Langenhorst Georg - TheoArt-komparativ

Gestatten: Gott!

Religion in der Kinder- und Jugendliteratur unserer Zeit

Befund, Deutung und Perspektiven für religiöses Lernen

 

von Prof. Dr. Georg Langenhorst, Augsburg

 

Drei Blitzlichter aus der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur zu Beginn:

  • Im Jahr 2013 erscheint in der bewährten Reihe kinderphilosophischer Foto-Text-Bücher der Band „Was, wenn Gott einer, keiner oder viele ist“? In zwölf Gegensatzpaaren zeigen Oscar Brenifier und Jacques Desprès auf, wie sich die Menschen in den unterschiedlichen Religionen und Denkwelten Gott vorstellen. Auf jeweils einer Doppelseite werden solche Vorstellungen einander gegenübergestellt und kurz charakterisiert. Die für die Buchreihe typischen, futuristisch anmutenden Computergrafiken setzen die jeweiligen Gottesbilder in verfremdende, aber erkenntniserleichternde Illustrationen um. Am Ende des Buches – nach der nicht wertenden Aneinanderreihung verschiedener Vorstellungen – steht die Frage: „Und du?“1 Sie regt Kinder dazu an, sich über eigene tragfähige Gottesvorstellungen selbst Gedanken zu machen.

  • 2015: Die in Zürich und Berlin lebende Judaistin und Literaturwissenschaftlerin Eva Lezzi legt zusammen mit der Fotografin und Grafikerin Anna Adam mit „Beni und die Bat Mitzwa“ den Abschluss einer kleinen dreiteiligen Reihe vor, deren erste Bände „Beni, Oma und das Geheimnis“ 2010 bzw. „Chaos zu Pessach“2 2012 erschienen waren. Geeignet für Kinder ab sechs Jahren nehmen sie uns hinein in das Leben des jüdischen Jungen Beni, der mitten im Alltagschaos einer westlichen Großstadt mit seiner realitätsnah und sympathisch dargestellten Familie einerseits wie andere Kinder auch, andererseits als religiös praktizierender Jude lebt. Unaufdringlich wird all das humorvoll – und gänzlich ohne pädagogisch-didaktische Aufdringlichkeit – erzählt und bebildert, was ein jüdisches Leben in Deutschland heute auszeichnen kann.

  • Und erneut 2015: Der Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis3 des Jahres 2015 wird dem norwegischen Illustrator und Autor Stian Hole verliehen. In seinem für Kinder ab sechs Jahren (aber auch für Erwachsene) geeigneten Bilderbuch „Annas Himmel“4 wagt er sich an eine Auseinandersetzung mit Sterben und Tod, die tröstet – ohne kitschig zu werden; ernsthaft ist – ohne zu überfordern; symbolisch ist – ohne in esoterische Beliebigkeit abzugleiten. In farbintensiven, mal realistischen, mal surrealistischen Illustrationen webt er in die Stunden des Abschieds von der verstorbenen Mutter kindliche Überzeugungen vom Himmel und Jenseits ein. Erinnerungen, Gegenstände, die an die Mutter erinnern, Vorausblicke auf den anstehenden Weg zur Bestattung, Visionen von einem Wiedersehen in einer endgültigen Gemeinschaft: All das wird meisterhaft und zaubergetränkt in wenigen Worten und in immer wieder neu im Detail zu entdeckenden Bildern erzählt. In die stets nur angedeuteten, nie aufgedrängten Sinnangebote werden feinfühlig christliche Vorstellungen mit aufgenommen.

Eines haben diese drei blitzartig aufgerufenen Szenarien gemeinsam: Heutige Autorinnen und Autoren sowohl von Kinder- als auch von Jugendliteratur integrieren religiöse Dimensionen völlig selbstverständlich in ihre Werke. Die Frage nach Gott; die Darstellung einer mehr und mehr pluralen religiösen Landschaft in unserer Lebenswelt; die Auseinandersetzung mit Leiden und Tod – damit sind die drei wichtigsten Themenfelder benannt, innerhalb derer sich Religion in der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur spiegelt.5 Entscheidend zur Einordnung: Religion wird dabei nicht zu einem Hauptfeld dieser Literatur. Bemerkenswert ist vielmehr, dass Religion ein Bereich unter vielen ist, der sich in solchen Texten finden lässt.

