Mautner Josef P. - TheoArt-komparativ

Mautner Josef P.

Spuren von „Religion“ in Franz Kafkas Werk

Zu verschiedenen Lektüren des Proceß-Fragmentes

„Scheitern, immer scheitern, wieder scheitern, besser scheitern.“
(George Tabori, in „Goldberg-Variationen“)

Die folgenden Überlegungen zu Spuren von „Religion“ im Werk Franz Kafkas konzentrieren sich auf Fragen nach den Wahrnehmungsvoraussetzungen einiger Lektüreperspektiven, die durch Kafkas Texte angeregt wurden. Es geht mir also in erster Linie um ästhetische Grundlagen einer solchen Spurensuche und nicht um religions- oder literaturwissenschaftliche Fragestellungen. Ich stelle als Hypothese an den Anfang, dass die Ästhetik von Franz Kafkas Texten eine der unüberbrückbaren Differenz ist.

Diese Differenz entsteht, indem Kafkas Texte eine unendliche Folge von Zwischenräumen zwischen Text und LeserInnen kreieren, die nicht zu überschreiten sind, in der Lektüre jedoch überschritten werden wollen. Seine Texte widersetzen sich einer Bemächtigung durch Interpretation. Ihre Eigen-mächtigkeit liegt nicht in ihrer Sinnlosigkeit, sondern darin, dass sie einen Sinn erzeugen, der nicht erreichbar ist. Aus dieser Hypothese lässt sich ableiten, dass jede interpretierende Lektüre von Kafkas Texten scheitert, da die Lesenden diese Zwischenräume zwar überbrücken wollen, im Überbrücken jedoch an den Wahrnehmungsvoraussetzungen des Textes vorbei gehen. Darauf weist Walter Benjamin in seinem Kafka-Essay in besonderer Weise hin. Die Lektüre kreiert so ihren eigenen Text, der nicht mehr nur auf den Kafkas verweist, sondern auch auf sich selbst. Letzte Schlussfolgerung: Da keine Lektüre literarischer Texte möglich ist, ohne sie auch zu interpretieren – oder zumindest deren Nichtinterpretierbarkeit zu interpretieren, muss jede Lektüre von Kafkas Texten an deren Wahrnehmungsvoraussetzungen scheitern.

Auch Max Brod scheint diese Wahrnehmungsvoraussetzungen von Kafkas Texten zumindest geahnt zu haben: „So könnte man erklären und erklären (…) doch notwendigerweise ohne Ende.“ 1 Die Lektüre ist – um das Bild des Proceß-Fragmentes aufzugreifen – dazu verurteilt zu scheitern, noch bevor sie gescheitert ist. Mit der letzten Konsequenz dieses ästhetischen Dilemmas beschäftigt sich Jacques Derrida in einem Text zu Kafka, auf den ich näher eingehen werde.

Der erste Leser, der an der Lektüre seiner Texte scheiterte, war Kafka selbst. Dieses Scheitern hat sich im Stocken seines Schreibprozesses während der Arbeit an den Romantexten ausgewirkt. Bereits beim Romanprojekt „Der Verschollene“ betrachtete er sich als „besiegt“: „Mein Roman! Ich erklärte mich vorgestern Abend vollständig von ihm besiegt. Er läuft mir auseinander, ich kann ihn nicht mehr umfassen . . .“, schrieb er am 26. Januar 1913 an Felice Bauer.2 – „Ich kann nicht mehr weiterschreiben. Ich bin an der endgültigen Grenze, vor der ich vielleicht jahrelang wieder sitzen soll, um dann vielleicht wieder eine neue, wieder unfertig bleibende Geschichte anzufangen“, schrieb er in einem Tagebucheintrag vom 30. November 1914 zum Proceß-Roman.3 Er hat dieses Scheitern schließlich auch auf sein gesamtes Werk bezogen – am radikalsten kommt dies zum Ausdruck in seinen beiden Testamentszetteln, wo er den Wunsch nach Vernichtung seiner Texte zum Ausdruck bringt: „Liebster Max, meine letzte Bitte: alles was sich in meinem Nachlaß (also im Bücherkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten. Dein Franz Kafka“.4

Die Suche nach Spuren von „Religion“ in Kafkas Werk mit dieser Hypothese zu verknüpfen, bedeutet, dass im Folgenden nicht direkt über Kafkas Texte oder gar über seine Autorenintention gesprochen wird, sondern über drei ausgewählte Autoren, die eine spezifische Lektüre von Kafkas Texten geschaffen haben: Max Brod, Walter Benjamin und Jacques Derrida. Diese Auswahl aus einer Vielzahl an verschriftlichten Kafka-Lektüren folgt zwei Kriterien: Die Perspektiven dieser drei Autoren sind unüberbrückbar different, und sie erläutern in ihrer Unterschiedlichkeit exemplarische (Nicht-)Zugänge zu möglichen Spuren von „Religion“ in Kafkas Werk. Direkte Rückschlüsse auf die Person Kafkas, die von diesen Autoren gezogen werden, verstehe ich als Kafka-Inventionen, d.h. als in der Lektüre erfundene Figuren, die als Urheber neu erfundener Kafka-Texte fungieren.5 Spuren von „Religion“ in Kafkas Texten zu suchen, bedeutet in diesem Kontext nichts anderes, als ästhetischen Inventionen auf der Spur zu sein, die von seinen Texten inspiriert sind. Und wenn ich einen Aspekt von „Religion“ als unstillbares Verlangen nach einem Sinn verstehe, dessen ich nicht habhaft werden kann, kann die von Kafka angestoßene Ästhetik einer Spurensuche in die Richtung eines in diesem Sinne authentischen Scheiterns weisen.

1. „Vor dem Gesetz“

Die folgenden Anmerkungen zu drei exemplarischen Kafkalektüren konzentrieren sich auf die Bezüge zu einem Primärtext – und zwar zum Proceß-Fragment6; im Mittelpunkt steht der Text der „Legende“, der in einem der fertiggestellten Kapitel des Romans als Text im Text aufscheint. Im Juli 1914, also zu einem Zeitpunkt, da seine Verlobung mit Felice Bauer aufgelöst wurde, schrieb Franz Kafka in sein Tagebuch: „Wenn ich mich nicht in einer Arbeit rette, bin ich verloren.“ 7 Die Polarität zwischen Rettung und Verlorensein ist dem Romanprojekt „Der Proceß“ von Beginn an eingeschrieben, wobei sie – wie für Kafkas Sprachform charakteristisch – nicht explizit religiös konnotiert ist. Er spricht in der zitierten Notiz eben nicht von „Erlösung“ und „Verdammung“, sondern von „Rettung“ und „Verlorensein“. Eine Zuordnung zur religiösen Sprachwelt geschieht in der Lektüre, nicht im Text. Im August 1914 begann er mit der Niederschrift des Romans. Bis zum September entstanden ca. 200 Seiten des Manuskriptes, dann geriet Kafkas Schreibfluss ins Stocken. Am 25. Oktober schrieb er: „Fast vollständiges Stocken der Arbeit. Das was geschrieben wird, scheint nichts selbständiges, sondern der Widerschein guter früherer Arbeit.“ 8 Ende Jänner 1915 blieb das Manuskript des Romans unvollendet liegen. Den vollendeten Kapiteln stehen sechs Fragment gebliebene Kapitel gegenüber. Max Brod wird das Romanfragment erst im Jahre 1925 als ersten Band der Schriften aus Kafkas Nachlass publizieren. Um dem Roman den Anschein eines vollständigen Textes zu geben, hat Brod in seiner Edition die unvollendeten Kapitel beiseite gelassen. Erst nach und nach fanden die übrigen Kapitelfragmente in die folgenden Ausgaben Eingang.9 Der einzige Teil des Manuskriptes, den Kafka selber publiziert hat, ist die „Legende“, ein Textabschnitt, der unter dem Titel „Vor dem Gesetz“ mehrmals zu seinen Lebzeiten erschienen ist. Kafka hat diese Textpassage aus dem Kapitel „Im Dom“ 10 dem unveröffentlichten, Fragment gebliebenen Romanmanuskript entnommen und 1915 in der jüdischen Zeitschrift „Selbstwehr“ veröffentlicht.11 Später nahm sie Kafka leicht verändert in den Band „Ein Landarzt“ auf, der im Kurt Wolff Verlag publiziert wurde.12 Daraus leitet sich in der Rezeption des Textes eine Konvention ab, ihn als selbständigen Prosatext zu betrachten. Karlheinz Fingerhut etwa stellt in seinem Aufsatz über die Handschrift des Proceß-Romans kategorisch fest: „Das rechtfertigt den Brauch, den Text als Parabel und losgelöst vom Roman zu deuten.“13 Aus dieser Perspektive wurden dem Text unterschiedliche Gattungsbezeichnungen zugeordnet. Fingerhut verwendet die häufig vorkommende Bezeichnung „Parabel“. Oft wird auch auf die gattungsübergreifenden Bezeichnungen „Erzählung“ und „Geschichte“ zurückgegriffen. Kafka selbst benennt ihn sowohl als „Legende“ wie auch als „Geschichte“.14 Daneben existiert die andere Deutungstradition, die den Text strikt als Romanpassage behandelt und dementsprechend als nur im Rahmen der Gesamtkonzeption verstehbar ansieht. Diese Deutung forciert eine Einschätzung, die den Text als Schlüsselpassage für den Proceß-Roman versteht: „In der Forschung gilt dieser Text allgemein als Kernstück von Der Proceß, es ist darauf hingewiesen worden, daß er vollständig nur im Kontext des Romans verstanden werden kann.“ 15 Im Roman wird die „Legende“ von einem Geistlichen erzählt, und Franz Kafka ordnet den Text den „einleitenden Schriften zum Gesetz“ zu. 16 Außerdem folgt im Roman eine „Exegese“ des Textes in Form des fortgesetzten Gespräches zwischen K. und dem Geistlichen.17

Obwohl im Romanfragment ein christlicher Geistlicher der Erzähler ist, wurde – wie viele andere Texte Kafkas – auch das „Dom“-Kapitel von Max Brod sowie zahlreichen LeserInnen nach ihm vor dem Hintergrund der religiösen Tradition des Judentums interpretiert.18 Mit ebenso gewichtigen Argumenten jedoch wurde in der Rezeptionsgeschichte diesen religiösen Deutungen widersprochen und jede Festlegung des Textes auf religiöse Motivtraditionen zurückgewiesen. Ich werde mich in den folgenden Reflexionen auf die „Legende“ als Beispieltext konzentrieren und jene drei m.E. exemplarischen Schritte in der Geschichte einer Kafka-Lektüre charakterisieren, bevor ich zu einigen Reflexionen einer Lektüre der Lektüre komme.

