Langenhorst Georg - TheoArt-komparativ

Langenhorst Georg

 

„... in diesem Namen aber ...“ (Andreas Knapp)

Jesus in literarischen Texten des 21. Jahrhunderts

 

Dem Jesus-Roman ergeht es wie dem Jesus-Film: Beide Formen der künstlerischen Jesus-Rezeption werden immer wieder mit schlüssigen Gründen für beendet, für erschöpft, für ausgereizt erklärt, um allen Verabschiedungen zum Trotz eine bunte Blüte an immer neuen Werken hervorzubringen. Als Karl-Josef Kuschel im Jahre 1978 seine Untersuchung über Jesus in der deutsch­sprachigen Gegenwartsliteratur abschloss, wagte er die Prognose: „Die Zeit der konventionellen, tradi­tionellen Jesusliteratur ist endgültig vorbei“1. Josef Imbach eröffnete einen im gleichen Jahr erschienenen Überblicksartikel zum „Jesusbild in der zeitgenössischen Literatur“ gar mit dem Satz: „Von Jesus ist in der Gegenwartsliteratur nicht übermäßig viel die Rede“2. Und schon 1971 hatte der Altmeister des theologisch-literarischen Gesprächs Paul Konrad Kurz geschrieben: „Der unmittelbare Zugang zu einem historischen, in seiner Umwelt und unserer Denkweise gleichermaßen beheimateten Jesus ging nicht nur den Exegeten und Theologen, sondern auch den Schriftstellern verloren. Darum ist der [...] Jesus­roman zu Ende.“3

Ein Blick auf den literarischen Büchermarkt der letzte Jahre offenbart freilich den eindeutigen Befund: Mehr denn je werden Jesus-Ro­mane geschrieben, verlegt, verkauft und wohl auch gelesen. Offensichtlich entdecken Schrift­stellerinnen und Schriftsteller die Ge­stalt Je­sus von Nazareth immer wieder für jede Generation neu. Dieses Phänomen ist inzwischen breit dargestellt, analysiert und gedeutet worden.4 Die Entwicklungen der letzten 40 Jahre sollen hier nicht wiederholt oder zusammengefasst werden. Der Blick soll sich vielmehr darauf richten, wie Jesus ganz aktuell literarisch weiterlebt, gestaltet wird, erzählerisch und poetisch Profil gewinnt. Wir konzentrieren uns dabei auf die Literatur des noch jungen 21. Jahrhunderts und auf den deutschen Sprachraum.

 

1. Panoramablick

 

Gleich zu Beginn des 21. Jahrhunderts erschien der Roman Der Menschensohn (2001) des Vorarlberger Erzählers Michael Köhlmeier (*1949). Mehrere Jahre lang hatte er an dem ehrgeizigen Projekt gearbeitet, die Ur-Mythen der westlichen Zivilisation neu zu erzählen und so der Gefahr des drohenden Vergessen-Werdens zu entreißen. Nach den Erzählungen um die Gestalten der griechischen Mythologie und den germanischen Sagen nahm er sich die biblischen ‚Mythen‘ vor. Aus dem Jahr 2003 stammt ein voluminöser Band, der die „Geschichten von der Bibel“ von „der Erschaffung der Welt bis Moses“5 zusammenfasst. Es geht Köhlmeier dabei nie bloß um Paraphrase, sondern um kreative Ausgestaltung, um psychologisierende Neuperspektiven, um die dramaturgische Auffüllung von biblischen Erzähllücken. Nicht staubtrockene Belehrung ist sein Ziel, sondern das Erzählen von unterhaltend-spannenden Geschichten, die seine eigene Situation als Leser und Deuter nicht verschweigen und deshalb nicht selten vom Original abweichen. In „Der Menschensohn“ werden nun die Ereignisse um den Mann aus Nazareth aus der Perspektive des Apostels Thomas erzählt. Er, der ‚Zweifler‘, der ‚Ungläubige‘, biete sich in der heutigen Zeit als ideale Erzählfigur an: „Thomas, dieser verzweifelt aufgeklärte Apostel, hat mir eine Geschichte erzählt“ – so Köhlmeier in bewusster Selbststilisierung im Nachwort – „die Geschichte des Nazareners, die unglaublich ist, so unglaublich, dass sie mein Erzähler selbst immer wieder anzweifelt“6.

Köhlmeiers Hinwendung zu Jesus verbleibt insgesamt freilich noch stark im Duktus der narrativen Aktualisierung, ohne zu wirklich starker literarischer Gestaltung zu greifen. Die meisten anderen Romane verfahren anders. Im Gefolge von Luise Rinsers Mirjam-Roman und Gertrud Fusseneggers Sie waren Zeitgenossen – beide aus dem Jahre 1983 und in ihrer je unterschiedlichen Zugangsweise stilbildend ­­­– haben zahlreiche deutschsprachige Autorinnen und Autoren sich literarisch auf die Spur Jesu begeben. Mit eigener Intention und auf völlig unterschiedlichem literarischen Niveau veröffentlichte

  • Philipp Vandenberg Das fünfte Evangelium (1992),

  • Regina Berlinghoff Mirjam (1997),

  • Andreas Eschbach Das Jesus Video (1998),

  • Nikolaus Glattauer Jakobus, der Stiefsohn Gottes (2002),

  • Madeleine Bieri Der Kuss im Garten (2002),

  • Friedrich Ani Als ich unsterblich war (2003),

  • Wolfgang Hohlbein Das Paulus Evangelium (2006),

  • Maria Elisabeth Straub Das Geschenk (2006),

  • Christa Karasch Der Jesuszeuge (2007),

  • Jürgen Wertheimer Als Maria Gott erfand (2008),

  • Uwe Saeger Die gehäutete Zeit (2008),

  • David Safier Jesus liebt mich (2008),

  • Peter Henisch Der verirrte Messias (2009),

  • Klaas Huizing Mein Süßkind (2012),

  • Alois Prinz Jesus (2013) und zuletzt

  • Lena Neumann Mirjam geht fort (2014).

Und damit sind nur die interessantesten Beispiele benannt. Zentral zum Verständnis und zur Einordnung: Diese im Original deutschsprachigen Romane haben Teil an einem internationalen Boom der literarischen Wiederentdeckung Jesu, an dem sich Autorinnen und Autoren von Weltrang beteiligen wie

  • José Saramago Das Evangelium nach Jesus Christus (1991),

  • Gore Vidal Golgatha Live (1992),

  • Norman Mailer Das Jesus-Evangelium (1997),

  • Eric-Emmanuel Schmitt Das Evangelium nach Pilatus (2000),

  • Anne Rice Jesus Christus. Rückkehr ins Heilige Land (2007), Die Straße nach Kanaa (2008),

  • Kathleen McGowan Das Magdalena-Vermächtnis (2006), Das Jesus-Testament (2009),

  • Philip Pullman Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus (2011),

  • Colm Toibin Marias Testament (2014).

und viele andere. Sie greifen zu verschiedenen literarischen Strategien: Mal wird die Jesusgeschichte quasi linear als historischer Roman nacherzählt; häufiger wird der Zugang über eine literarische Spiegelfigur gebahnt; aber auch eine Vielzahl von perspektivischen Zugängen ist möglich. Mal verbleiben die Romane in der Zeit Jesu, dann wieder verbinden sie erzählerisch die Dimensionen von Gegenwart und Vergangenheit oder spielen ganz in unserer Jetztwelt. Mal arbeiten sie stark mit Verfremdung und Parodie, andere bleiben einem realistischen oder legendarischen Erzählton verhaftet. Mal herrschen Ironie, Witz und Satire vor, dann wieder dominieren Ernst und Realismus. Gemeinsam ist diesen in sich völlig unterschiedlichen Romanen einerseits der Versuch, die Bedeutung Jesu für unsere Zeit auszuloten, andererseits die Intention, über Jesus die Gottesfrage zu thematisieren. Schauen wir auf die drei interessantesten und am meisten diskutierten Beispiele aus den letzten Jahren.