1. Religion in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur:

Ein Überblick

Dieser Befund erweist sich vor allem deshalb als so brisant, weil er eben alles andere als selbstverständlich ist. Seit den 1960er Jahren galt für lange Zeit, dass Religion – außerhalb der eindeutig ausgewiesenen katechetischen Literatur der kirchlichen Verlage – im Kinder- und Jugendbuch keine Rolle mehr spielte. Es schien vielmehr so, als habe die Kinder- und Jugendliteratur „seit den sechziger Jahren“ einen „wichtigen Themenbereich verloren: den religiösen“.6 Dafür gab es freilich gute Gründe: Die religiöse Kinder- und Jugendliteratur der 1950er, 1960er und 1970er Jahre war weder ästhetisch, noch pädagogisch, geschweige denn theologisch oder ethisch auf der Höhe der Zeit. Man blieb weitgehend alten Vorstellungen verhaftet, die wieder und wieder aufgekocht wurden, verlor so aber völlig den Kontakt zur gegenwärtigen Lebens- und Lesewelt des Zielpublikums.

In seiner 1968 veröffentlichten Schrift „Zwischen Verkündigung und Kitsch“ kommt der evangelische Religionspädagoge Friedrich Hahn zu einem ernüchternden Ergebnis: Religiöse „Probleme und spezifisch christliche Fragestellungen“ spielten in dem von ihm überschauten Zeitraum „nur eine untergeordnete Rolle“. Und wenn doch, dann geschehe die Auseinandersetzung „in einer diese Probleme verharmlosenden, ja verflachenden Weise“.7 Ähnliche Wahrnehmungen und Wertungen finden sich immer wieder in den Untersuchungen über den Stellenwert von Religion in der Kinder- und Jugendliteratur in den Folgejahren. Der katholische Religionspädagoge Hubertus Halbfas spricht etwa von „steriler Harmlosigkeit und literarischer Inferiorität“ derartiger Werke,8 Gottfried Hierzenberger moniert die Häufung von „Worthülsen und Sprachklischees in religiösen Kinderbüchern“,9 und zahlreiche weitere Beispiele für derartige Äußerungen ließen sich nennen. Religion in der autonomen, nicht kirchlich gebundenen Kinder- und Jugendliteratur – dieses Thema lag für mehrere Jahrzehnte weitgehend brach. Nur konsequent: Es handelte sich im Blick auf die Primärliteratur, im Blick auf die literaturwissenschaftliche Beachtung, aber auch um ein „in der Religionspädagogik vernachlässigtes Thema“.10

Die drei Blitzlichter aus der aktuellen Szene der Kinder- und Jugendliteratur haben schon gezeigt: Dieser Befund gilt heute nicht mehr, im Gegenteil. Spätestens seit Jutta Richters sehr erfolgreichem Kinderbuch „Der Hund mit dem gelben Herzen oder die Geschichte vom Gegenteil“ (1998) betrat mit ‚Gott‘ „ein neuer Protagonist“ die Bühne der Kinder- und Jugendliteratur. Seitdem kann man mit der Berliner Literaturwissenschaftlerin Gundel Mattenklott von einem regelrechten „Boom der Religion in der Kinder- und Jugendliteratur“11 sprechen. Hier „hat sich in den vergangenen Jahren ganz offenbar etwas verändert“, gibt es doch „einen regelrechten Trend zum religiösen Kinder- und Jugendbuch“, so auch die Feststellung im Vorwort der 2007 erschienenen Ausgabe der Zeitschrift „Bulletin Jugend & Literatur“ zum Thema „Und was glaubst du?“.12

Unterschiedlichste Autorinnen und Autoren gestalten auf ganz individuelle Weise ihren Zugang zu Religion. Der Bogen spannt sich weit:13

  • Da finden sich fiktionale Ausgestaltungen von biblischen Erzählungen, sei dies im Blick auf alttestamentliche Themen (etwa Ulrich Hub „An der Arche um Acht“, 2007; Jutta Richter „Der Anfang von allem“, 2008; Heinz Janisch „Wie war das am Anfang?“, 2009; Jutta Koslowski „Ester“, 2011; Linda Wolfsgruber „Arche“, 2013);

  • oder neutestamentliche Stoffe (wie zum Beispiel Alois Prinz „Der erste Christ. Die Lebensgeschichte des Apostels Paulus“, 2007; Arnulf Zitelmann „Ich, Tobit, erzähle diese Geschichte“, 2009; Doris Dörrie „Der verlorene Otto“, 2011; Alois Prinz „Jesus von Nazaret“, 2013; Rose Lagercrantz/Jutta Bauer „Das Weihnachtskind“ 2015).