2. Spuren von Religion: drei Stationen der Kafka-Lektüre

Der Fokus in der Darstellung dieser drei Stationen liegt auf ästhetischen, nicht auf theologischen oder religionsgeschichtlichen Fragestellungen – ausgehend von der eingangs ausgeführten Hypothese, dass eine direkte Interpretation von Kafkas Text oder gar von Kafkas Autorenintention an den Wahrnehmungsvoraussetzungen seiner Texte vorbeigehen würde und sie deshalb verfehlen müsste. Selbstverständlich betrachte ich meinen Zugang einer „Lektüre der Lektüre“ von Kafkas Text keineswegs im Vergleich mit anderen als „wahrer“ oder angemessener. Es ist ein Weg, der genauso scheitern kann wie alle andern Lektüreversuche – ganz nach dem Motto von George Tabori: „Scheitern, immer scheitern, wieder scheitern, besser scheitern“19.

Erste Station: Max Brod

Am 23. Oktober 1902, also mit 19 Jahren lernte Max Brod, der damalige Jurastudent an der Prager Karl-Ferdinands-Universität, in der „Lese- und Redehalle der deutschen Studenten“ den 19-jährigen Franz Kafka kennen, als er dort einen Vortrag über Schopenhauer und Nietzsche hielt. Max Brod beschreibt die Begegnung und das daran anschließende Gespräch auf dem Nachhauseweg in seiner Kafka-Biographie.20 Er spricht dort im Zusammenhang mit seinem ersten Eindruck von Kafkas Persönlichkeit von einer „conscientia scrupulosa“, einer „präzisen Gewissenhaftigkeit (…) in allen moralischen Dingen“: „Viele seiner Werke haben diesen Zug, z.B. (…) die große Szene im ‚Prozeß‘, in der die Legende ‚Vor dem Gesetz‘ verschiedenartig kommentiert wird.“ 21 Max Brod betrachtete Kafka – ebenso wie Hans-Joachim Schoeps 22 – als einzigartigen und herausragenden „homo religiosus“.23 Im Nachwort zu dem von beiden herausgegebenen ersten Band einer ersten Kafka-Ausgabe ziehen Brod und Schoeps einen Vergleich zwischen Kafka und Pascal und bezeichnen beide als „von aller apriorischen Sicherheit abgeschnittene Wahrheitssucher“, die sich „in die Schwebe der Ungewißheit hineingehalten wissen (…), ehe sie – wenn überhaupt im Wagnis zum Glauben vorstoßen.“ 24 Eine ästhetische Grundvoraussetzung für Max Brods Kafka-Lektüre ist, dass er Leben und Werk, Autor und Text in starkem Maße als Einheit betrachtet und den Schlüssel zum Verstehen für dessen Texte in Kafkas Persönlichkeit sieht. Darüber hinaus hat Brod Kafkas Texte mehr als persönliche Zeugnisse seines ethisch-religiösen Denkens und Empfindens betrachtet, denn als Kunstwerk, das eine klare Differenzierung zwischen Welt sowie Person des Autors und dem erzählten Universum sowie seinen Figuren erforderlich macht. Diese Haltung ist vor dem Hintergrund der großen biographischen Nähe Brods zu Kafka durchaus verständlich. Bei Kafkas Tod am 3. Juni 1924 lag der Großteil seines Werkes nur in Manuskriptform vor, und davon war wiederum nur ein kleiner Teil einigen wenigen aus seinem Freundeskreis zur Lektüre anvertraut worden. Kafka selbst hatte mehrfach geäußert, dass er seine Texte nur an sich selber als „Leser“ gerichtet habe und dem entsprechend in seinem Werk nur einen Dialog mit sich selber führe.25 In diesen Zusammenhang gehört auch der an Max Brod gerichtete Auftrag in einem der beiden „Testamentszettel“, alles was sich in seinem Nachlass an schriftlichen Aufzeichnungen finde, „restlos und ungelesen“ zu vernichten.26

Obwohl Brod Kafkas negatives Urteil über sein Werk – im speziellen auch über den „Proceß-Roman“, den dieser als gescheitert betrachtet hatte – in keiner Weise teilte, war er dennoch gerade von jener Auffassung Kafkas in seiner Lektüre maßgeblich beeinflusst, in der er seine Texte als verschriftlichtes Selbstgespräch betrachtete. In seiner Kafka-Biographie bezeichnet Brod darüber hinaus die „Kategorie der Heiligkeit“ als „die einzig richtige, unter der Kafkas Leben und Schaffen betrachtet werden kann.“ 27 Er beschreibt Kafka als Menschen, der zwar in großer Präzision und Ausführlichkeit die Kontingenz und Unvollkommenheit menschlichen Lebens wahrnehme und darstelle, aber deswegen in seinem Glauben an absolute, „letzte“ Wahrheiten nie irregeworden sei. Für Kafka sei das Absolute Realität, jedoch sei es der menschlichen Existenz „inkommensurabel“. Hauptthema seiner Literatur sei „das ewige Mißverstehen zwischen Mensch und Gott“, das „Versagen des Menschen vor Gott“, um nur einige Beispiele für Formulierungen, die Max Brod verwendet, zu bringen.28 Für Max Brod sind Kafkas Texte zuerst Ausdruck einer geistigen Auseinandersetzung, eines geistigen Kampfes mit dem „deus absconditus“, mit einem Gott, dessen Wille und Logik mit menschlichen Maßstäben unfassbar bleibt. Er vergleicht Kafka mehrmals mit der Figur des Hiob, wie er auch mehrfach sein Werk mit dem Buch Hiob in Verbindung bringt. Auch hier erweist sich Brods Zugang als ein „naiver“, jeder literaturwissenschaftlichen Perspektive fremder, der v.a. vom eigenen Wahrnehmen von Kafkas Persönlichkeit geprägt ist. Gerade für diese „Inkommensurabilität“ zwischen göttlichem Willen und – unvollkommener – menschlicher Wahrnehmung betrachtet Brod die „Legende“ „Vor dem Gesetz“ als einen paradigmatischen Text. Denn Kafka habe – so Brod – diese Gefahr des Nichtwahrnehmens zu seinem Hauptthema gemacht: „eine Gefahr von so groteskem Übergewicht, daß uns eigentlich nur ein Zufall (‚gratia praeveniens‘) dazu bringen kann, in das ‚Gesetz‘, d.h. in das richtige vollendete Leben, ins ‚Tao‘ einzutreten.“ 29 Das Motiv, das den „religiösen Menschen“, den „Gottsucher“ Kafka dazu bringe, die Nichtwahrnehmung des Absoluten, das Brod hier umstandslos mit dem „Gesetz“ identifiziert, zu seinem Hauptthema zu machen, sieht er in dessen konsequenter Parteilichkeit mit dem Menschen. Kafka nehme als Erzähler fast vollständig die Perspektive des „Mannes vom Lande“ ein. Nur so könne K., dem die „Legende“ im „Proceß-Roman“ erzählt wird, abschließend feststellen: „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.“30 Brod jedoch hält – seiner Auffassung zufolge naturgemäß – den Widerspruch, den der Geistliche gegenüber dieser Bemerkung K.s erhebt, für den der Wahrheit gemäßeren. Für Brod „wird die Gerechtigkeit des obersten Gerichtes (im Roman ‚Prozeß‘), die Möglichkeit eines dem göttlichen Auftrag, eben dem ‚Gesetz‘ entsprechenden guten Lebens nicht geleugnet“.31

Diese ausschließlich religiös orientierte Lektüre der „Legende“ verdeutlicht exemplarisch, wie Max Brod einerseits keine Unterscheidung zwischen der von ihm als Kafkas Gedankenwelt angesehenen „Realität“ und der erzählten Welt des „Proceß-Fragmentes“ vornimmt. Sie zeigt aber auch, wie eine vorgefasste, ihn monosemierende Lektüre des Textes im Grunde zu seiner Auslöschung führt. Was am Ende bleibt, ist nicht der Text selber, der sich zu keinem Schluss führen lässt, sondern eine Schlussfolgerung, eine Meinung, hinter der der Text selber verloren geht. Max Brod hat mit seiner Lektüreauffassung einer „religiösen Dimension“ in Kafkas Texten die weitere Rezeption stark beeinflusst – zunächst in die Richtung seiner eigenen Auffassung 32, später jedoch vor allem in die der seinen entgegengesetzte. Für eine solche, Brods religiöser Interpretation entgegengesetzte Lektüre ist Walter Benjamins Kafka-Essay paradigmatisch:

Zweite Station: Walter Benjamin

Im Jahr 1934, zum zehnten Todestag Franz Kafkas, publizierte Walter Benjamin einen groß angelegten Essay, der sich mit verschiedenen Aspekten von Kafkas Werk auseinandersetzt. Im Zentrum von Benjamins Beschäftigung mit Kafka insgesamt steht dieser in der „Jüdischen Rundschau“ erschienene Essay.33 Um jenes Zentrum gruppieren sich Briefzeugnisse, Gespräche und Notizen, die den Essay ergänzen und seine Aussagen differenzieren.34 Zu Beginn – bevor ich näher auf ein Motiv in Benjamins Essay eingehe – will ich auf eine Geschichte zu sprechen kommen, die Benjamin am Anfang des Kafka-Essays erzählt und die er mit „Potemkin“ übertitelt hat. Walter Benjamin selber bezeichnet die Geschichte als einen „Herold, der dem Werke Kafkas zweihundert Jahre vorausstürmt“.35 Hier soll sie als Kritik eines sie als religiös interpretierenden Modus der Lektüre von Kafkas Texten dienen. Zunächst die Geschichte, kurz zusammengefasst: Fürst Potemkin litt an schweren, wiederkehrenden Depressionen, während derer der Zugang zu ihm streng verboten war. Eine dieser depressiven Episoden dauerte ungewöhnlich lange und brachte die Regierungsgeschäfte zum Erliegen, da ohne seine Unterschrift nichts erledigt werden konnte. Ein unbedeutender Kanzlist namens Schuwalkin bemerkte die Verzweiflung der hohen Beamten und machte sich erbötig, die Staatskrise zu lösen. Er ließ sich die Akten übergeben, suchte durch die Korridore und Galerien der fürstlichen Residenz den Weg zu Potemkins Schlafzimmer. Ohne Halt zu machen betrat er es, schob Potemkin die Feder in die Hand und legte dem Fürsten die Akten aufs Knie. Der unterzeichnete ohne Widerspruch alle, und Schuwalkin kehrte triumphierend mit den unterzeichneten Akten zu den Beamten des Hofstaates zurück. Die beugten sich gespannt darüber, lasen sie und verstummten. Schuwalkin trat ebenfalls hinzu, um den Grund der Bestürzung zu erfahren: „Da fiel sein Blick auf die Unterschrift. Ein Akt wie der andere war unterfertigt: Schuwalkin, Schuwalkin, Schuwalkin …“ 36 Der ohne Hemmung und Hindernis durch Galerien und Korridore ins Zentrum der Macht Vorstürmende findet dort scheinbar, was er sucht. Er erhält ohne auf Widerstand zu stoßen die seine Akten beglaubigende Unterschrift. Doch zurückgekehrt in die Peripherien der Realität, wo diese Beglaubigung wirksam werden sollte, stellt sich heraus: Was er erhielt, ist nicht die Unterschrift des Fürsten. Was Schuwalkin dort fand, war nicht die Beglaubigung einer jenseitig unerreichbaren Macht, sondern nur sein eigener Name, die nutzlose Beglaubigung seiner selbst. Die mit seinem eigenen Namen gezeichneten Akte waren ebenso unwirksam, man könnte auch sagen ‚un-wirklich‘, wie sie es zuvor, ohne Unterschrift gewesen waren. Dass Benjamin damit nicht nur alle vorangegangenen vor-schnellen Interpretationen, Beglaubigungen der Kafkaschen Texte gemeint hat, sondern ebenso seinen eigenen Annäherungsversuch an eine Be-deutung, lässt sich daraus folgern, dass er die Geschichte an den Anfang seines Essays gestellt hat.37 Der Essay – wie auch Benjamins Beschäftigung mit Kafka insgesamt – bietet eine Fülle von Ansatzpunkten für eine Kafka-Lektüre, die sich v.a. einer theologischen Vereindeutigung seiner Texte widersetzt. Benjamin wendet sich in einer Briefpassage explizit gegen Max Brods Interpretation: „Insbesondere vermag ich methodisch mir in keiner Weise die gradlinige theologische Auslegung Kafkas (die, wie ich wohl weiß, nahe genug liegt) zueigen zu machen.“ 38 Walter Benjamin hat das konsequente Vermeiden eines explizit religiösen Vokabulars in Kafkas Texten und dessen Konsequenz für eine Lektüre klar erkannt: „In Kafkas Schriften kommt das Wort ‚Gott‘ nicht vor. Sie ungebrochen theologisch auszulegen, ist nicht viel statthafter als eine Kleistsche Novelle, um sie den Lesern näher zu bringen, in Reime zu übertragen.“ 39

Hier möchte ich allerdings nur auf einen Punkt des Essays, auf die Entfaltung des Talmudischen Motivs einer Dialektik zwischen Mischna und Gemora näher eingehen. Benjamin verwendet in seinem Text die Begriffe „Halacha“ und „Haggadah“. Haggadah ist der Name für die Erzählungen des rabbinischen Schrifttums, die der Auslegung und Erläuterung der Halacha – also der religiösen Lehre – dienen. In den Texten Kafkas ortet Benjamin eine paradoxe, sich gegenseitig widersprechende Beziehung zwischen beiden Traditionssträngen. Eine einseitig lineare Beziehung, die vom Vorrang der halachischen „doxa“ ausgeht, ist aufgehoben. Kafkas Texte dienen nicht einfach einer Konkretisierung, einer Versinnlichung der Lehre, sondern: „Wie die haggadischen Teile des Talmud, so sind auch diese Bücher Erzählungen, eine Haggadah, die immerfort innehält, in den ausführlichsten Beschreibungen sich verweilt, immer in der Hoffnung und Angst zugleich, die halachische Order und Formel, die Lehre könnte ihr unterwegs zustoßen.“ 40 Benjamin sieht in Franz Kafkas Prosa eine radikale Profanierung des religiösen Mythos, die aber in der Dialektik zwischen Mythos und gesellschaftlicher Realität innehält. Für ihn ist bei Kafka „jede Begebenheit janushaft, ganz unvordenklich, geschichtslos und dann auch wieder von letzter journalistischer Aktualität. Von theologischen Zusammenhängen zu reden hätte allenfalls der ein Recht, der dieser Doppelheit nachginge; gewiss nicht, wer nur ans erste dieser beiden Elemente anschließt.“ 41 Jedoch auch nicht, wer sich nur dem Element der Profanierung zuwendet. Das „Janushafte“, die Doppelbödigkeit der Kafkaschen Texte, erklärt Walter Benjamin damit, dass die Halacha, die Kafka mit seiner Dichtung kommentiert, verlorengegangen ist. „Dieser Kommentator hat zwar heilige Schriften, aber sie sind ihm verloren gegangen. Fragt sich also: was kann er kommentieren?“ 42 Die Halacha bleibt in seiner Haggadah gegenwärtig, zumindest indem sie deren Abwesenheit bewusst hält: als eine Erzählung, die das Hoffnungslose sagt. Das Bewusstsein des Messianischen hält Kafka präsent, indem er die Abwesenheit von Erlösung ausspricht. Denn seine Texte „legen sich der Lehre nicht schlicht zu Füßen, wie sich die Hagada der Halacha zu Füßen legt. Wenn sie sich gekuscht haben, heben sie unversehens eine gewichtige Pranke gegen sie.“ 43

Was Walter Benjamin mit dieser dialektischen Zuordnung von Haggadah und Halacha nahe legt, ist die Methode einer „negativen Präzisierung“: Die „Legende“ „Vor dem Gesetz“ soll dabei nicht ausgelegt, sie soll gelesen werden 44, d. h. ihre Sinnlichkeit ist als ihrem Wesen entsprechend, nicht als symbolisch zu verstehen – gerade dann, wenn sie sich auf religiöse Bilder bezieht. Man kann durchaus Begriffe der religiösen Tradition in sie einlesen, ohne sie deshalb einem linearen Erlösungsdenken unterzuordnen. Im Gegenteil: Die Assoziation mit religiösen Bildern und Begriffen macht deren Abwesenheit in der Erzählung, in der Haggadah, noch schärfer sichtbar.

„Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz.“ 45 Bereits diese beiden Sätze am Beginn der „Legende“ lassen Assoziationen zu gewichtigen Bildern der jüdischen Tradition zu: zur altjüdischen Vorstellung vom Gesetz als einem Haus 46, zum talmudischen Terminus „Landvolk“ (hebr. „Am ha-Arez“), der soviel wie „unwissender Laie“ bedeutet und im Gegensatz zum „eingeweihten Gelehrten“ steht 47, zu den „Torwächtern“ aus der jüdischen Gnosis, die als feindliche Engel den Aufstieg der Seele aus dem Bann der Welt zum Thron des Lichts (der „Merkaba“) verhindern wollen.48 Doch Franz Kafka will mit seiner „Legende“ – wenn man Benjamins Lektüreweg folgen will – keine Allegorese einer transzendenten Wirklichkeit geben. Im Gegenteil: Die Erzählung schließt von vornherein jeden Zugang des „Mannes vom Lande“ zu einem erlösenden Licht aus. Ja, Kafka steigert die traditionelle Siebenzahl der „himmlischen Hallen“, wie sie in der gnostischen Tradition festgelegt war, ins Unendliche und lässt den Türhüter auf unzählige weitere Türhüter verweisen: „Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ 49 Die Türhüter versinnlichen so den ungeheuren Raum, der sich zwischen dem „Mann vom Lande“ und dem „Gesetz“ ausbreitet und für diesen unüberwindlich bleibt. Bereits der unterste Türhüter von allen macht die vorläufige Existenzform des „Mannes vom Lande“ – dessen Warten – zu einer endgültigen, indem er schließlich den Eingang (als den einzigen für ihn bestimmten) schließt. Der Mann bleibt ausgeschlossen vom „Gesetz“.