 

2. Arnold Stadler: „Gott war ihm abhandengekommen“

 

Oberschwaben: Das ist seine Welt. Die Sehnsucht nach dieser Heimat und überhaupt einer Heimat in diesem Leben prägt sein Schreiben. Die erschriebene Welt freilich ist geprägt von Enge, Borniertheit, Verklemmung, Gehässigkeit und Verlogenheit. Das Erzählen ist eher Qual als Freude, weit eher therapeutische Befreiungsarbeit als harmonisierende Verklärung. „Die kleine Schwackenreuter Passion würde ich das Ganze nennen“, schreibt er im Rückblick in bitterer Selbstironie. „Warum lachte ich nicht?“, fragt sich der nur schwach literarisch verkleidete autobiographische Ich-Erzähler einmal. Zwei Gründe: „Niemals hatte die Madonna gelacht, wo immer sie erschien. Und Jesus selbst [...] hatte man nie lachen sehen.“7 Nein, nicht viel zu lachen hat man in dieser Welt, stattdessen ist von Selbstzweifel, Schuldgefühlen, Depression und Gedanken an Selbsttötung die Rede.

Die Rede ist von dem Georg Büchner-Preisträger des Jahres 1999, von Arnold Stadler. Sein erzählerisches Gesamtwerk wird zentral durch die fiktionale Ausgestaltung eigener Erfahrungen bestimmt. 1954 im ländlich-katholisch geprägten Meßkirch (Baden) geboren, studierte er zunächst Theologie in München und Rom mit dem Ziel Priester zu werden. Da er letztlich zum Priesteramt nicht zugelassen wurde, wandte er sich der Literatur zu. Gleichwohl hinterließen die Welt des im Alltag verwurzelten Katholizimus, die Erfahrungen im Priesterseminar und in Rom, aber auch die theologische Ausbildung tiefe bleibende Spuren, persönlich, wissenschaftlich, literarisch.

Das wird besonders deutlich in seinem 2008 erschienenen Roman Salvatore, konzipiert als Annäherung an das Matthäus-Evangelium, ausgelöst durch die Kinofassung von Pier Paolo Pasolinis großartigem Jesusfilm Il Vangelio secondo Matteo. Außergewöhnlich: Ein Buch (das Evangelium) wurde Film, und wird nun wieder neu und anders zum Buch! Der von der Literaturkritik sehr unterschiedlich aufgenommene, tatsächlich insgesamt ästhetisch kaum überzeugende Roman besteht aus drei völlig eigenständigen, nur lose miteinander verbundenen Teilen. Die ersten Kapitel erzählen von Salvatore, einem grüblerischen, gescheiterten, von väterlicher Seite italienisch-stämmigen Theologen, der über sein eigenes Leben und das seiner Familie nachdenkt: „Salvatore war ein Theologe, der an der Theologie und den Theologen, und ein Mensch, der an den Menschen gescheitert war.“8

Als Salvatore ziellos umherstreifend an einem Himmelfahrtstag ein Plakat entdeckt, auf dem die Ausstrahlung von Pasolinis Jesusfilm angekündigt wird, entscheidet er sich spontan zu einem Kinobesuch. Der Film hat für ihn eine große Bedeutung, nicht nur, weil er seit seiner Erstausstrahlung bei ihm, Salvatore, tiefsten Eindruck hinterlassen hat. Nein, ausschließlich mit Laiendarstellern besetzt, wurde er in unmittelbarer Nähe von jenem kalabrischen Dorf gedreht, aus dem seine väterliche Familie stammt und wo sie zum Teil immer noch lebt. „Im Film hatte seine halbe Verwandtschaft mitgespielt.“9 So erfahren wir, welchen Lebensweg einige der Darsteller genommen haben und wie das Mitspielen in diesem Film ihr Leben verändert hat – oder auch nicht.

Dabei wird deutlich, dass auch der gescheiterte Theologe Salvatore – trotz starker literarischer Eigenständigkeit – ein Sprachrohr seines Verfassers ist. Gott? „Gott war ihm mit der Zeit irgendwie abhandengekommen“10. Getrieben von der Sehnsucht „nach einem Menschen, der ‚du‘ sagte zu ihm. Ihn meinte“11, überträgt er diese Sehnsucht auf Gott, den er selbst wiederum nicht ‚du‘ nennen kann. Wie denn auch? „Salvatore war Gott bisher nicht begegnet und konnte nicht du sagen zu jemandem, den er überhaupt nicht kannte, wenn er sich auch nach ihm sehnte wie nach niemandem sonst“12. Wenn Gott sich aber schon nicht zeigte, dann blieb ihm wenigsten eine letzte, bislang freilich ebenfalls enttäuschte Hoffnung: „Wie er sich wenigstens nach einem Menschen sehnte, der mit Gott per du war! An Gott selbst mochte er gar nicht denken. Es hätte ihm genügt, nur einen Menschen zu haben, der, ohne verrückt zu sein, an etwas glaubte, was gar nicht zu sehen war, ja vielleicht sogar mit ihm sprach.“13 Aber nicht einmal ein solcher Mensch, der für etwas steht und bürgt, das für ihn selbst nie erreichbar wäre oder sein müsste, ist sichtbar.

Diese Erzählung um Salvatore macht ein Drittel des Stadlerschen Buches aus. Im zweiten Teil des Buches wird Szene für Szene der dreiunddreißigteiligen Filmablauf nacherzählt, kommentiert und betrachtet aus Salvatores heutiger Perspektive. Im Schlussteil des Buches finden sich schließlich essayistische Kommentare zum Film, zum ersten Buchteil, über Pasolini, zu Caravaggios Gemälde „Die Berufung des Matthäus“ oder zu weiteren assoziativ eingespielten Gedanken zum Themenkomplex. Stadlers Jesus-Roman hinterlässt so in seiner formalen wie inhaltlichen Zerrissenheit einen ambivalenten Eindruck. Einmal mehr steht dem begabten Erzähler der grüblerische Denker entgegen. Wo der erste eine Geschichte erzählen will und könnte, unterläuft der zweite den Prozess durch ständige Anfragen, Zweifel, Verunsicherungen. Ästhetisch überzeugend ist das Endprodukt kaum. Das ist ganz anders bei zwei ganz anderen großen deutschsprachigen Erzählern, die sich an Jesus heranschreiben.

 

3. Ralf Rothmann: „Von Mond zu Mond“

 

Ralf Rothmann ist nicht nur ein Generationenkollege von Stadler, sondern ebenfalls ein Gegenwartsautor, in dessen Werk den Spiegelungen der katholischen Kirche eine besondere Rolle zukommt. Freilich völlig anders: 1953 in Schleswig geboren, verbrachte Rothmann die ihn prägende Jugend in Oberhausen. Der Vater war im Bergbau tätig, Rothmann selbst schloss nach der Volksschule eine Maurerlehre ab, versuchte sich danach in mehreren Berufen, etwa als Koch, Krankenpfleger oder Drucker. Seit 1976 lebt er eher zurückgezogen als freier Schriftsteller in Berlin, bleibt dem Trubel des Literaturbetriebs möglichst fern. Bekannt wurde Rothmann zunächst vor allem als Erzähler, der eben dieses Aufwachsen im kleinbürgerlichen oder proletarischen Milieu des Ruhrgebiets der 1960er und 1970er Jahre schildert. Präsentiert werden seine Romane fast durchgängig von einer distanzierten Außenperspektive, von jemandem, der alles konkret miterlebt, ohne doch je tatsächlich ganz dazuzugehören. „Das Beiseitestehen und Beobachten ist meine Haltung schon seit der Kindheit“14, so Rothmann dazu im Interview. Dass er religiöse Motive verwenden würde, war zunächst kaum denkbar.15

Seit der Publikation des Gedichtbandes Gebet in Ruinen (2000) kommt dem Nachspüren einer religiösen Tiefendimension jedoch eine neue Bedeutung in seinem Werk zu. In der Verleihungsurkunde zum Wilhelm Raabe-Literaturpreis (2005) etwa wird Rothmann bescheinigt, seine „brillante soziale Feinzeichnung“ sei „einmalig in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“. Einmalig gerade dadurch, dass sie sich „meist untergründig, manchmal auch ins Symbolische gesteigert“, mit religiösen Motiven „berühre und durchdringe“, so dass noch „das kleinste Detail […] eine nahezu sakrale Würde“16 gewinne. Das Religiöse wird also bei Rothmann nicht nur zum Themenfeld, sondern – wenn man diesen Ausführungen folgt – geradezu zu einem literarischen Stilprinzip. Gott, so der Literaturkritiker Hubert Winkels über Rothmanns Werk, „leuchtet fortan in den sozialen Beziehungen und in der objektiven Dingwelt selbst“, Gott ist aus der „vage attraktiven Ferne“ ins „Allernächste geraten“, ja er „ist geradezu der Name für die stille Aufmerksamkeitsbeziehung zum Unscheinbaren“17.

