Lintner Martin M. - TheoArt-komparativ

Martin M. Lintner

 

Überlegungen zur Rolle des Sports in der Gesellschaft

Sport ist wert(e)voll!

 

Im Sommer 2016 stehen weltweit gleich zwei große Sportereignisse im Mittelpunkt des Interesses: Vom 10. Juni bis 10. Juli findet die Fußballeuropameisterschaft statt und vom 5. bis 21. August stehen die Olympischen Spiele in Rio im Fokus. Grund genug, sich mit dem Thema „Sport und Werte“ auseinanderzusetzen.

Sie sind Vorbilder“: Mit diesen Worten hat Papst Franziskus am 30. April den österreichichen Skiverband im Vatikan empfangen. In einer kurzen Ansprache lobte er den „großen Stellenwert“ des Skisports in Österreich – und er erinnerte die Sportler daran, dass sie „Integrationsfiguren“ seien, „nicht nur wegen der sportlichen Leistungen, sondern aufgrund der Tugenden und Werte, für die der Sport steht“, darunter Fairness, Teamgeist, Einsatz, Ausdauer, Zielstrebigkeit, Solidarität. Franziskus ermutigte die Sportler: „Seien Sie immer Botschafter der einheitsstiftenden Kraft des Sports und der Aufnahme!“

Wenn man diese Worte des Papstes liest, dann könnte man fast meinen, dass er das Plakat des VSS mit dem Jahresmotto „Sport ist wert(e)- voll“ bei der Hand gehabt hat, wo auch viele Werte genannt werden, die durch Sport vermittelt werden: Verantwortung, Respekt, Bildung, Gesundheit, Frieden, Gewaltfreiheit und viele andere Werte mehr sind dort zu lesen.

Es ist ein wichtiges Motto, das sich der VSS gewählt hat, und interessant, weil vielsagend, ist auch die Schreibweise, dass Sport wertvoll – also selbst einen Wert darstellt – und zugleich voller Werte ist, die er vermitteln kann.

Ich möchte jetzt nicht die philosophischen Grundsatzfragen klären, was ein Wert ist oder wer bestimmen und definieren kann, was einen Wert darstellt, sondern setze folgende These voraus: Werte sind Haltungen und sittliche Güter, die uns helfen, als Mensch und Persönlichkeit

zu wachsen und zu reifen, unsere menschlichen Fähigkeiten und unsere humanen Qualitäten mehr und mehr zu entwickeln und zu vervollkommnen. Im Letzten muss sich ein Wert dann daran bemessen: Hilft er, mehr Mensch zu sein, starke Persönlichkeiten zu formen? Mit den zutiefst menschlichen Erfahrungen, den negativen wie einem Schicksalsschlag oder Misserfolg ebenso wie mit den positiven wie Freude oder Erfolg, gut umgehen zu lernen?

 

Sport zielt auf ganzheitliche Entwicklung eines Menschen

 

In der katholischen Soziallehre wird betont, dass soziale, politische, wirtschaftliche und ökologische Entwicklungen immer auf das Wohl des Menschen hin ausgerichtet sind. Der Sport gehört da zweifelsohne dazu. Und es wird betont, dass diese Entwicklungen immer ganzheitlich zu sehen sind: Einerseits betreffen sie den einzelnen Menschen in seiner Ganzheit, andererseits auch den Menschen in seinen Beziehungen mit anderen Menschen und damit eine Gemeinschaft und Gruppe – letztlich alle Menschen, die in einem komplexen Beziehungsgeflecht zueinander stehen.

Mir scheint, dass damit eine erste Spur gegeben ist, über das Thema „Sport ist wert(e)voll“ nachzudenken: Sport fordert den Menschen immer ganz und richtet das Augenmerk auf den ganzen Menschen als Einheit von Leib und Seele! Es sind die unterschiedlichsten Qualitäten, die gefordert werden: körperliche ebenso wie geistige Fertigkeiten. Deshalb zielt der Sport – wie der VSS-Obmann Günther Andergassen in einem Interview ganz richtig gesagt hat – auf die ganzheitliche Entwicklung eines Menschen, das heißt, auf „die physische (Gesundheit/Fitness), die kognitive (Aufmerksamkeit/schulische Leistung), die motorische (Reaktionsfähigkeit), die psychische (Lebensfreude/Selbstwertgefühl) und die soziale (Sozialkompetenz/Verantwortung) Entwicklung“.

