen) und zwar ausnahmslos für alle.“ (Kamp-Franke, 1994, S. 252).

32 „[…] wo man mit den Juden aus unserem Psalter handelt, spotten sie unser, das es nicht also stünde ym Ebreischen […].“ (Luther, 1524/1899, S. 40)

33 Friedrich Schweitzer führt als einen anderen besonderen Gedanken an, dass Luther den Eigenwert von Bildung betone (Schweitzer, 1996, S. 12). Bildung muss für nichts Anderes gut sein als für Bildung. Luther äußert diesen Gedanken an verschiedenen Orten, aber dennoch sehr zurückhaltend.

34 Mögliche Einwände, die den Umfang eines solchen Bildungskanons kritisieren (der ja tatsächlich viel größer sein muss als der einer standes- und berufsspezifischen Ausbildung), versucht Luther mit dem Hinweis zu zerstreuen, dass dieses vermeintliche „Joch“ einem Kinderspiel gleichkommt, eben weil er die Bildsamkeit für alle behauptet und weil die sich in den von ihm vorgeschlagenen Schulen nach den jeweiligen Fähigkeiten entwickeln kann. In späteren Textversionen taucht dann dies „Joch“ auch tatsächlich auf: „Denn was ist dies Joch ein eitel Kinderspiel, zu welchem die Griechen vor Zeiten ihre Kinder erzogen.“ (Luther, 1524/1983, S. 82)

 

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Univ.-Prof. Dr. Henning Schluß, Institut für Bildungswissenschaft, Universität Wien.

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