Rothmanns Umgang mit der Bibel lässt sich an einer Erzählung verdeutlichen, die den Rahmen seines Prosawerkes sprengt. In der Erzählsammlung Ein Winter unter Hirschen (2001) findet sich die Geschichte „Von Mond zu Mond“, die als einzige den autobiographischen und zeitgenössischen Kontext des Autors verlässt. Entsprechend irritiert reagierte ein Teil der Literaturkritik, umso mehr, als dass uns diese Erzählung direkt in die Zeit Jesu führt. Ausgerechnet eine Wundererzählung nimmt er sich vor, genauer gesagt die fiktionale Neuschreibung einer der schwierigsten Wundererzählungen des Neuen Testaments überhaupt: die Auferweckung der Tochter des Jairus (Mk 5,21-43).

Dass „Von Mond zu Mond“ eine Jesus-Geschichte ist, ahnt man als Lesender erst allmählich. Rothmann folgt dem Zugang, das Jesus-Geschehen über einen erfundenen Zeitzeugen zu erschließen. Erzählt wird die Geschichte des Hirten Enosch, der im Auftrag des mächtigen Gemeindevorstehers Jairus seinen Esel mit einer Ladung Käse von den Weidegründen zum Gutshof führt. Seine Sorge gilt einem kleinen Hund, der von einer Schlange gebissen wurde. Rothmann schreibt so, dass man vor allem den Sinneseindrücken des Hirten folgt. „Er sah schlecht in letzter Zeit, besonders nachts, aber er hatte Ohren wie ein alter Fuchs und kannte die Schattierungen der Stille.“18 So wird der Weg durch die Nacht vor allem zu einem sinnlichen Erlebnis: das Knacken der Zweige, die Rufe der Vögel, der Klang der Stille, all das wird konkret nachvollziehbar.

In diese Situation hinein werden erste indirekte Hinweise darauf eingestreut, dass wir es mit einer Jesus-Erzählung zu tun haben, die stets aus der Perspektive des Hirten erzählt wird. Über Jairus – der Name lässt bibelkundige Lesende bereits aufhorchen – wird gesagt, dass er ein „Mädchen, zwölf Jahre“ habe, das schwer krank sei, und „es wird ihm doch nicht wieder gesund. Da hilft kein Gott, kein gefiederter Geist“ (89). Enosch, lebenserfahren und weise, glaubt nicht an Wunder. Dass man gerade etwa von einem „Besessenen aus den Grabhöhlen“ erzähle, von „seinem bösen Geist, und wie der in die Schweine gefahren sei“ (89), stimmt ihn eher skeptisch. Derlei hat er schon oft gehört: „Und dann ist es wieder der böse Geist gewesen, den irgendein Prophet in die Säue getrieben hat.“ (90) „Irgendein Prophet“ – so wird erstmals auf Jesus angespielt. Dass man dem nicht trauen dürfe, dass das nichts Besonderes sein könne, wird vorausgesetzt.

Bei Tagesanbruch im Dorf angekommen findet er alle Bewohner in Aufruhr vor. Alle drängen zum Dorfplatz: Geschrei, Lärm, der harte Klang von Knochenflöten! Enosch belauscht zwei Feldarbeiter: „Was für ein fauler Zauber!“ meint der eine. „Berührt sein Gewand und ist geheilt.“ Und der andere „Blutfluss! Von wegen!“ (96f.) Bibelkundige werden den Zusammenhang erahnen, stellt doch Markus in seinem Evangelium das Wunder von der Auferweckung der Tochter des Jairus in einen direkten Textzusammenhang mit der Heilung der blutflüssigen Frau. Rothmann rechnet offenbar mit Lesenden, die diese Zusammenhänge kennen oder herstellen können.

Enosch erfährt, dass die zwölfjährige Tochter des Ortsvorstehers gestorben ist. Auf der Suche nach seinem Auftraggeber gelangt er genau in dem Moment in dessen Wohnraum, in dem Jesus sich über das Kind beugt, das auf einem Lager, einer „Tür auf Böcken“ liegt, „noch blasser als sonst“ (99). Das Mädchen erhebt sich. Der Mann aber – an seiner Sprache erkannt als ein „Nazarener“ mit „dem knochigen Gesicht“, „Mitte der Dreißig“ (100), stets aber namenlos bleibend – blickte „sie an, ohne auch nur ein Lid zu rühren. Als könnte ein Wimpernschlag etwas zerreißen.“ (100)

Um das Wunder zu bezeugen, endet die Erzählung im Markusevangelium mit der Aufforderung Jesu, „man solle dem Mädchen etwas zu essen geben“ (Mk 5,43). So auch hier, denn Rothmann kennt die biblische Wundererzählung sehr genau und setzt sie konkret Punkt für Punkt um. Hier freilich zeigt er auf Enosch, der mit seinem Käse die Szenerie betritt. Er wird derjenige, der dem Mädchen die erste Speise nach der Aufweckung reichen wird. „Ein Wunder“ (101), murmeln die Menschen, bevor ein ungezügeltes Freudenfest ausbricht. Von dem biblisch berichteten „Entsetzen“ (Mk 5,42) ist hier nicht die Rede. Enosch jedoch bleibt der Skeptiker, der er war: „Ein Wunder! Natürlich hatte sie geschlafen, tief, vielleicht sogar der Ohnmacht nahe, und dieser Fremde hatte sie geweckt!“ (102) Enosch ist es recht. So wie „der Nazarener“ aus dem Trubel entweicht, so zieht auch der Hirte weiter – satt, reich belohnt für seine Arbeit, innerlich unberührt. Der Gang der Welt hat sich nicht geändert. Der kleine Hund, sein Augapfel, ist gestorben – keine Wunderheilung hier. Er wirft ihn „den Schweinen in den Trog“ (103).

Während Rothmann mehrere Strukturmomente der biblischen Wundererzählung aufgreift, dramatisiert, psychologisiert und im Rahmen des vorgegebenen Erzählschemas auffüllt (drei gängige Verfahren literarischer Bibelrezeption), weicht er an einer Stelle signifikant von der Vorlage ab. „Talita kum“ (Mk 5,41), so werden im Neuen Testament die Worte wiedergegeben, mit denen Jesus das Mädchen auferweckt, übersetzt dort als „ich sage dir, steh auf“. Möglich, dass Jesus auch hier diese Worte gesprochen hatte, bevor die von uns durch Enosch bezeugte Szene einsetzte. Dann jedoch habe er ihr etwas zugeflüstert, das nur er – und dadurch wir – gehört haben. „Jedem mochte das entgangen sein – ihm nicht.“ (102) Enosch, der ja „hörte wie ein alter Fuchs“ (102), vernahm die Worte „vergib mir“ (102).

Rothmann erzählt diese Wundergeschichte der Bibel von außen kommend nach, aus skeptischer Perspektive, ohne ihr dadurch die Plausibilität zu rauben. Die in den Worten „vergib mir“ angedeutete, weit über die Bibel hinausgreifende Frage, ob ein Leben nach einer solchen Auferweckung sinnvoll, lebenswert, menschlich sein könne, wird nicht beantwortet. Enosch bleibt ein ungläubiger Zweifler. Den Lesenden aber öffnet sich außerhalb der Figurenperspektive die Möglichkeit einer eigenen Deutung. Ein erzählerischer Kniff taucht die Erzählung in den Bereich des Numinosen. Im Titel „Von Mond zu Mond“ wird ein das Geschehen begleitendes Symbol aufgerufen. Die Schilderung wird vor Farben bestimmt, die den Hintergrund bilden und dadurch das vordergründige Geschehen deuten. Die Nacht, so wird anfangs erzählt, war „sternklar und hell wie ein Tag, durch blaues Tuch betrachtet. Dabei war der Mond noch gar nicht aufgegangen.“ (89) Später dann: „Der Mond ging auf, ein riesiges orangerotes Rund, das schnell über die Zypressen stieg.“ (89) Wenig darauf: „Der Mond war jetzt gelb und blass, aber immer noch sehr groß“ (90). Als Enosch an der Quelle einen von Dämonen Geheilten trifft, wird beschrieben wie der „Glanz der Nacht ins Becken fiel“ (90). Die Hand des Fremden fuhr „langsam durch das Wasser“, als „wollte sie etwas von dem Licht herausschöpfen“ (91). Und als der Fremde aufbricht, „betrachtete Enosch das Mondlicht auf dem Wasser, als hätte der dort es vergessen“ (92).