 

Der Sport hat integrative Funktion

 

Der Sport bündelt diese unterschiedlichen Aspekte der menschlichen Persönlichkeit und verbindet sie. Das bedeutet aber – und diese kritische Aufgabe stellt sich immer –, dass der einzelne Mensch nie aus dem Blick verloren werden darf: Was den Menschen wertvoll macht, sind nicht seine Leistungen auf den unterschiedlichen Ebenen, sondern es ist immer der Mensch, der mehr zählt als seine Leistung.

Zu den oben genannten Werten gehören auch jene, die auf Charaktereigenschaften hinweisen, wie Ausdauer, Zielstrebigkeit und andere. Sport dient der Charakterbildung. Der Sport verlangt Übung. Auch gute Charaktereigenschaften erwirbt man nicht einfach im Schlaf, sondern sie bedürfen der Einübung und der Aneignung, so wie sportliches Leistungsvermögen Training braucht. Dem einen fällt es leichter, dem anderen schwerer – aber Übung und Ausdauer brauchen alle. Von nichts kommt nichts.

Auch Charakterbildung braucht Ausdauer, Kraft und Willensstärke, Schwierigkeiten anzupacken und Hindernisse zu überwinden. All das kann man im Sport lernen. Der Sport lehrt einen, dass und wie man über sich hinauswachsen kann.

Zudem sind Werte genannt worden, die auf den zwischenmenschlichen Bereich verweisen: Teamgeist, Fairness, Gemeinschaft. Natürlich kann jeder und jede sich allein sportlich betätigen, aber der Sport lebt immer auch von Gemeinschaft: dass man sich miteinander misst oder als Mannschaft nach Erfolg und Leistung strebt. Gerade hier wird erfahrbar, dass eine Gemeinschaft immer mehr schafft als ein Einzelner allein und dass jemand eingebunden ist in einer Gruppe.

Sportliche Leistung schließlich bereitet nur dann wirklich Freude, wenn sie auch ehrlich erzielt worden ist, wenn sich Sportler also an die gemeinsamen Regeln halten und dem anderen fair begegnen. Dem anderen fair begegnen bedeutet zuallererst, ihn als Menschen wahrzunehmen und nicht – wie vielleicht in den Wettkampfsportarten die Gefahr besteht – nur als Gegner sehen oder ihn auf die sportliche Leistung zu reduzieren. Fairness bedeutet Gerechtigkeit und Gerechtigkeit verlangt immer auch danach, dem anderen gerecht zu werden mit seinen Fähigkeiten, aber auch mit seinen Bedürfnissen. Den Fähigkeiten des anderen gerecht werden bedeutet, dass man zum einen seine Leistungen anerkennt und dass man zum Beispiel nicht durch taktische Regelwidrigkeiten – im Fußball würde man sagen durch ein taktisches Foul – einen Erfolg des anderen unterbindet; zum anderen aber auch, dass man einen Sportler nicht nur auf seine sportlichen Leistungen reduziert. Auch der in einem Wettkampf Unterlegene hat eine Leistung erbracht, die es zu würdigen gilt, und hat das berechtigte Bedürfnis, nicht als Verlierer hingestellt zu werden.

 

Fairness geht über das Fairplay hinaus

 

Die Haltung der Fairness geht jedoch über das Fairplay hinaus. Es verlangt nach einer Grundhaltung dem anderen gegenüber. Es sind soziale Grundhaltungen wie Respekt, Teamgeist, Gemeinschaftssinn, Kooperationsfähigkeit.

Wenn der Sport der Gerechtigkeit dienen will, dann bedeutet das auch, dass die Sportartikel gerecht hergestellt werden: ohne Kinderarbeit, unter sozialverträglichen Arbeitsbedingungen und mit gerechter Entlohnung. Die Sensibilität in diesem Bereich wächst – und jeder Sportverein ist hier im Grund genommen gefragt: Wie werden die Sportartikel, die wir verwenden, produziert? Vom Sportschuh über die Kleidung bis hin zu den Sportgeräten. Was geschieht mit Sportkleidung oder Sportartikeln, die meistens aus hochwertigen Materialien gefertigt sind, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, weil das Kind zum Beispiel wächst und die Kleidung zu klein wird oder weil sie nicht mehr dem neuesten Trend entspricht? Wie viele brauchbare Sachen liegen irgendwo in Schränken oder werden einfach weggeworfen. Hier wäre es sehr sinnvoll, solche nicht mehr benötigten oder benutzten Artikel zu sammeln und Hilfsprojekten zu spenden, damit sie Kindern in den ärmeren Ländern geschenkt werden können. Sie haben

am Sport dieselbe Freude, aber können sich Sportartikel zumeist nicht leisten, nicht einmal Turnschuhe. Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung können hier von ganz unten und bei den Kindern beginnen. Auch das ist eine wichtige pädagogische Funktion des Sports.