Walter Benjamin hat jene „Pranke“, die Kafkas Erzählung gegen die Lehre erhebt, politisch und gesellschaftlich konkretisiert: In seiner Lektüre ist sie prophetisch bis in ihre letzte Konsequenz voraus gedachte gesellschaftliche Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit hat sich am Ende auf Vernichtung zubewegt – nicht auf Erlösung. Der Jude Walter Benjamin vermag 1934 das Äquivalent dessen zu benennen, was der Jude Franz Kafka 1914 als noch Unnennbares gesagt hat: „dass Kafkas vielfach so heitere und von Engeln durchwirkte Welt das genaue Komplement seiner Epoche ist, die sich anschickt, die Bewohner dieses Planeten in erheblichen Maßen abzuschaffen. Die Erfahrung, die der des Privatmanns Kafka entspricht, dürfte von großen Massen wohl erst gelegentlich dieser Abschaffung zu erwerben sein.“ 50 Die Shoah als krudes Faktum hat den Verlust der Halacha – nicht nur für die jüdische Tradition – manifest werden lassen. Sie lässt ein Bewusstsein von Erlösung nur mehr in der Rede über deren Verlust zu. Denn die Tiefe der ästhetischen Ambivalenz in Walter Benjamins Lektüre liegt darin begründet, dass er im Angesicht ihrer Zerstörung an der „Möglichkeit der Erlösung“ 51 festgehalten hat, ohne ihre Unmöglichkeit zu verschweigen.

Dritte Station: Jacques Derrida

„Préjugés“ lautet der Titel eines Vortrages, den Jacques Derrida im Sommer 1982 bei einem Kolloquium in Cerisy-la-Salle hielt. Der Vortrag wurde 1985 als Essay veröffentlicht.52 Derrida verbindet darin eine Reflexion der philosophischen Perspektive von Jean-Francois Lyotard mit einer philosophischen Lektüre der Erzählung „Vor dem Gesetz“. Gerade in dieser eigenwilligen Verbindung ist der Text meines Erachtens paradigmatisch für eine Lektüre Kafkas jenseits der sog. „Postmoderne“, für eine Lektüre, so könnte man – Walter Benjamins neunte These „Über den Begriff der Geschichte“ paraphrasierend – sagen, die mit Kafkas Erzählung im Blick der Zukunft den Rücken kehrt, auf die sie unaufhaltsam zugetrieben wird.53 Nicht der gesamte Vortrag, nur ein bestimmter Gedankengang Jacques Derridas in seinem Essay bildet den Ausgangspunkt für meine Überlegungen. Eine philosophische Lektüre des Kafkatextes, so der Anspruch Derridas an sich selbst, sollte Polaritäten zwischen Tradition und Moderne ebenso wie die zwischen Moderne und Postmoderne hinter sich lassen. Es handelt sich hierbei ja um die Lektüre einer Erzählung, die zusammen mit ihrem Umfeld – dem Romanfragment „Der Proceß“ – einerseits wie kaum eine andere mit religiösen Traditionen in Verbindung gebracht wurde. Andererseits wurde sie ebenso von einer Ästhetik der Moderne ausgelegt und in Anspruch genommen, die sich als explizit a-religiös bzw. postreligiös versteht.54 Die philosophische Lektüre zeichnet sich, wenn sie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden will, dadurch aus, dass sie den auslegenden Diskurs überschreitet und einen Standort vor jedem Urteil über den Text findet 55 – gleichgültig, ob dieses Urteil einem religiös bestimmten „Gesetz“ oder einem ästhetischen Standpunkt der Moderne geschuldet sei. In der Vorstellung Jacques Derridas müsste dieser Ort generell jenseits der Dichotomie zwischen dem Urteilen und einem (ablehnenden) Urteil über das Urteilen liegen – also auch den ideologischen Gegensatz zwischen Moderne und Postmoderne überschreiten. Diese Überschreitung ist – aus der Perspektive Derridas – allerdings nur möglich im Hindurchschreiten durch die Gegensätze – nicht durch ein über sie Hinwegschreiten.

Wie gesagt: Hier soll nur auf einen Aspekt dieses Essays eingegangen werden: Die Moderne, also auch die moderne Literaturtheorie, hat ihre besondere Pragmatik gerade darin gesehen, dass sie die klassische Form des Urteilens beendet habe, sie verneint habe und zu ihr auf Distanz gegangen sei. In Bezug auf Texte heißt dies: Die Moderne glaubte, von der klassischen Form des Interpretierens Abstand genommen zu haben. Eine vormoderne Form der Interpretation literarischer Texte würde diese auf ihren eindeutigen Bezug zu einer Wahrheit hin befragen – also etwa die religiöse Wahrheit hinter der „Legende“ Kafkas zum Vorschein bringen wollen. Die Kafka-Interpretation Max Brods und seiner Nachfolger ließe sich dieser Form zuordnen. Dem gegenüber behauptet die Ästhetik der Moderne, die unauflösbare Ambivalenz von literarischen Texten erkannt und anerkannt zu haben. Was bedeutet, dass religiöse Motive – etwa aus dem Talmud -, die in der „Legende“ anklingen, nicht der religiösen Auslegung des Textes dienen, sondern im Gegenteil, durch den Text literarisch transformiert, also – wenn man so will – ebenso als religiös wie auch als säkular (sprich: als ambivalent) ausgelegt werden. Walter Benjamins Lektüre in seinem großen Kafka-Essay ist dafür ein paradigmatisches Beispiel.

Jacques Derrida geht noch einen Schritt weiter: Er urteilt über seinen eigenen Begriff der „différance“, mit dem er jene Ambivalenz der Moderne begrifflich zu fassen versuchte:

„Im Grunde kann man den ganzen Diskurs über die différance, über die Unentscheidbarkeit et cetera auch als ein Dispositiv des Vorbehalts gegenüber dem Urteil in all seinen (prädikativen, präskriptiven, stets entscheidenden) Formen betrachten. Es wäre leicht zu zeigen, daß hinter diesem offensichtlichen Vorbehalt ein Urteil seinen Platz einnimmt oder wiederkehrt, das die Szene, von der es abwesend zu sein schien, mit einer verneinenden Tyrannei befehligt, die noch störrischer (intraitable) ist.“ 56

An dieser Stelle setzt Derridas nachmoderne Dekonstruktion der modernen Dialektik ein: Gerade das eigene „Urteil über das Urteilen“ (hier bezieht sich Derrida bewusst auf sich selber) zeigt, dass wir – jedenfalls in der Form der Antithese zum Urteil – mit dem Urteilen nie Schluss gemacht haben werden. Für seine philosophische Lektüre ist jedoch das Urteil selbst unwesentlich. Es gilt, ihm auszuweichen und sich jener Situation zu stellen, die vor dem Urteil, „vor dem Gesetz“ schon da war – der Situation, „préjugés“, also im Vorhinein Verurteilte zu sein.

An diesem Punkt wendet sich Jacques Derrida der Erzählung Franz Kafkas zu: „ (…) im Namen dieser narrativen Pragmatik habe ich mich entscheiden lassen, mich/mir die Geschichte erzählen zu lassen, die, wie man weiß, von Kafka Vor dem Gesetz betitelt worden ist.“ 57 Seine Form der Annäherung ist die einer „narrativen Pragmatik“ 58: Er lässt sich die Geschichte erzählen. Auch an dieser Stelle formuliert Jacques Derrida bewusst mehrdeutig. Ob er sich selber die aktive oder die passive Rolle im Satz zuweist, bleibt offen. In der ersten Person, wie sie im Text verwendet ist, müssen sich die Übersetzer – zumindest in der Fußnote – beim Reflexivpronomen mit zwei alternativen Formulierungen behelfen: „(…) im Namen dieser narrativen Pragmatik habe ich mich entscheiden lassen, mich die Geschichte erzählen zu lassen / mir die Geschichte erzählen zu lassen, die, wie man weiß, von Kafka ‚Vor dem Gesetz’ betitelt worden ist.“ 59 Die philosophische Lektüre bleibt strikt im Rahmen dieses erzählenden Sprachhandelns. Der gesamte Text des Essays – von seinem Beginn an – wird von Derrida als „Erzählung“ angesehen. Er überschreitet damit die Gattungsgrenzen einer philosophischen Abhandlung, die eine literarische Erzählung nur zum Gegenstand hat.60 Ob Derrida ihr „Erzähler“ ist oder ihr Rezipient, hat er bewusst offen gelassen. Mag sein, dass er beides für zutreffend hält. Jacques Derrida benennt vier Voraussetzungen einer deutenden Lektüre, die in einem ersten Schritt Übereinstimmung zwischen dem Text und seinen LeserInnen herstellen mögen. In einem zweiten Schritt jedoch wird er diesen Konsens zumindest als zerbrechlich erweisen.

Erste Voraussetzung ist für ihn die „Selbstidentität“, „Singularität“ und „Einheit“ des Textes. Sie ist mit Anfang und Ende, also mit erkennbaren Grenzen der Erzählung verbunden. Die Wissenschaft – so Derrida – definiert eine sog. „Originalversion“ des Textes, die seine „Persönlichkeit“ bestimmt. Sie ist letztgültiger Bezugspunkt für jede Interpretation.61

Zweite Voraussetzung ist die Existenz eines Autors, der Teil einer historisch bestimmbaren Wirklichkeit ist. Die Differenz zwischen einem als real angenommenen Autor und der Fiktionalität handelnder Personen innerhalb der Erzählung konstituiert die Lektüre.

Dritte Voraussetzung ist die Erzählung als bestimmende Form des Textes. Die Erzählung ordnet den Text jenem Feld zu, das Literatur genannt wird. „Vor dem Gesetz“ scheint von der Mehrzahl seiner LeserInnen als literarische Erzählung identifiziert zu werden.

Vierte Voraussetzung der Lektüre ist der Titel. Er steht vor dem Text, in einem sichtbaren Abstand zu ihm. Der Titel gibt dem Text einen Namen, er bringt ihn auf einen Begriff und charakterisiert ihn zugleich. Er signalisiert seine Einheit, benennt seine Identität.