Die Beschreibungen des Mondes erschaffen so eine Dimension, die sich der Greifbarkeit entzieht, öffnen einen Raum jenseits des Erzählten. Kaum zufällig wird auf genau die zuletzt genannte Szene angespielt, als sich Enoschs Blick mit dem des „Nazareners“ ein einziges Mal trifft, als dieser ihn auffordert, der Erweckten zu essen zu geben. „In seinem Lächeln, so schien es, war etwas von dem Mondlicht der vergangenen Nacht“ (100). „Der Nazarener“ und das Numinose des Mondlichts verschmelzen zu einem nicht aufgelösten Hinweis. Als Enosch am Ende der Erzählung in der nächsten Nacht wieder aufbricht, zurück zu seinen Herden, tönt wieder der Ruf eines Nachtvogels in „sehnsuchtsvollen, unsagbar zarten“ (103) Tönen, bald von einem anderen erwidert, und es „klang wie ein Ruf von Mond zu Mond“ (103). – Mit „Von Mond zu Mond“ ist Rothmann ein literarisches Kabinettstück zeitgenössischer Jesusprosa gelungen.

 

4. Patrick Roth: „Niemand wie er“

 

Der reizvollste, gelungenste, am breitesten diskutierte deutschsprachige Beitrag zur boomenden Gattung des Jesusromans stammt freilich von Patrick Roth, auch eher 1953 geboren. Bei ihm geht es weniger um die Inhalte, um das Erzählte selbst, sondern vor allem um das Wie der Annäherung. Wie kann man heute glaubwürdig von Jesus erzählen? Diese Frage wird zum Anlass eines höchst spannenden Schreibprojekts.

Verhüllung im Dienste der Kenntlichmachung

Das in dieser Form in der neueren Literatur vergleichslose Projekt begann 1991 mit Riverside, Untertitel Christusnovelle. Roth erfindet hier einen Zeitzeugen Jesu, den in einer Höhle unweit Bethaniens zurückgezogen lebenden jü­dischen Ein­siedler namens Diastasimos. Die Handlung spielt im Jahre 37 nach Christus. Dia­stasimos (griechisch: der „Abgesonderte“) wird eines Tages von zwei jungen Männern besucht, von den Brüdern Andreas und Ta­beas. Diese wurden vom Apostel Thomas – dem angebli­chen Ver­fasser des apokryphen Thomasevangeliums – ausgeschickt um alle möglichen Augenzeugen des irdischen Wirkens Jesu aufzusuchen, mit dem Ziel, authentisches Material für ein Jesusbuch zusam­menzutragen. Zögerlich entfaltet Diastasimos vor den beiden seine Lebens­geschichte: den plötzli­chen Befall mit Aussatz, einer Krankheit, die er nur als göttliche Strafe empfinden kann, doch wofür? Gerade er habe „diesem Gott“ und „seiner Güte ganz vertraut“19. Gegen die hygieni­schen Gesetze der Zeit, die dem Aussät­zigen strikte Trennung von den Gesunden auferleg­ten, begibt er sich nach Jeru­salem, um dort vor Gott um seine Heilung zu beten. Doch um­sonst! Er verlässt die heilige Stadt im wahrsten Sinne des Wortes „gottlos“ (34).

Seinem zögerlichen Bericht zufolge war der als verbitterter Gottesleugner bekannte Diastasimos eines Ta­ges von Johannes, Judas und Jesus in seiner Aussätzi­genhöhle besucht worden. Gerade ge­gen Jesus, diesen völlig außergewöhnlichen Men­schen – „niemand wie er“ (50) – diesen Menschen, der Gott seinen Vater nennt, diesen Menschen, der ihn, den Aussätzigen, ohne Scheu liebe­voll berührt, ge­rade ge­gen diesen Jesus aber muss Diastasimos aufbegehren. Denn wie passt das zusam­men: die jesuanische Botschaft vom liebenden und erlösenden Gott und die vom gleichen Gott gesandte tödliche Pester­krankung? Jesus verab­schiedete sich von ihm mit den rätsel­haften Wor­ten: „Der mit dir teilt, der ist in dir. Mit ihm teilst du dich.“ (55).

Und Diastasimos erzählt weiter, immer wieder die Besucher auffordernd, ihm doch lieber tatkräftig zu helfen, ihn zu berühren, anstatt nur zu reden und unnütze Informationen abzulau­schen: Die drei damaligen Besucher also seien weitergezogen nach Bethanien, doch von ihm gewarnt, dass sie von römi­schen Soldaten gesucht würden, greifen sie zu einer List. Jo­hannes und Judas gehen voraus, Jesus folgt einige Schritte hinter ihnen, verkleidet als ihr Knecht, einen schweren Holzbalken tra­gend. Sie werden den­noch von den Soldaten ge­stellt und verhört. Gerade als sie trotz ihrer Tarnung erkannt zu werden drohen, reißt Judas eine Peitsche an sich und prügelt den vermeintlichen Knecht Jesus, „den er liebt über sein Le­ben“ bis aufs Blut. „Was geschieht aber hier, dass dieser das Leben seines Herrn, des angebli­chen Gottessohnes, so anders liebt, dass ers fast totpeitscht vor mei­nen Au­gen, nur um es doch noch, wie eben das eines Knechtes, zu ret­ten?“ (81), so der das Ganze durchschauende und den­noch gleichzeitig davon aufs Tief­ste ergriffene Hauptmann.

So rettet dieses letztmögliche Täuschungsmanöver Jesus die Freiheit, doch was er­späht der von fern all dies bezeugende Diastasimos? – Mit Jesu Blut mischt sich Aussatz! Je­sus, der ihn umarmte und ihm zusagte, in ihm selbst zu sein, war selbst aussätzig geworden, ja, „der war nicht nur wie ich an Aussatz, sondern der war ich, Diastasimos“ (83). Und als der von all dem faszinierte römische Hauptmann Jesus mit einer Umarmung aufhilft vom Boden, da er­kennt Diastasimos voll Schrecken und Verwunderung, dass er selbst vom Aussatz geheilt ist! Von Je­sus erfahren wir weiter nichts in dieser Novelle, doch Diastasimos lässt sich in der Höhle, in der er immer noch als vermeintlich Aus­sätziger lebt, von Andreas und Ta­beas un­tersuchen. Sie bezeugen seine vollstän­dige Heilung und erkennen schlussendlich in ihm – er­zähltechnisch durch ge­schickt eingestreute Voraushinweise vorbereitet und dennoch überra­schend – ih­ren langvermissten eigenen Vater.

Im Grunde genommen ist dies die recht einfache Fabel einer Heilungslegende. In der versuchten Inhaltszusammenfassung wird der höchst komplexe Charakter dieses Buches jedoch nur sehr ungenügend wiedergegeben. Das Einmalige des Buches besteht darin, dass nicht eigentlich der erzählte Plot wichtig ist, sondern die Art und Weise der literarischen Präsentation in Struktur und Sprache. Verfremdung über Sprache – das ist Roths ganz eigene Poetologie der Annäherung an Jesus und über Jesus an die Gottesfrage. Er entwirft eine religiöse Mythopoesie. Sie setzt sich aus ungewöhnlich innovativen Dialogsequenzen zusammen, die äußerst raffiniert eine ganz eigene Atmo­sphäre schaf­fen. Sie erwecken nie den Eindruck billiger Legen­denhaftigkeit, bauen vielmehr in ver­fremdender Erzählform einen Spannungsbogen auf, der auch den zwei­fach indirekt vermittelten Bericht von der Begegnung mit Jesus glaub­haft aufnimmt.