 

Sport überwindet Barrieren

 

Sport hat eine integrative Funktion, denn er schließt Menschen ein, nicht aus. Sport hat einen verbindenden Charakter und eine gemeinschaftsstiftende Kraft. Denken wir nur an die internationalen Sportereignisse, an denen Sportlerinnen und Sportler aus vielen Nationen teilnehmen. Sport kann nationale Grenzen und Barrieren überwinden. Sport hat völkerverbindendes Potential. Besonders möchte ich hier an das VSS-Referat für den Sport für Menschen mit Behinderung erinnern. Das ist eine besonders wichtige Aufgabe, auch diesen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nach ihren Möglichkeiten sportliche Aktivitäten zu ermöglichen und sie zu fördern. Bei sportlichen Veranstaltungen können sich Menschen mit und ohne Behinderung begegnen. Hier Verbindungen und gemeinsame Aktivitäten zu organisieren, hat eine wichtige Funktion. Inklusion kann spielerisch vermittelt werden. Kinder ohne Behinderung können lernen, Kinder mit einer Beeinträchtigung zu unterstützen. Auch hier zeigt der Sport eine wichtige pädagogische Funktion. Überall auf der Welt treiben Menschen Sport, vielleicht deshalb, weil der Sport eine Art Spiel ist und Menschen aller Nationen und Rassen Freude am Spiel haben.

 

Sport kann Beitrag für Frieden, Gerechtigkeit und Gesundheit leisten

 

Erlauben Sie mir eine kritische Anmerkung: Der ehemalige Präsident der FIFA, Joseph Blatter, hat einmal – etwas zu vollmundig – gemeint: „Die FIFA ist durch die positiven Emotionen, die der Fußball auslöst, einflussreicher als jedes Land der Erde und jede Religion. Wir bewegen Massen. Das wollen wir nutzen, um mehr Frieden, Gerechtigkeit und Gesundheit auf der Welt zu schaffen.“ Sport ist wohl oft eine Ersatzreligion, aber Heilsangebot ist er nicht; er wird die Welt nicht retten, aber einen Beitrag leisten für Frieden, Gerechtigkeit und Gesundheit kann er allemal.

Für mich war ein bewegendes Bild vor einigen Monaten, wie einige afrikanische Flüchtlinge in Südtirol das erste Mal Schnee gesehen haben und wie ein paar engagierte Mitarbeiter einer Skischule mit ihnen einen kleinen Ausflug auf Skiern unternommen haben. Eine menschlich nette Geste! Es hat mich nachdenklich gestimmt, dass es dabei gleich zu polemischen Reaktionen gekommen ist, und es war wichtig und richtig, dass sich der VSS in einer Presseaussendung hinter diese Initiative gestellt hat.

Hier kann ein ganz wertvoller Beitrag liegen, den die Sportverbände in der derzeitigen Herausforderung der Integration von Asylbewerbern und -bewerberinnen leisten können. Dass man gezielt auf diese Menschen zugeht und sie zu unterschiedlichsten sportlichen Freizeitaktivitäten einlädt. Besonders für die jungen Menschen kann dies ein guter Weg sein, Begegnungsscheu zu überwinden, sozialen Anschluss zu finden, sich gegenseitig kennenzulernen. Natürlich ist viel Bildungs- und Aufklärungsarbeit notwendig, um die Angst vor dem Fremden zu überwinden, aber vieles kann man einfacher lernen, indem man es tut. Darin liegt ein großes Potential des Sports – „learning by doing“. Das gilt auch für die soziale Integration. Der Sport vermittelt also spielerisch und auf eine Weise, die Spaß und Freude macht, wichtige Werte.

Durch Sport können Räume geschaffen werden, wo Menschen einander begegnen, wo sie sich kennen- und wertschätzen lernen, wo sie lernen, wie sie miteinander fair und respektvoll umgehen.

 

P. Martin M. Lintner

 

Zur Person

P. Martin M. Lintner OSM ist Professor für Moraltheologie an der Phil.-Theol. Hochschule in Brixen. Bei der diesjährigen Vollversammlung des Verbandes der Sportvereine Südtirols (VSS) hielt er ein viel beachtetes Referat zum Thema „Werte im Sport“.

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