Der Text Franz Kafkas trägt (in seiner selbständig publizierten Form) den Titel „Vor dem Gesetz“. Dessen Semantik beinhaltet eine Angabe des Ortes: eben vor dem Gesetz. Und gleichzeitig ist der Titel nur dann Titel, wenn er vor dem Text erscheint, sich dem Fluss der Geschichte entzieht und sie auf den Begriff bringt. Derrida stellt fest: Begriff und Geschichte bleiben getrennt – so wie für Walter Benjamin bei Kafka Halacha und Haggadah nicht mehr unmittelbar aufeinander bezogen werden können. Dies signalisiert der Titel „Vor dem Gesetz“, und davon erzählt die „Legende“. Derrida liest ein philosophisches Grundthema in die Erzählung ein: Singularität und Allgemeinheit, Individuum und Gesetz sind voneinander unterschieden, sie bleiben sich fremd. „Nun benennt oder berichtet dieser Text, dieser singuläre Text, wie Sie schon bemerkt haben werden, auf seine Weise diesen Konflikt im Nicht-Begegnen von Gesetz und Singularität, dieses Paradox oder dieses Rätsel (énigme) des Vor-dem-Gesetz-Seins“.62

Schließlich kommen wir zur eigentlichen Frage Derridas an den Text der „Legende“: Macht er nicht die Unvermittelbarkeit von Gesetz und Erzählung wiederum zum Gesetz? Behauptet der Text nicht jenen Konflikt als norma normans, ist es für ihn nicht unableitbare Gesetzmäßigkeit, dass keine Erzählung sich dem Gesetz, also dem Allgemeinen nähern kann: „Seine kategorische Autorität kommt dem Gesetz nur zu, wenn es ohne Geschichte, ohne Genese, ohne mögliche Ableitung ist. Dies wäre das Gesetz des Gesetzes. Die reine Moralität hat keine Geschichte“? 63 „Vor dem Gesetz“ erzählt von den vergeblichen Versuchen des Singulären, der Erzählung, sich dem Gesetz zu nähern, erzählt also von der Unmöglichkeit zu erzählen im Angesicht des Gesetzes. So werden in diesem Kontext auch die Voraussetzungen einer Lektüre der Erzählung unsicher, ihre selbstverständliche Lesbarkeit schwindet.

3. Lektüre der Lektüre: Anmerkungen zur Spurensuche

Ich möchte abschließend einige Reflexionen anfügen, die Elemente eines eigenen Standortes in der Lektüre dieser drei exemplarischen Lektüren von Kafkas Text „Vor dem Gesetz“ umreißen. Aus den in der gebotenen Kürze dargestellten drei Perspektiven einer Lektüre von Kafkas „Legende“ könnte man eine lineare Entwicklung von Max Brod über Walter Benjamin bis zu Jacques Derrida herauslesen: von der Vormoderne über die Moderne zur postmodernen Aufhebung von deren Gegensätzlichkeit. Eine solche Lektüre der Lektüre würde insinuieren, dass die Wahrnehmung der Spuren von „Religion“ von einer naiv-vormodernen, unmittelbar identifizierten Religionsästhetik bei Max Brod ihren Ausgangspunkt nimmt: Kafka wird von Brod als herausragende religiöse Persönlichkeit, als „Heiliger“, wahrgenommen, der sich und seine Religiosität unmittelbar in seinen Texten zum Ausdruck bringt – in besonderem Maße eben auch in der „Legende“ „Vor dem Gesetz“. Walter Benjamin stellt diesen unmittelbaren interpretatorischen Zugriff von Max Brod grundsätzlich in Frage. Er betrachtet Kafkas Text der „Legende“ als radikale Profanierung des religiösen Mythos vom Gesetz, der aber seine religiösen Konnotationen aufrecht erhält und somit die Ambivalenz zwischen Transzendenz und Diesseitigkeit in der Schwebe belässt. Jacques Derrida konzentriert sich in seiner Lektüre der „Legende“ auf den Standort, den der „Mann vom Lande“ in der Erzählung einnimmt: also auf seine Situation vor dem „Gesetz“, d.h. vor jedem be-urteilenden, interpretierenden Standpunkt. Seine Lektüre versteht sich jenseits der Dichotomie zwischen religiös bestimmter Tradition und säkularer Moderne. Sie sucht nach einer Situation, die den unendlichen Abstand, die Unvermittelbarkeit von Einzelnem und Gesetz anerkennt. Wobei Derrida auch diesen Standort als u-topisch, d.h. als unmöglich betrachtet, weil er über einen inneren Widerspruch nicht hinwegkommt: dass nämlich diese Unvermittelbarkeit von Individuum und Gesetz wiederum zum Gesetz erhoben ist, wenn man sie als existentiell begreift. Und für Derrida ist die in der „Legende“ erzählte Situation des „Mannes vom Lande“ genau dies: eine Metapher der menschlichen Existenz.

Ich möchte eine solche Lektüre der drei Lektüren als lineare, aufsteigende Entwicklung eines Verständnisses von Kafkas Text jedoch in Frage stellen und diese eher – wie bereits angedeutet – als drei verschiedene Stationen des Scheiterns einer religiösen Spurensuche begreifen.64 Als Stationen, die sich zwar teilweise aufeinander beziehen, jedoch keine Entwicklungslogik, sondern vielmehr eine radikale Diversität der Perspektiven erkennen lassen, aus denen heraus Kafka gelesen werden kann. Oder, um es mit den Worten des Geistlichen in dem auf die „Legende“ folgenden Auslegungsgespräch im „Proceß“-Roman zu sagen: „Die Schrift ist unveränderlich, und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.“ 65 Jacques Derrida fokussiert seine Lektüre auf die mit dem Schluss der „Legende“ festgefrorene Situation des „Mannes vom Lande“, der vor dem ersten der ungezählten Eingänge zum „Gesetz“ bis zu seinem Tod festgehalten ist, ohne jemals zu ihm vorzudringen. Er interpretiert diese Situation „vor dem Gesetz“ als existentiell und allgemein. Sie wird für ihn zum „Gesetz des Gesetzes“ (Derrida), zu der Metapher menschlicher Existenz insgesamt. Ich möchte den Fokus auf das Situative von Kafkas Text, wie ihn Derrida in seiner Lektüre herausgearbeitet hat, beibehalten. Allerdings folge ich Derrida nicht in seinem letzten Schritt der Lektüre, wo er dieses Situative wieder in einer allgemein gültigen Gesetzmäßigkeit sich aufheben lässt, sondern möchte die Situation „vor dem Gesetz“ als die belassen, als die sie bei Kafka dargestellt ist: als festgefrorener Moment, der von einer konkreten sozialen Situation seinen Ausgangspunkt nimmt. Walter Benjamin hat präzise beobachtet, dass in Kafkas Prosa „jede Begebenheit janushaft, ganz unvordenklich, geschichtslos und dann auch wieder von letzter journalistischer Aktualität“ ist. Diese Aktualität und Konkretheit meint nicht zuletzt auch ihre Bezogenheit auf soziale Verhältnisse. Ich will in meinen Überlegungen zur Lektüre auf drei soziale Bezüge eingehen, die für das Verstehen der in der „Legende“ abgebildeten Situation m.E. von Bedeutung sind: auf die Situation sozialen Ausgegrenztseins und auf den Mechanismus einer „Befremdung“ (eines „Othering“) beliebig definierbarer sozialer Gruppen 66 sowie auf Kafkas Reflexion seines eigenen Befremdetseins.

a) Die Situation des Ausgegrenztseins: Der Text lässt mich als Leser aus einer sozialen Perspektive sowohl den Türhüter als auch den „Mann vom Lande“ als Unterworfene, als marginalisierte Menschen wahrnehmen. Der Türhüter teilt dem „Mann vom Lande“ mit, dass er selber nur der unterste von unzähligen anderen sei: „Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ 67 Ein weiteres Indiz dafür ist, dass sich Franz Kafka im Zusammenhang mit der Arbeit am „Proceß“-Roman mit der Situation von ganz realen „Türhütern“ beschäftigt hat: so in einer Tagebucheintragung, die man als möglichen „Parallelentwurf“ zur „Legende“ lesen könnte. Ende Juli 1914 notiert er in Form einer Kurzgeschichte eine anscheinend alltägliche „Türhütererfahrung“, in der er die Ambivalenz im Verhältnis der Oberschicht zu den ihr Unterworfenen herausarbeitet: „Josef K., der Sohn eines reichen Kaufmanns, ging eines Abends (…) in das Haus der Kaufmannschaft (…). Der Türhüter verneigte sich tief. Josef sah ihn ohne Gruß flüchtig an. ‚Diese stummen untergeordneten Personen machen alles, was man von ihnen voraussetzt‘ dachte er. ‚Denke ich, daß er mich mit unpassenden Blicken beobachtet so tut er es wirklich.‘“ 68 Ebenso sind in einer offen gehaltenen Lektüre der Personenbezeichnung „Mann vom Lande“ zwei Bedeutungen präsent: sowohl die religiöse Konnotation mit dem talmudischen Begriff „Landvolk“ als auch die soziale Charakterisierung eines einfachen, der armen Landbevölkerung zugehörigen Menschen, und ich plädiere dafür, beide in ihrer Ambivalenz aufrecht zu halten. Das Festgehaltensein vor dem Eingang zum Gesetz, die Unverrückbarkeit des Ausgeschlossenseins ist somit auch Ausdruck der von Kafka präzise beobachteten sozialen Situationen der „Menschen vom Lande“: Sie erfahren ihre Situation als ausweglos, kennen das „Gesetz“, also ihre potentiellen Rechte, nicht. Sie befinden sich in einer permanenten Ausgrenzungssituation gegenüber dem Gesetz, das sie nicht als das ihre, sondern als fremdes wahrnehmen. Ihnen werden nicht erst ihre konkreten Rechte verwehrt, sondern bereits das grundsätzliche Recht, Rechte zu haben. Hier kommt die zweite Form des Ausgegrenztseins ins Spiel, die in die Situation „vor dem Gesetz“ eingelesen werden kann:

b) Das soziale Befremdetsein und die Strategie der Ver-fremdung: Ein lebenslanges Festgehaltensein in einem Raum außerhalb des Zuganges zum „Gesetz“ hat ein umfassendes Nichtwissen und eine grundsätzliche Fremdheit dem „Gesetz“ gegenüber zur Folge. Mit dieser Situation des „Mannes vom Lande“ charakterisiert Franz Kafka – so eine mögliche Lektüreperspektive – die Situation von Menschen(gruppen), die von der Gesellschaft zu Fremden gemacht werden und somit in einer Situation des Fremdseins festgehalten sind – gleichgültig ob sie dies wollen oder nicht. Günther Anders hat in seinem Kafka-Essay jene Situation radikalen Fremdseins als Schlüssel für die verfremdende Darstellung von Alltagssituationen in Kafkas Prosa dargestellt und eine Analogie zu Bertolt Brechts ästhetischen Intentionen gezogen.69 Wie Brecht, so meint Anders, habe Kafka seinen verfremdenden Darstellungen den Charakter einer ästhetischen wie sozialen Provokation geben wollen – wenn auch nicht mit demselben politisch-ideologischen Impetus wie Brecht. Die Strategie der Ver-fremdung zeigt zum einen die Welt, wie sie sich aus der Wahrnehmungsperspektive befremdeter Menschen darstellt. Zum andern zeigt sie sie als ver-rückt und somit als veränderbar. Das strategische Ziel verfremdender Ästhetik ist die Provokation zur Veränderung. Ein Indiz für diese Zielsetzung einer ver-fremdenden Darstellung ist, dass Franz Kafka den „Mann vom Lande“ in der „Legende“ (und nicht nur dort) als Unterworfenen in einer als massiv ungerecht zu empfindenden Situation darstellt – und zwar ohne einen Impuls des Aufbegehrens. Daraus ließe sich eine die Lektüre lenkende Autorenintention in den Text einlesen: Wollte Kafka durch dieses Paradox die LeserInnen dazu motivieren, statt des „Mannes vom Lande“ aufzubegehren, ja wollte er sie durch dessen fehlendes Aufbegehren dazu provozieren, das Fehlende in ihrer Realität zu verwirklichen? Günther Anders neigt in seinem Essay dieser Auffassung zu. Auch Elias Canetti spricht in seinem Essay über den Briefwechsel mit Felice Bauer diese Strategie einer Provokation der Lesenden zum verändernden Handeln an, wenn er über Kafkas Charakterisierung der Opfer von willkürlicher Machtausübung schreibt: „… die Ergebenheit der Opfer, denen es gar nicht in den Sinn kommt, eine Möglichkeit anderer Lebensverhältnisse auch nur zu träumen, müßte selbst den zum Empörer machen, den die landläufig abgehaspelten Ideologien, von denen etliche versagt haben, nicht im leisesten berühren.“ 70 Andererseits kann dieses Fehlen eines Protestes gegen das Unrecht, gegen die willkürliche Ausschließung vom „Gesetz“ auch der präzisen Beobachtung sozialer Realität geschuldet sein. Ein Indiz für beide böte die Mitteilung von Max Brod, dass Kafka im Gespräch mit ihm über seine Erfahrungen mit KundInnen der Arbeiter-Unfall-Versicherung geäußert habe: „Wie bescheiden diese Menschen sind. Sie kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten.“ 71 Nicht nur in seiner beruflichen Tätigkeit in der Arbeiterversicherungsanstalt, sondern auch im Geschäft seines Vaters wie in der Asbestfabrik, deren Teilhaber er war, boten sich ihm viele Gelegenheiten zu einer präzisen Beobachtung der sozialen Verhältnisse von – sei es als ArbeiterInnen oder als Angestellte – untergeordneten Menschen. In einem wichtigen Tagebucheintrag vom 5. 2. 1912 unter dem Titel „Gestern in der Fabrik“ schreibt er:

„Gestern in der Fabrik. Die Mädchen in ihren an und für sich unerträglich schmutzigen und gelösten Kleidern, mit den wie beim Erwachen zerworfenen Frisuren, mit dem vom unaufhörlichen Lärm der Transmissionen und von der einzelnen, zwar automatischen, aber unberechenbar stockenden Maschine festgehaltenen Gesichtsausdruck, sind nicht Menschen, man grüßt sie nicht, man entschuldigt sich nicht, wenn man sie stößt, ruft man sie zu einer kleinen Arbeit, so führen sie sie aus, kehren aber gleich zur Maschine zurück, mit einer Kopfbewegung zeigt man ihnen, wo sie eingreifen sollen, sie stehn in Unterröcken da, der kleinsten Macht sind sie überliefert und haben nicht einmal genug ruhigen Verstand, um diese Macht mit Blicken und Verbeugungen anzuerkennen und sich geneigt zu machen.“ 72

c) Reflexion eigenen Befremdetseins: Die Situation des „Mannes vom Lande“ ließe sich vor diesem Hintergrund auch als Reflexion Kafkas über seine eigene Situation in dieser ihn „befremdenden“ Wirklichkeit lesen: Franz Kafka sah sich offenbar selber in der ohnmächtigen Zwischenposition dessen, der einerseits als Angestellter der Arbeiterversicherungsanstalt Teilhaber und Profiteur der Macht ist, andererseits aber ein Teilhaber mit schlechtem Gewissen, das ihn in den Tagebuchaufzeichnungen wie in seiner Prosa immer wieder über die Perspektive der zu Fremden und Ohnmächtigen Gemachten schreiben lässt. Günther Anders betrachtet Kafkas Ästhetik der Ver-fremdung nicht bloß als eine „didaktische“ oder lektüresteuernde Methode der Realitätsdarstellung, sondern beurteilt sie als eine, die aus existentiellen Voraussetzungen hervorgeht: Seine Texte seien – so Anders – entfremdend, weil er selber ein Be-fremdeter war. Günther Anders beschreibt Kafkas Nichtidentität bzw. Nichtganzidentität im Sinne eines ganz und gar modernen, ausdifferenzierten patchwork von Teilidentitäten: „Als Jude gehörte er nicht ganz zur christlichen Welt. Als indifferenter Jude – denn das war er ursprünglich – nicht ganz zu den Juden. Als Deutschsprechender nicht ganz zu den Tschechen. Als deutschsprechender Jude nicht ganz zu den böhmischen Deutschen. Als Böhme nicht ganz zu Österreich. Als Arbeiterversicherungsbeamter nicht ganz zum Bürgertum. Als Bürgerssohn nicht ganz zur Arbeiterschaft. Aber auch zum Büro gehört er nicht ganz, denn er fühlt sich als Schriftsteller. Schriftsteller aber ist er auch nicht, denn seine Kraft opfert er der Familie. Aber ‚ich lebe in meiner Familie fremder als ein Fremder.‘ (Brief an seinen Schwiegervater)“ 73

Nicht als Autor, jedoch als soziale Person trat Kafka aus der Rolle des Beobachtenden und Beschreibenden gegenüber sozialer Ungleichheit und Unterdrückung heraus, nahm Anteil und engagierte sich. Ein Beispiel für sein immer wieder versuchtes soziales Engagement bildet die Schrift „Maßnahmen zur Unfallverhütung“ aus dem Jahr 1910, in der er unmissverständlich den „völligen Mangel an sozialer Einsicht“ beklagt und feststellt, „daß die Stimme der Arbeiterschaft völlig fehlte“. Allerdings weiß er um seine ambivalente Position als Repräsentant der Versicherungsanstalt und darum, dass er wenig an der beobachteten Unrechtssituation ändern kann.

Als Autor glaubte Kafka in dieser ambivalenten Situation durch sein Schreiben einen gewissen Freiraum zu erringen. Der „Trost des Schreibens“ vermittle ihm „das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe“ durch „eine höhere Art der Beobachtung“, durch die er „unabhängiger“ werde: „Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe, Tat-Beobachtung. Tatbeobachtung, indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und je höher sie ist, je unerreichbarer von der ‚Reihe‘ aus, desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg.“ 74

Die präzise Darstellung von Situationen des Ausgegrenzt- und Befremdetseins von Menschen in Franz Kafkas Texten verlöre jedoch ohne die durchgehaltene Ambivalenz in ihren Assoziationen mit einer religiösen Dimension ihre für Kafkas Texte spezifische Bedeutung. Ohne diese bleibende Ambivalenz zwischen sozial und transzendent konnotierter Ausweglosigkeit im Fremdsein würde man das „Janushafte“ (Walter Benjamin) an Kafkas Texten verkennen. Die Situation radikalen Verlorenseins der unterworfenen Menschen ebenso wie das Fehlen jeglichen Aufbegehrens dagegen zeigen den die Texte Lesenden die Abwesenheit von Erlösung an, möglicherweise auch deren Unmöglichkeit – ganz im Sinne von Walter Benjamins Feststellung, dass Kafka im Angesicht ihrer Zerstörung an der „Möglichkeit der Erlösung“ festgehalten hat, ohne ihre Unmöglichkeit zu verschweigen.

Gerade in ihrer unaufgelösten (möglicherweise auch unauflösbaren) Ambivalenz sind religiöse wie soziale Dimension seiner Texte im Gegensatz vereint. Damit komme ich auf meine eingangs formulierte Hypothese zurück, dass die Ästhetik von Franz Kafkas Texten eine der unüberbrückbaren Differenz sei und ihre Eigen-mächtigkeit nicht in ihrer Sinnlosigkeit liege, sondern darin, dass sie einen Sinn erschaffen, der nicht erreichbar ist. Günther Anders hat dieses Paradox in ein eindrucksvolles Bild gefasst, mit dem ich schließen möchte:

„Der ständige Zweifel verhindert, daß er jemals eine Aussage in Thesenform äußert. Und, so absurd das klingen mag: Gerade dieses Ausgeschlossensein von einer eindeutigen Aussage, das ewige ‚Vielleicht, vielleicht auch nicht‘ gibt seinen Aussagen noch die verzweifelte Form von Kunstwerken. (…) Daß seine Versuche und Hilfeschreie ‚künstlerisch‘ wirken, ist der Effekt seines Zweifels und seiner Verzweiflung. Das Gebet des zweifelnden Beters wird zum Gedicht.“ 75

Autor: Josef P. Mautner

 

Verwendete Literatur:

Primär:

Franz Kafka: Der Proceß. Frankfurt/Main 2008.