Nicht um erklärende Psychologisierung der Ereignisse geht es hier, sondern um dramatische Vergegenwärtigung des Geschehens;, nicht um Historisierung, sondern um Hineinnahme in eine innere Dramaturgie und in ein Tradierungsgeschehen. In seinem 1997 veröffentlichten Buch Meine Reise zu Chaplin wird Roths enge Verbindung zum Film deutlich. Von hierher erklärt sich die von ihm gewählte, an der Filmtechnik geschulte Art des Schreibens in einer Mischung von Schnitt und Überblendung, Zoom und Zeitlupe. Zusätzlich bestimmt wird die so entstehende Atmosphäre von einer völlig ei­genständigen Sprache. Roth verlangsamt das Lesetempo, zwingt zu einem bedächtigem Lesen dieser stark rhythmisierten und bewusst antiquierten Sprache, die an für heutige Oh­ren sperrige Bibelübersetzungen von Martin Luther, Martin Buber oder Fridolin Stier erinnert. Kaum ein ‚normaler‘ Satz, stattdessen lakonische Abbreviationen, widerspenstige Inversionen, halsbre­cherische Hypotaxen und ungewöhnliche Wortverbindungen oder Neuprägungen.

Ist das manierierte Gekünsteltheit, unnötige Ver­rätselung, bloß spielerische Verfremdung? Wie immer man diese Sprache bewertet, sie hat eine notwendige Funktion: Über diese Verfremdung, wird der geschilderte Inhalt erst glaubwürdig. Eine Parabel wie die des Diastasimos ungebrochen zu erzählen, wäre eine eindi­mensional fromm-geistige Übung. Hier aber entsteht Literatur. Über diese Form und diese Sprache wird ein Zugang zu dem möglich, was sich im direkten Zugriff entzieht. „Verhülle dich, denn sie schreiben dich auf“ (14), gibt sich Diastasimos selbst als Motto warnend auf den Weg. Genau darum geht es: Aufschreiben, protokollierendes Notieren, definitorisches Benennen verfälscht tatsächliche Erfahrungen und Erinnerungen – immer wie­der mahnt Diastasimos diese Problematik seinen beiden Besuchern gegenüber an.

Worin aber liegt die Alternative? Sie liegt in der „Verhüllung“, gerade nicht in der so belasteten, stets scheiternden, nur scheinbar offenbarenden „Enthüllung“ – Verhüllung, aber im Dienste der Kenntlichmachung. Das allein bleibt Roth zufolge dem zeitgenössi­schen Schriftsteller, der über Jesus schreibt: er muss seinen Stoff zur Kenntlichkeit entstellen. Wer über einen „niemand wie er“ schreibt, muss eine Form, eine Sprache finden, die diesem inhaltlichen Anspruch gerecht wird. Das aber kann nur durch eine ganz bewusst vollzogene Durchbrechung der üblichen Lesegewohnheiten, durch eine eigenständige Verinnerlichung des Erzählten gelingen. Den feinfühligen, geduldigen, für die Langsamkeit der Sprachwahl sensiblen Lesenden aber wird so eine – fast schon spirituell zu nennende – Be­gegnung mit diesem literarischen Jesus möglich. Nein besser formuliert und vom Autor mit der Gattungsangabe „Christusnovelle“ erspürt: mit Christus! So ist diese Erzählung völlig stimmig nicht im historisierenden Präteritum verfasst, sondern im stets aktuellen Präsens.

An der Grenze des Erzählbaren: Totenerweckung und Auferstehung

Die Novelle Riverside – der nur bedingt passende Titel spielt auf den assoziativ aufgerufenen Gospel „Down by the Riverside“ an – sollte nicht Roths einzige literarische Beschäftigung mit Jesus bleiben. 1993 erschien eine weitere No­velle: Johnny Shines oder Die Wie­dererweckung der Toten. In dieser – laut Untertitel – Seelenrede schildert Roth das Schicksal eines Mannes, der den jesuanischen Auftrag an seine Jünger „Weckt Tote auf!“ (Mt 10,8) zu sei­nem Lebensprogramm machen will. So mischt er sich auf Beerdigungen unter die Trauergemeinden, bricht die Särge auf und befiehlt den Toten aufzustehen.

Wie Schalen einer Zwiebel schält sich seine Geschichte langsam ab, präsentiert in einem imaginären Dialog mit einer rätselhaft bleibenden weiblichen Figur – der Seele, wie es der Untertitel der Novelle anzudeuten scheint? Im Text benennt sie sich einmal selbst: „Deine Begleiterin bin ich. Erinnerin, Muse. Die deine Geschichte weiß, übers Ende hinaus.“20 Im Laufe der Erzäh­lung erschließt sich den Lesernden immer mehr die tragische Lebensgeschichte dieses Mannes im Sinne einer fortschreitenden Selbsterkenntnis: Als 13-jähriger hatte er aus Versehen seine Schwester erschossen und dieses tragische Urerlebnis bestimmte sein weiteres Leben. Sein Vater, ein Pfarrer, hatte die tiefen religiösen Prägungen in ihm festgesetzt. Einige der Geschichten, die sich Johnny Wort für Wort gemerkt hatte, werde hier in dieser Seelenrede aufgenommen. Unter diesen erinnerten Legendenerzählungen der Kindheit findet sich eine seltsame Episode, in welcher der 12-jährige Jesus in die Löwengrube des Daniel gestoßen, dort mit dem gleichaltrigen Judas konfrontiert wird, ihn in einem Streit tötet und wieder zum Leben erweckt. Johnny, fasziniert von solchen Geschichten, nähert sich Jesus bis fast zur Identifikation an. Gerade so kann er – geplagt von den eigenen Schuldgefühlen – den Auferweckungsbefehl auf sich selbst beziehen. Schlusspointe des Romans: Die rätselhafte Dialogpartnerin, gleichzeitig Erzählerin des Romans, entpuppt sich als seine Schwester. Hat Johnnys Totenauferweckung also gerade bei ihr funktioniert? Die LeserInnen bleiben mit dieser Frage zurück.

Erneut legt Roth ein ganz eigenständiges Buch vor – seltsam, unvergleichbar. Doch das literarische Verfahren, das in „Riverside“ funktionierte, vermag hier nicht vollends zu überzeugen. Zu viel der Verrätselung, zu konstruiert die Fabel, zu gesucht die schon zur Masche geronnenen Windungen des Sprachstils. Hauptkri­tikpunkt jedoch: Der gewählten Technik kommt hier nicht unbedingt eine notwendige Funktion zu, sie tendiert hier zum Selbstzweck. Wo in „Riverside“ der Abstand zum historischen Jesus durch die sprachliche Verfremdung überwunden wurde, kreist hier die mystisch-esoterische Sprache um sich selbst und droht in willkürliche Selbstverrätselung abzugleiten.

Ganz anders wiederum im dritten und letzten, dem Mittelteil des in dieser Art ganz einmaligen literarischen Christus-Triptychons: in dem 1996 veröffentlichten Corpus Christi. Roth war sicherlich gut beraten, wieder in die Zeit Jesu zurückzukehren, als er sich das Ziel setzte, ein scheinbar völlig aussichtsloses Unternehmen anzugehen: eine Literarisierung von Ostern, von Auferstehung, ja von ‚Erlösung‘. Als Zugangsfigur zu diesem Roman wählt er – wie nach ihm Michael Köhlmeier – die biblische Gestalt des Zweiflers Thomas. Während die anderen Jünger Jesu nach Ostern an den auferstandenen Herrn glauben, verlangt Thomas – so die noch biblische Ausgangsposition dieses Romans – nach Beweisen. Er will wissen, was mit dem Leichnam Jesu passiert ist. Nur dann könne er, was er im Tiefsten will: diesem Jesus nachfolgen, ja ihm nachsterben. Was ist Glauben, was ist Wissen, „wie können wir, was wahr ist, von Unwahrem trennen“21 – um diese Fragen kreist denn auch dieses Buch. Thomas trifft auf Tirza, eine Frau, die in Jesu leerem Grab angetroffen, von der Polizei verhaftet, schließlich aber wieder freigelassen worden sei. Von ihr erhofft er sich Auskunft. Tatsächlich besteht das Buch erneut fast ausschließlich aus sprachlich in nun schon bekannter Weise verfremdeten Begegnungen von Thomas und Tirza. Doch wo er Faktenwissen will, verweigert Tirza, die sich als Weggenossin Jesu bei seinem öffentlichen Wirken, seinem Sterben und sogar seiner Auferstehung zu erkennen gibt, genau dieses. Tatsachen: „Dahinter musst du, in sie hinein, durch sie hindurch. Hinter die Schrift, mit der sie schreibt, nicht in den Staben hängenbleiben.“ (132)

Die kunstvoll inszenierten Wechselreden zwischen den beiden – mal in Gestalt kurzer Dialoge, mal in langen Monologsequenzen oder fantastischen Traumvisionen – werden ineinander verflochten. Weder Thomas noch die Lesenden vermögen alsbald Realität von Phantasie zu unterscheiden, Fieberwahn von Ereignis, Vision von Erinnerung, Gespräch von Gestammel. Immer tiefer zieht der Strudel der Zumutungen, bis hin zu einer Allversöhnungsvision, in der sich Christus und Satan umarmen. Thomas findet sie letztlich nicht, die Antwort auf die faktische Frage, was mit Jesu Leichnam passiert ist. Doch wie schon in „Johnny Shines“ hat die rätselhafte weibliche Partnerin der Seelenrede auch in diesem Psychodrama eine neue Wirklichkeit aufgerissen, ein neues Verständnis von Wahrheit, in dem Thomas eine auf anderer Ebene liegende Antwort und Einsicht erhält. Ein Leben lang von Schuldgefühlen dem vor der Geburt gestorbenem Zwillingsbruder gegenüber geplagt, erlebt Thomas seine persönliche Befreiung. – In „Corpus Christi“ gelingt Roth erneut ein ganz unglaublicher Zugang zu Jesus Christus. Hier vermischt sich biblisches, esoterisches, gnostisches, mystisches und tiefenpsychologisches Gedankengut zu einem einzigartigen literarischen Amalgam. Paul Konrad Kurz nannte diesen Roman so „die ungeheuerste Auferstehungsgeschichte, die jemals in deutscher Sprache geschrieben wurde“22.

Das Buch Joseph

Sunrise, Patrick Roths 2012 erschienener Roman um den (Stief-)Vater Jesu setzt diese Traditionen fort. Ein einziger Strudel apokalyptischer Bildfolgen, ein Bogen freier Mythen, ein genau kalkuliertes Handlungsgefüge um Joseph wird entworfen, das sich der Zusammenfassung entzieht.23 Es geht zunächst, wie so oft bei Patrick Roth, um die Suche nach einem Grab. Zwei das Grab Jesu suchende ehemalige Jünger finden etwas ganz Anderes: die Ägypterin Neith, die ihnen eine Geschichte erzählt, die sie schließlich bei sich selbst ankommen lässt. Sie enfaltet die Geschichte Josephs, die auch ihre eigene ist. Historie und Erinnerung, Realität und Traum, Vision und Wahn veschwimmen ineinander. So taucht dieser Joseph einmal ab in einen dunklen Traum: Er muss an einem Seil hinunter in eine tiefe Höhle und findet dort ‚Ragebilder‘, Bildnisse seiner jüdischen Vorfahren vom Vater Jakob bis zurück zum Urvater Adam24. Mit diesem beginnt dem Lukasevangelium zufolge der Stammbaum Jesu. Die Erzählung wird so in der Schöpfung am Anfang aller Anfänge verankert.

Inmitten aller Brüche, die Joseph durchlaufen und in grausamer Drastik erleiden muss, gibt es einen Plan, der sich Joseph im Laufe seiner Lebensgeschichte allmählich erschließt. So wie Joseph Jesu Vater wird, indem er die Verantwortung für ihn übernimmt, so wird Gott Mensch, wird Mensch in Jesus und auf eigenartige Weise auch in Joseph. Joseph wird rätselhaft zu einer Art irdischem Schatten Gottes, zu seinem irdischen Ebenbild, das wie dieser – in Anspielung auf Gen 22 – den Sohn schlachten muss um der Erlösung der Menschheit willen. Hier vermischt Roth die Abrahams-Thematik mit der Josephs, mit einem entscheidenden Unterschied: Abraham hatte das Glück, dass der Sohn in letzter Minute bewahrt wurde. Joseph aber muss sich selbst in die Waagschale werfen und einen seiner zahlreichen ‚Tode sterben‘. Dem zuvor erzählten sozialen Tod – Frau und Kind zu verlassen – folgt der physische, wenn auch in kleinen Teilschritten: Joseph verliert zunächst die Stimme, dann das Augenlicht. So wird er – der Gottesträumer – zurückgeworfen auf sein inneres Schauen. Träume erweisen sich in diesem Buch einmal mehr als absolute Realität, die Vergangenes auf Zukünftiges hin deutlich macht. Joseph, der sich selbst auf den göttlich bestimmten Weg einlässt und die ihm zugedachte Rolle übernimmt, entkommt dem Opfer nicht. Er muss am Ende dem eigenen Sohn das Joseph von Arimäthäa zugedachte, dann aber Jesus bestimmte Grab bereiten.

In diesem hochkomplexen, sich immer wieder neu in Tiefen und Höhen drehenden erzählerischen Josephs-Mythos geht es so letztlich um die im titelgebenden Schlussbild des Sunrise, des Sonnenaufgang konzentrierte Versöhnung von Himmel und Erde. Roth zeichnet seinen Joseph völlig anders, als wir ihn aus der Bibel oder aus der christlichen Frömmigkeitsgeschichte kennen, er will offensichtlich etwas Eigenes. Patrick Roths Ansatz versucht erneut ein Gefühl dafür zu wecken, ja: im Lesen erfahrbar zu machen, was das bis heute Faszinierende dieses „niemand wie er“ war und bleibt. Er legt eine Form von Remythologisierung vor, aber nicht verbunden mit der Intention, einen wirklich lebenstragenden Mythos stiften zu wollen, sondern angetrieben von der Möglichkeit einen literarischen Mythos durchzuspielen. Patrick Roth hat keine Scheu, eine mögliche Konsequenz dieser Art von Literatur zu benennen: Er würde sich wünschen, dass sein Buch „den Leser in einen Spannungsprozess stellen könnte, in dem Glaube – vielleicht – wieder erfahrbar wird25“, sagt er im Interview.

Gefragt, ob er einen Anstoß geben wolle, über Glauben ins Gespräch zu kommen, antwortet er abwägend: „Es wäre schön, wenn das gelingen könnte. Aber beabsichtigt ist es nicht.“26 Am Ende des Romans steht der Sonnenaufgang, der SUNRISE, steht die Erkenntnis „Zu Ende das Warten“ (497), steht das Wort „Angekommen“ (498) – drei Schlussbilder, die eine harmonische Rundung mit der Möglichkeit des Neuanfangs verbinden, und doch all die Spannungen und Verstörungen nicht auflösen.

 

5. Jesus-Spuren im Gedicht: Ludwig Steinherr, Ulla Hahn, Andreas Knapp

 

Blicken wir abschließend auf Beispiele aus dem Bereich der Lyrik. Dass es neben der reichen Ernte an Jesus-Romanen eine bunte Palette an Verweise auf Jesus in der Gegenwartslyrik gibt, kann kaum überraschen: Gedicht und Gebet sind zwei Gattungen, die sich immer schon durchdrungen haben. Nur drei Verweise auf neuere explizite Jesus-Gedichte27 sind hier möglich.

Ludwig Steinherr: Menschensohn

Immer wieder haben einzelne Lyriker versucht, die ihnen zentral erscheinenden Aspekte der Jesus-Geschichte in einem Gedicht zu komprimieren. Eine Version aus jüngerer Zeit stammt von Ludwig Steinherr (*1962): Er lebt als promovierter Philosoph und freier Schriftsteller in München. Religion zählt in seinem lyrischen Kosmos selbstverständlich hinzu, wird von Band zu Band immer wichtiger. „Menschensohn“ ist ein mehrteiliges Langgedicht aus dem neuen Band Ganz Ohr (2012) überschrieben, das den Lebenslauf Jesu in heutiger Verfremdung nachzeichnet. So lautet die erste von acht Momentaufnahmen28:

I

Für die Anfangsszene

hat Hollywood alle Recht

Sternenhimmel in Cinematoscope

Ein Steven-Spielberg-Komet

 

Könige mit herangezoomten Make-up-Gesichtern

Im Halbdunkel ein paar

Hirten-Statisten die verwirrt lächeln

 

Alle lieben Baby-Aufnahmen!