Franz Kafka: Der Proceß. Roman. Frankfurt/Main 1995.

Franz Kafka: Der Prozeß. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt/Main 1950.

Franz Kafka: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt/Main 2002.

Franz Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß, hrsg. von Max Brod und Hans Joachim Schoeps. Berlin 1931.

Franz Kafka: Tagebücher. Bd. 2: 1912-1914. Frankfurt/Main 1997.

Franz Kafka: Tagebücher, Bd. 3, 1914-1923. Frankfurt/Main 1996.

Franz Kafka: Briefe an Felice. Hg. Von E. Heller und J. Born. Frankfurt/Main 1967.

Testamentszettel: www.komista.de/kafka/testament.html. (Stand: Febr. 2016)

Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. New York (Schocken Books) 1946.

Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II/2. Frankfurt/Main 1980.

Jacques Derrida: Préjugés. Vor dem Gesetz. Wien 1992.

Sekundär:

Günther Anders. Kafka pro und contra. München 1951.

Thomas Anz: Franz Kafka. Leben und Werk. München 1992.

Giliano Baioni: Kafka – Literatur und Judentum. Stuttgart – Weimar 1994.

János Békési: „Denken“ der Geschichte. Zum Wandel des Geschichtsbegriffs bei Jacques Derrida. München 1995.

Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band I/2. Hg. von H. Schweppenhäuser und R. Tiedemann. Frankfurt/Main 1980.

Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Band II, 2. Frankfurt/Main 1980.

Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. Von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Band II,3. Frankfurt/Main 1980.

Walter Benjamin: Briefe 2. Hg. und mit Anmerkungen versehen von G. Sholem und Th. W. Adorno. Frankfurt/Main 1978.

Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. V. (1935-1937) Hg. von Ch. Gödde und H. Lonitz. Frankfurt/Main 1999.

Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. VI. (1938-1940) Hg. von Ch. Gödde und H. Lonitz. Frankfurt/Main 2000.

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Elias Canetti: Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice. München – Wien 1984.

Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek 1988.

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Dagmar Deuring: „Vergiß das Beste nicht!“ Walter Benjamins Kafka-Essay: Lesen/Schreiben/Erfahren. Würzburg 1994.

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Steffen Höhne / Ludger Udolph (Hg.): Franz Kafka. Wirkung und Wirkungsverhinderung. Köln – Weimar – Wien 2014.

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Heinz Politzer (Hg.): Das Kafka-Buch. Eine innere Biographie in Selbstzeugnissen. Frankfurt/Main 1973.

Heinz Politzer (Hg.): Franz Kafka. (Wege der Forschung Bd. CCCXXII) Darmstadt 1973.

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Veröffentlicht in: Richard Faber / Almut-Barbara Renger (Hg.): Religion und Literatur. Konvergenzen und Divergenzen. Würzburg 2017, 151-176.

1 Walter Benjamin zitiert diese Bemerkung Brods in einem Brief an G. Scholem vom 12. Juni 1938; Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. VI. 1938-1940. Hg. von Ch. Gödde und H. Lonitz. Frankfurt/Main 2000, 108.

2 Franz Kafka: Briefe an Felice. Hg. Von E. Heller und J. Born. Frankfurt/Main 1967, 271.

3 Franz Kafka: Tagebücher, Bd. 3: 1914-1923. Frankfurt/Main 1996, 59.

4 Erster Testamentszettel (geschrieben wahrscheinlich im Herbst/Winter 1921): http://www.komista.de/kafka/testament.html (Stand: Febr. 2016).

5 Zweifellos ist Kafkas Literatur so gebaut, dass sie dazu einlädt, die Differenz zwischen Biographie und Literatur zu überspringen. Er selbst spielt damit und bringt beide in ein dialektisches Verhältnis – jedoch ohne die Unterscheidung gänzlich aufzulösen. Charakteristisch für Kafkas Einstellung zu diesem Spiel ist jene Episode, die er selber im Tagebucheintrag vom 27. Januar 1922 überliefert hat: „Trotzdem ich dem Hotel deutlich meinen Namen geschrieben habe, trotzdem auch sie mir zweimal schon richtig geschrieben haben, steht doch unten auf der Tafel Josef K. Soll ich sie aufklären oder soll ich mich von ihnen aufklären lassen?“ (Franz Kafka: Tagebücher. Band 3: 1914-1923, a.a.O., 210.)

6 Franz Kafka: Der Proceß. Frankfurt/Main 2008; im Text durchgängig zitiert als: Der Proceß (die von Max Brod besorgte Ausgabe: Franz Kafka: Der Prozeß. Frankfurt/Main 1950. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Max Brod)

7 Kafka, Tagebücher, Band 3: 1914-1923, a.a.O., 27.

8 Ebda., 42.

9 Vgl. : Malcolm Pasley : Nachbemerkung. In: Franz Kafka: Der Proceß. Roman. Frankfurt/Main 1995, 281/282.

10 Der Text ist in die Romanhandlung eingebunden als „Geschichte“, die der Geistliche während eines Gespräches im Dom dem K. erzählt. (Der Proceß, 226, 2 – 227, 28). Zur Wahl des Prager Veitsdomes als Handlungsraum für dieses Kapitel gibt es mehrfache interpretatorische Zugänge; vgl. u.a.: Bernhard Dieterle: „Warum denn in den Dom?“ Überlegungen zum Dom-Kapitel in Kafkas Der Proceß. In: Manfred Engel / Ritchie Robertson (Hg.): Kafka und die Religion in der Moderne (Kafka. Religion and Modernity = Oxford Kafka Studies 3). Würzburg 2014, 263-278.

11 Siehe: Hartmut Binder: Franz Kafka und die Wochenschrift „Selbstwehr“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 41 (1967), 283-303. Vgl. auch: Hartmut Binder: „Vor dem Gesetz“. Einführung in Kafkas Welt. Stuttgart – Weimar 1993, 4-6.

12 Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. München und Leipzig 1919 (1920 erschienen). In der Kritischen Ausgabe: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt/Main 2002, 211-212.

13 Karlheinz Fingerhut: Annäherung an Kafkas Roman „Der Proceß“ über die Handschrift und über Schreibexperimente, 59, In: Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Nach erneuter Lektüre. Franz Kafkas „Der Proceß“. Würzburg 1992, S. 34-65.

14 Die Bezeichnung als „Geschichte“ taucht im Roman selber unmittelbar im Anschluss an den Text auf (Der Proceß, 227, 30). Im Romantext ist von „Legenden“ im Sinne von nicht beweisbaren Geschichten über verschiedene Prozessverläufe die Rede (im Kapitel „Advokat – Fabrikant – Maler“; Der Proceß, 162, 16ff.)

15 Michael Müller: Erläuterungen und Dokumente. Franz Kafka: Der Proceß. Stuttgart 1993, 42. Michael Müller verweist in diesem Zusammenhang auf einen Aufsatz von Ingeborg Henel: Die Türhüterlegende und ihre Bedeutung für Kafkas „Prozeß“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37 (1963), 50-70.

16 Der Proceß, 226, 1/2.

17 Ebda., 227, 29 – 233, 30.

18 Die Frage nach der „jüdischen“ Prägung von verschiedenen Texten Kafkas (nicht zuletzt der des „Proceß“-Fragmentes) wie auch die nach seinem persönlichen Bezogensein auf „jüdische“ Traditionen spielt in der Kafkarezeption und –interpretation eine wesentliche Rolle. Im Kontext meiner Fragestellung muss diese Perspektive im Wesentlichen unbeachtet bleiben. Ich verweise dazu nur auf einen erhellenden Aufsatz von Manfred Voigts: Entdeckung Kafkas als jüdischer Autor. In: Steffen Höhne / Ludger Udolph (Hg.): Franz Kafka. Wirkung und Wirkungsverhinderung. Köln – Weimar – Wien 2014, 93-100.

19 George Tabori: Die Goldberg-Variationen, 295. In: Ders.: Theaterstücke II. Frankfurt/Main 1994, 295-346.

20 Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. New York 1946, 54ff.

21 Ebda., 63.

22 Schoeps war Brods damaliger Partner bei der Sichtung des Nachlasses sowie bei der Herausgabe der ersten Ausgabe von Kafka-Texten nach dessen Tod im Jahr 1931: Franz Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlaß, hrsg. von Max Brod und Hans Joachim Schoeps. Berlin 1931.

23 Die Wahrnehmung von Kafkas „Religiosität“ wurde in seinem zeitgenössischen Umfeld vielfach umstandslos mit einem Bezogensein Kafkas auf das Judentum identifiziert – ohne dieses Bezogensein in all seiner Widersprüchlichkeit zu realisieren. Kafkas Freund Felix Weltsch schrieb in seinem Nachruf 1924, Kafka sei ein „Jude von tiefster Verbundenheit mit dem Judentum“ gewesen. Siehe: Felix Weltsch: Franz Kafka gestorben, 25. In: Jürgen Born (Hg.): Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924 – 1938. Frankfurt/Main 1983, 25-27. Vgl. dazu auch: Voigts, Entdeckung Kafkas als jüdischer Autor. In: Höhne / Udolph (Hg.): Franz Kafka. Wirkung und Wirkungsverhinderung, a.a.O., 94 ff.

24 Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer, a.a.O., 254.