 

Der dämliche Ochse

beschlägt mit seinem Atem schon wieder

das Objektiv der Kamera

Ein direkter Zugang zur Bildwelt Weihnachtens ist hier unmöglich. Überlagert von Kitsch, Fernseh- und Filmerfahrungen oder Bildwerken der Kunstgeschichte bleibt nur ein ironisches Spiel mit Motivfragmenten. Diese Geschichte ist übererzählt, ausgedeutet, bis ins letzte durchleuchtet, so lassen sich die Ausführungen lesen. Versprengte Verse rufen versprengte Erinnerungen auf. Mehr nicht. Die Suche nach Sinn und Bedeutung wird in ihre Schranken gewiesen. Am Ende von acht Stationen bleibt nur der Verweis: „Fortsetzung folgt – / in einem anderen / Universum“29.

Ulla Hahn: „... den hab ich geliebt“

Überzeugender ist ein anderer Versuch. Er führt uns zu einer der wichtigsten Lyrikerinnen der Gegenwart, zu Ulla Hahn (*1946). Ihr 2011 erschienener Band „Wi(e)derworte“ entsprang einer reizvollen Idee. Was passiert, wenn man sich alte eigene Gedichte vornimmt und aus heutiger Sicht Gegengedichte, Ergänzungsgedichte, Kommentargedichte schreibt? Wenn man so wieder Worte zu ähnlichen Themen findet, aber eben auch Widerworte? So ist der Band von Ulla Hahn konzipiert: Altes Gedicht steht neben neuem Gedicht, beide kommentieren sich gegenseitig.

Im Band „Liebesgedichte“ (1993) hatte Ulla Hahn einen ergreifenden Text unter dem Titel „Mein Vater“ veröffentlicht. Aus den autobiographischen Bänden der Autorin30 ist bekannt, wie schwer sich Vater und Tochter miteinander taten: hier der einfache Arbeiter, dort das intellektuell und kulturell interessierte Mädchen; hier der müde, abgeschaffte, vor allem seine Ruhe suchende Familienmensch, dort die junge Frau, die so schnell wie möglich fort wollte aus den engen Verhältnissen ihres Zuhauses. Unterschiedlicher geht es kaum. Keine leichte Beziehung. Das Langgedicht erweist sich nun als Zeugnis einer nachgetragenen Liebe, durch alle Belastungen hindurch. Das Bild des schon lange verstorbenen Vaters auf dem Schreibtisch wird zum Anlass, der Beziehung zu ihm nachzusinnen. „Den hab ich gehasst“31, heißt es im Rückblick auf die erlebten Kinder- und Jugendtage, aus heutiger Sicht geschrieben. „Den will ich lieben“ heißt es dann, lieben gegen all jene, die ihm ein solch entfremdetes Leben zugemutet haben, am Ende nur noch getragen von der Hoffnung auf eine neue sozialistische Umgestaltung der Welt. Schatten von Versöhnung am Ende des Gedichtes:

Wer ist das?

fragen meine Freunde

und ich sag:

Einer von uns.

Nur der Fotograf

hat vergessen,

dass er mich anschaut

und lacht.

Soweit das Vater-Gedicht von 1993. Nun, beim Wiederlesen, fällt Ulla Hahn auf, dass es da noch ein zweites Bild über ihrem Schreibtisch gibt, genauso rätselhaft, genauso wenig lächelnd. Das Gedicht „Mein Vater“ steht nun überraschenderweise neben „Mein Gott“32. Für Verblüffung sorgt das Bild Jesu – denn um den allein geht es in diesem Gedicht. Knapp, lakonisch kreativ werden Fragmente seines Lebens heraufbeschworen:

Einzelkind (was den Vater angeht)

reichlich Halbgeschwister

Machte sich aber nicht viel

aus Familie (kleine Verhältnisse

Adoptivvater Zimmermann aufm Dorf)

Kehrte ihr bald den Rücken (säte nicht

erntete nicht und sein himmlischer Vater

ernährte ihn doch) schlug sich

als Wunderheiler durch

mit einem großen Herzen für

die kleinen Leute und einer forschen

Lippe gegen die da oben [...]

Und dann – gesetzt gegen die Dynamik von ‚Hass‘ und ‚Liebe‘ im Vater-Gedicht die Aussage: „Den habe ich geliebt“. Doch dabei – wir wissen es erneut aus den Prosabänden – blieb es nicht. „So viele Vaterunser der Reue und Buße / Vergebene Liebesmüh“. Der Kinderglaube schwand, zunächst ohne Anknüpfung: „Mein Kinderheld fuhr / in den Himmel auf / Ich blieb unten // Da bin ich noch.“ Nun aber wird eine Wiederannäherung möglich. Das gelegentliche Lesen in der Bibel, Gottesdienstbesuche – all das führt zu der Frage nach dem Sinn von Leben, Leiden und Sterben: „Wofür das alles?“

Für den

der fragt

sagt er und lächelt

befreit

von seinem Kreuz

nimmt mich

in seine Arme

flüstert mir ins Ohr:

Irgendwann

stell ich dich meinem Vater vor.

Lass dir Zeit. Ich kann warten.

Mit einem interreligiös geöffneten Ausblick darauf, dass sie dann auch ihre – anderen Religionen zugehörigen – Freunde mitbringen darf (denn: „In meines Vaters Haus / sind viele Wohnungen“) endet das Gedicht. Ein erstaunliches, lyrisch gestaltetes, ironisch gebrochenes, gerade so aber sagbares Credo, in welchem dem eigenen Vater nicht Gottvater, sondern Jesus gegenübergestellt wird. Zwei lyrisch verknappte Geschichten von Nähe und Distanz, von Hass und Liebe, die in Versöhnung enden.

Andreas Knapp: „mit einem Wort gesagt“

Der Lebenslauf von Andreas Knapp (*1958) ist ungewöhnlich: Alles lief auf eine glänzende kirchliche Karriere hinaus: Theologiestudium in Freiburg und Rom, Priesterweihe, Promotion, Tätigkeiten als Studentenpfarrer, als Regens des Freiburger Priesterseminars. Doch dann der Bruch, der bei genauem Hinsehen keiner war, sondern sich untergründig angedeutet hatte. Knapp wendete sich ab von dem vorgespurten Weg in die kirchliche Hierarchie und schloss sich den „kleinen Brüdern vom Evangelium“ an, einer geistlichen Gemeinschaft, die sich dem spirituellen Erbe Charles de Foucaulds (1858-1916) verpflichtet weiß. Mehrere Jahre lang verbrachte er als Armer unter Armen in Frankreich und Bolivien. Seit einiger Zeit lebt er nun in Leipzig, geht dem Brotberuf eines Fabrikarbeiters nach, zugleich ein Priester und Poet, ein Pfarrer und Schriftsteller, ein Arbeiter mit Hand, Stift und Seele.

Auch wenn Andreas Knapp einen historischen Roman schrieb, dazu mehrere geistliche Prosatexte – bedeutsam in künstlerischer Hinsicht ist er vor allem als Dichter. Seine Texte zählen zu den sprachlich eindrucksvollsten Beispielen von spiritueller Poesie in unserer Zeit. Sie sind unmittelbare geistliche Lyrik, immer wieder zentral bezogen auf die Bibel oder das Kirchenjahr, auf Heilige oder auf religiöses Brauchtum. Die Bände bestehen aus Meditationen oder geistlichen Reflexionen, Gedankenpoesie oder lyrischen Gebeten. All das setzt einen religiösen Kosmos voraus und zielt in eine religiös gedeutete Welt hinein.