25 „Der Roman bin ich, meine Geschichten sind ich“, hat Franz Kafka in seinem Brief vom 2. zum 3.1.1913 an Felice Bauer geschrieben: Franz Kafka: Briefe an Felice, a.a.O., 226. Eine bemerkenswerte Lektüre der Briefe an Felice unternimmt Elias Canetti in seinem Essay: Elias Canetti: Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice. München – Wien 1984.

26 Franz Kafka: Der Prozeß. Frankfurt/Main 1950, a.a.O., 224. Der Text für beide „Testamentszettel“ findet sich unter: http://www.komista.de/kafka/testament.html. (Stand: Febr. 2016)

27 Brod, Franz Kafka, a.a.O., 65.

28 Mehrmals verwendet in seiner Kafka-Biographie, auf die ich mich hier hauptsächlich beziehe: Brod, Franz Kafka, a.a.O. (z.B. die Passage S. 212-216).

29 Ebda., 214.

30 Der Proceß, 233.

31 Ebda., 216/217.

32 wie etwa Willy Haas, der in einem 1925 publizierten Aufsatz („Kafkas letztes Werk“; vgl.: Jürgen Born (Hg.): Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924-1938. Frankfurt/Main 1983, 89-92) knapp und verallgemeinernd feststellt: „Er war eine religiöse Macht, wie jeder ganz große Erzähler.“ (zitiert nach: Michael Müller: Erläuterungen und Dokumente. Franz Kafka: Der Proceß, a.a.O., 98) Eine umstandslos religiöse Lektüre von Kafkas „Legende“ setzt sich bis in die Gegenwart fort, wenn sie etwa in einer Website mit Texten zu den jüdischen Feiertagen als „Parabel zum Abschluss des Jom Kippur“ parallel zur Pesikta Rabbati 20 zur Lektüre empfohlen wird; siehe: www.hagalil.com/judentum/feiertage/kippur/neila-6.htm. (Stand: Febr. 2016) Quelle ist „Sefer haTfiloth“, das Gebetbuch für die hohen Feiertage.

33 Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II/2. Frankfurt/Main 1980, 409-438.

34 Siehe: Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Benjamin über Kafka. Frankfurt/Main 1989.

35 Benjamin, Franz Kafka, a.a.O., 410.

36 Ebda., 410.

37 Dies scheint mir durchaus naheliegend – auch ohne eine mögliche, jedoch weit hergeholte Deutung des Namens SCHUWALKIN zu berücksichtigen: nämlich die evtl. herauszulesende Kontraktionsabkürzung mit der ersten und letzten Silbe seines Namens, die sich im Namen des übereifrigen Hofdieners verbirgt: SchuWALkIN. Dagmar Deuring: „Vergiß das Beste nicht!“ Walter Benjamins Kafka-Essay: Lesen / Schreiben / Erfahren. Würzburg 1994, 9f.

38 In seinem Brief an Robert Weltsch vom 9. Mai 1934: Walter Benjamin, Briefe 2, a.a.O., 607 ff.

39 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. Von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Band II, 3. Frankfurt/Main 1980. 1214.

40 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Band II, 2. Frankfurt/Main 1980, 679.

41 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. Von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Band II,3, a.a.O., 1198. Benjamin vergleicht hier Kafka mit Charlie Chaplin, der „Ausgestoßen- und Enterbtsein“ unmittelbar mit „Geldwesen, Großstadt, Polizei usw.“ verknüpft.

42 Schweppenhäuser (Hg.), Benjamin über Kafka, a.a.O., 89/90.

43 Walter Benjamin in einem Brief an G. Scholem vom 12. Juni 1938: Benjamin, Gesammelte Briefe. Bd. VI, a.a.O., 113.

44 Günther Anders hat diese „negative Präzisierung“ zum Prinzip seiner Kafka-Lektüre gemacht: „Kafka ist weder Allegoriker noch Symboliker.“ (Günther Anders, Kafka pro und contra. München 1951, 39ff.).

45 Der Proceß, a.a.O., 226.

46 Siehe: Johannes Urzidil: Da geht Kafka, München 1966, 25.

47 Ebda., 26.

48 Siehe: Gershom Sholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt/Main 1967, 54. Stärker dürfte Franz Kafka jedoch der Bildgehalt von ganz profanen „Türhütergestalten“ beschäftigt haben. Beleg dafür ist eine Tagebucheintragung kurz vor dem Beginn der Arbeit am Proceß-Roman: Kafka, Tagebücher 1914-1923, a.a.O., 30. Vgl. unten: Teil 3 dieses Textes.

49 Der Proceß, 226.

50 Walter Benjamin in dem bereits zitierten wichtigen Brief an G. Scholem vom 12.6.1938: Benjamin, Gesammelte Briefe. Bd. VI, a.a.O., 112.

51 Ebda., 34.

52 La faculté de juger. Colloque de Cerisy. Paris 1985. Der Titel der Originalausgabe des Essays : ‘Préjugés. Devant la loi.’ Die Übertragung ins Deutsche, aus der ich zitiere: Jacques Derrida: Préjugés. Vor dem Gesetz. Wien 1992.

53 Ich erlaube mir, die Paraphrase von Walter Benjamins Parabel zum „Engel der Geschichte“ (die neunte der Thesen „Über den Begriff der Geschichte“) in diesen Zusammenhang zu stellen. (Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. von H. Schweppenhäuser und R. Tiedemann. Band I/2. Frankfurt/Main 1980, 691-704)

54 Ein Beispiel dafür ist die Lektüre des Philosophen Gilles Deleuze und des Lacan-Schülers Félix Guattari in ihrem 1975 erschienenen Kafka-Buch. Für sie ist der Proceß-Roman im Gegensatz zu allen religiös begründeten Interpretationen „die Demontage jeder transzendentalen Rechtfertigung“ (Gilles Deleuze / Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/Main 1976, 71).

55 Von Interesse wäre eine vergleichende Darstellung verschiedener philosophischer Auslegungen des Textes. Ich verweise z.B. auf den mehrfach erwähnten Essay von Günther Anders: Kafka pro und contra a.a.O.). Zum Vergleich von Benjamin und Anders siehe: Josef Mautner: Erlösung?, in: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 1. Mainz 1999, 453-477. Zu einer „poststrukturalistischen Interpretation“ der Erzählung vgl.: Hans Hiebel: Franz Kafka: Form und Bedeutung. Würzburg 1999.

56 Derrida, Préjugés, a.a.O., 26.

57 Ebda., 32.

58 Derrida bezieht sich hier auf eine Formulierung, die Jean-Francois Lyotard in « Instructions paiennes » verwendet; dt. : Heidnische Unterweisungen, in: Ders.: Apathie in der Theorie. Berlin 1979.

59 Derrida, Préjugés, a.a.O., 32. Im Französischen kann die eine Formulierung beides bedeuten: „de me laisser raconter“.

60 Der Essay weist m.E. keine andere als die für Derrida charakteristische Sprachform auf – also die einer freien, nicht an strenge wissenschaftliche Formkriterien gebundenen philosophischen Abhandlung. Derrida orientiert seinen Sprachstil am Verfahren der Dekonstruktion, indem er traditionelle philosophische Begriffe in ein textuelles Netz von unterschiedlichen, häufig einander widersprechenden Voraussetzungen und Querbezügen einspannt; siehe: Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek 1988; János Békési: „Denken“ der Geschichte. Zum Wandel des Geschichtsbegriffs bei Jacques Derrida. München 1995.

61 Dass in der philologischen wie in der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung eines Textes verschiedene Versionen (etwa die unterschiedliche Textgestalt bei verschiedenen Editionen durch den Autor) nicht automatisch in eine Hierarchie der Gültigkeit für eine wissenschaftliche Interpretation eingeordnet werden, sondern einen je eigenen Stellenwert besitzen, sei hier nur ergänzend angemerkt.

62 Derrida, Préjugés, a.a.O., 40.

63 Ebda., 47.

64 Ebenso, wie ich diesen dreien mit meinen eigenen Reflexionen eine weitere Station des Scheiterns in der Kafkalektüre hinzufüge.

65 Der Proceß, 230.

66 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den Ansatz der „subaltern studies“ von Ranajit Guha und v.a. von Gayatri Chakravorty Spivak, die in ihrem Werk präzise analysierte, wie „Unterworfene“ („subaltern“) angesichts eines für sie übermächtigen Systems sprachlos gemacht bzw. ihre Artikulationsformen zerstört werden. Diese Kritik hat m.E. nicht nur in postkolonialen, sondern ebenso in versch. anderen Herrschaftskontexten Relevanz; siehe: Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? In: Cary Nelson / Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Chicago 1988.

67 Der Proceß, 226.

68 Kafka, Tagebücher, Band 3: 1914-1923, a.a.O., 30.

69 Günther Anders: Kafka pro und contra. München 1951.

70 Canetti, Der andere Prozeß, a.a.O., 79.

71 Max Brod, Franz Kafka, a.a.O., S. 103.

72 Franz Kafka: Tagebücher. Band 2: 1912-1914, Frankfurt/Main 1997, 32/33.

73 Anders, Kafka pro und contra, a.a.O., 18. Dieses kurz gefasste Soziogramm ist mit Sicherheit in vielen einzelnen seiner Behauptungen anfechtbar. Allein die bündige Bezeichnung Kafkas als ursprünglich „indifferenter Jude“ ist zweifellos zu kurz gegriffen. Vgl. dazu die eingehenden Studien zum Verhältnis Kafkas zu versch. Strömungen des damaligen Judentums; als Beispiele seien herausgegriffen: Karl Erich Grözinger: Kafka und die Kabbala. Frankfurt/Main 2014 (5. akt. u. erw. Aufl.); Karl Erich Grözinger / Stéphané Moses / Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Kafka und das Judentum. Frankfurt/Main 1987.

74 Tagebucheintrag vom 27. Januar 1922: Franz Kafka: Tagebücher. Band 3: 1914-1923, a.a.O., 210.

75 Anders, Kafka pro und contra, a.a.O., 86.

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