Aus dem Band Tiefer als das Meer (2005) stammt der folgende Text33, der den Blick auf Jesus wendet:

Jesus Christus

nicht neunundneunzig namen

die den unaussprechlichen

doch nicht benennen

in diesem namen aber

Du selbst bist es

nicht tausend götterbilder

die den unsichtbaren

doch nicht zeigen

in diesem menschen aber

Dein gesicht

nicht in alltagsfernen tempeln

die der unfassbare

doch nicht bewohnt

in diesem leib und leben aber

ist Dein geheimnis wie daheim

nicht formeln und begriffe

die dem unbegreiflichen sich

doch nicht nähern

mit diesen händen aber

berührst Du Deine welt

nicht viele fromme reden

die den unsagbaren

doch nicht verkünden

in dem mann aus galiläa aber

bist Du mit einem wort gesagt

Fünf Versgruppen à fünf Zeilen, ungereimt, zur Andeutung lyrischer Spachlogik in Kleinschreibung gehalten, die nur im direkten Verweis auf Gottes „Du“ im Sinne der Heraushebung zur Großschreibung greifen. Gott bleibt in aller Möglichkeit der Annäherung der Andere, uns eher unähnlich als ähnlich, von Versgruppe zu Versgruppe ausbuchstabiert: „unaussprechlich“, „unsichtbar“, „unfassbar“, „unbegreiflich“, „unsagbar“. Alle Versuche ihn zu fassen, kommen nicht an ihr Ziel: sei es in den 99 schönen Namen Gottes, einer vor allem im Islam beheimateten ästhetisch-spirituellen Tradition; sei es in Bildern, Tempeln, Formeln und Begriffen oder frommen Reden. Doch diese via negativa, diese Annäherung an Gott durch die Aufzählung all der vielen Unähnlichkeiten zwischen Gott und Mensch, wird an einem signifikanten Punkt durchbrochen. Nur an einem Punkt wird seine Gestalt, sein Wesen, sein Du im Sinne einer via positiva deutlich: in Jesus. In „diesem Namen“ lässt sich Gott benennen; in „diesem Menschen“ zeigt sich sein Gesicht; in „diesem Leib und Leben“ lüftet sich Gottes Geheimnis; mit „diesen Händen“ berührt er die Welt; im „Mann aus Galiläa“ ist Gottes Wort konkret fassbar. In Knapps Text findet sich so auf ganz eigene Weise poetisch verdichtet, was das Wort aus dem Johannesevangelium heißt: „Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat“ (Joh 12,45).

 

6. Ausblick

 

Gerade aus theologischer Sicht ist der Befund erstaunlich. Die Jesus-Geschichte regt immer noch und immer wieder neu zu literarischer Phantasie und Kreativität an. Der Mann aus Nazareth und die Frage nach seiner möglichen Bedeutung für heute bleiben spannende Herausforderungen für Schriftstellerinnen und Schriftsteller – sei dies, wie in den hier gezeigten Beispielen, ganz direkt und offenbar; sei es aber auch in unzähligen weiteren Texten verborgen, in Anspielung, indirekt und verborgen.

Bei all dem, was man aus Archäologie und Exegese über diesen Menschen wissen kann; bei all den Möglichkeiten, sich in Fundamentaltheologie und Dogmatik über die Bedeutung seines Lebens und Sterbens zu verständigen – die Sprache der Literatur scheint eine besondere Möglichkeit zu sein, sich diesem „niemand wie er“ anzunähern. Und ihr Reservoire an Ideen, Sprachmustern und Zugängen ist unerschöpflich. Eine gegenwartsbedeutsame Theologie sollte sich in Korrelation zu diesen Texten entwickeln. Vielleicht könnte ihr dann die Fühlung zu den Menschen unserer Zeit besser gelingen. Der Blick auf den Jesus der Literaten: vielleicht könnte er uns – gesprochen mit einem Vers-Paar aus dem Gedicht „Tagesordnung“ von Hans Magnus Enzensberger – dabei helfen zu enträtseln, „warum Gott die Menschen niemals / in Ruhe lässt, umgekehrt auch nicht“34.

 

1 Kuschel, Karl-Josef, Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.11978, München/Zürich 1987, 41.

2 Imbach Josef, Christologische Spurenelemente. Zum Jesusbild in der zeitgenössischen Literatur. In: Miscellanea Francescana 78 (1978) 50-80, 50.

3 Kurz, Paul Konrad, Der zeitgenössische Jesus-Roman. In: ders., Über moderne Literatur III. Standorte und Deutungen, Frankfurt 1971, 174-201, 177.

4 Zum gesamten Thema vgl. ausführlich: Langenhorst, Georg, Jesus ging nach Hollywood. Die Wiederentdeckung Jesu in Literatur und Film der Gegenwart. Düsseldorf 1998; ders., „Niemand wie Er!“ Jesus in der Literatur des 21. Jahrhunderts, in: Jesus von Nazareth. Annäherungen im 21. Jahrhundert (Herder Korrespondenz Spezial: Freiburg 2007), 49-53; ders,: „Ich gönne mir das Wort Gott“. Annäherungen an Gott in der Gegenwartsliteratur. Völlig überarbeitete Neuauflage, Freiburg 2014.

5 Köhlmeier, Michael, Geschichten von der Bibel. Von der Erschaffung der Welt bis Moses. München/Zürich 2003.

6 Köhlmeier, Michael, Der Menschensohn. Die Geschichte vom Leiden Jesu, München/Zürich 2001, 149.

7 Stadler, Arnold, Einmal auf der Welt. Und dann so. Roman. Frankfurt 2009, 216.

8 Stadler, Arnold, Salvatore. Frankfurt 2008, 11.

9 Stadler, Salvatore, 69.

10 Stadler, Salvatore, 29.

11 Stadler, Salvatore, 55.

12 Stadler, Salvatore, 55f.

13 Stadler, Salvatore, 57.

14 Rothmann, Ralf, Ich sehe keinen Anfang und kein Ende. Gespräch mit Steffen Richter. In: Freitag Nr. 31, 28.07.2000.

15 Langenhorst, Georg, „Am Ende ist man religiöser, als man ahnt“. Religion und Konfession im Werk Ralf Rothmanns. In: Jürgen Egyptien, Hg., Literatur in der Moderne. Jahrbuch der Walter-Hasenclever-Gesellschaft Bd. 7 (2010/11), Göttingen 2011, 27-52.

16 Winkels, Hubert, Hg., Ralf Rothmann trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis und die Folgen, Göttingen 2005, 163.

17 Winkels, Wilhelm Raabe, 8f.

18 Rothmann, Ralf, Ein Winter unter Hirschen. Erzählungen. Frankfurt 2001, 87-103, 90. Folgende Seitenangaben im Text.

19 Roth, Patrick, Riverside Christusnovelle. Frankfurt 1991, 28. Seitenzahlen fortan im Text. Vgl. dazu: Kopp-Marx, Michaela, Seelen-Dialoge. Ein Commentary Track zu Patrick Roths Christus-Trilogie. Würzburg 2013.

20 Roth, Patrick, Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten. Seelenrede. Frankfurt 1993, 156.

21 Roth, Patrick, Corpus Christus. Frankfurt 1996, 20. Seitenzahlen fortan im Text.

22 Kurz, Paul Konrad, Die Auferstehung als Psychodrama. Patrick Roths Erzählung „Corpus Christi“. In: StdZ 214 (1996), 497-500, 500.

23 Vgl. Kopp-Marx, Michaela / Georg Langenhorst, Hg., Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth. Von der „Christus-Trilogie“ bis „Sunrise. Das Buch Joseph“. Göttingen 2014.

24 Roth, Patrick, Sunrise. Das Buch Joseph. Göttingen 2012, 42ff. Seitenzahlen fortan im Text.

25 Roth, Patrick, Das Bild unserer Träume. In Badisches Tagblatt 26.5.2012.

26 Roth, Patrick, „Glaube“ als ein Prozess der Treue und des Zutrauens. Gespräch. In: Katholisches Sonntagsblatt 51 (2012), 36f.

27 Vgl. grundsätzlich: Langenhorst, Georg, Gedichte zur Bibel. Texte – Interpretationen – Methoden. Ein Werkbuch für Schule und Gemeinde. München 2001.

28 Steinherr, Ludwig, Ganz Ohr. Gedichte. München 2012, 82.

29 Steinherr, Ganz Ohr, 85.

30 Vgl. Langenhorst, Georg, Wort Gott (2014), 71-84.

31 Hahn, Ulla, Gesammelte Gedichte, München 2013, 372.

32 Hahn, Gedichte, 750-752.

33 Knapp, Andreas, Tiefer als das Meer. Gedichte zum Glauben. Würzburg 2005, 19.

34 Enzensberger, Hans Magnus, Leichter als Luft. Moralische Gedichte. Frankfurt 1999, 86f.

 

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