  • Zudem kann man von wahren ‚Engelscharen‘14 sprechen, die seit den 1980er Jahren die Kinder- und Jugendliteratur bevölkern: offensichtlich deshalb, weil sie die spielerische Möglichkeit der Andeutung von Transzendenz bieten, ohne sich religiös festlegen zu müssen (vgl. Cornelia Funke „Der verlorene Engel“, 2009; Ingrid/Dieter Schubert „Engel braucht Hilfe“, 2009; Sharon Creech „Wie Zola dem Engel half“, 2011; Tohby Riddle „Der Engel aus dem Nirgendwo“ 2012).

  • Völlig eigenständig erfolgt die direkte Auseinandersetzung mit Gott,15 die fast immer in konkrete Problemstellungen aus dem heutigen Lebensalltag eingebettet wird (vgl. nur Johann Hinrich Claussen „Moritz und der liebe Gott“, 2004; Elisabeth Zöller „Lara Lustig und der liebe Gott“, 2006; Danielle Proskar „Karo und der liebe Gott“, 2009; Rafik Schami „’Wie sehe ich aus?’, fragte Gott“, 2011; Marie-Hélène Delval/Barbara Nascimbeni „Wie siehst du aus, Gott?“, 2011; Kitty Crowther „Der kleine Mann und Gott“, 2012).

  • Eine traditionelle Verortung der religiösen Dimension ist die Frage nach dem Sinn von Tod und Sterben,16 häufig gekoppelt mit der direkt benannten Theodizeefrage (vgl. Sally Nicholls „Wie man unsterblich wird“; 2008; Jürg Schubinger „Als der Tod zu uns kam“, 2011; Peter Carnavas „Die wichtigen Dinge“, 2011; John Green „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ 2012; Rosemarie Eichinger „Eine Sonne für Oma“ 2013; Kai Lüftner/Katja Gehrmann „Für immer“ 2013; Marjolijn Hof „Opi Kas, die Zimtziegen und ich“, 2015).

  • Auch in Jugendromanen, in denen Fragen nach Identität, Freundschaft, Liebe oder Schuld im Zentrum stehen17, wird immer wieder auch direkt die religiöse Dimension thematisiert (Björn Sortland „Die Minute der Wahrheit : Roman über die Liebe und die Kunst“, 2005; Blake Nelson „Paranoid Park“, 2006; John Green „Eine wie Alaska“, 2007; Marlene Röder „Zebraland“, 2009; Sarah Michaela Orlovsky „Tomaten mögen keine Regen“, 2013).

In diesen – und weiteren – Themenfeldern bietet die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur zahlreiche reizvolle Zugänge zu Religion in all ihren Erscheinungsformen und Varianten an. Die Art und Weise, wie Religion in der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur dargestellt oder mit eingeschrieben wird, umfasst dabei eine große Spannweite im Blick auf Ernsthaftigkeit und Traditionstreue, Kreativität und Klischeebehaftung, Poetizität und Formwahl. Eine Gewichtung des Befundes wird vor allem von den vorgängigen Wertungsbrillen der Betrachter abhängen: Wer vor allem Bestätigung des kirchlich verfassten Glaubens sucht, wird neben dem Gesuchten18 viel oberflächlich-unverbindliche Synkretismen finden. Wer sich primär für neue herausfordernde Bilder und Vorstellungen19 interessiert, wird neben manchen erhofften Kreativfundstücken viele langweilig-altbekannte Stereotype entdecken.

Zwei thematische Untersuchungen sollen die präsentierten Überblicke exemplarisch vertiefen. Zum einen geht es um die Darstellung von Alterität, in diesem Fall von kinder- und jugendliterarischen Annäherungen an die Weltreligionen. Konkretisiert werden diese Ausführungen durch einen besonderen Blick auf die neueren Spiegelungen des Judentums.

2. Alterität konkret: Literarische Annäherungen an die Weltreligionen

Literatur kann – so der Paderborner Germanist Michael Hofmann – grundsätzlich „als Einübung in die Erfahrung von Alterität und Differenz überhaupt begriffen werden“.20 Es gibt, schreibt er in seiner „Einführung“ in die „Interkulturelle Literaturwissenschaft“ eine „besondere Affinität von Literatur zu Problemen und Möglichkeiten interkultureller Begegnung“.21 Diese Affinität gibt es sicherlich, aber sie erstreckt sich nicht nur auf den Bereich der interkulturellen, sondern eben auch aus auf das spezifische Feld der interreligiösen Begegnung.

2.1 Interreligiöse Öffnungen

Im Rahmen der aufgezeigten neuen Präsenz von Religion im deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuch findet sich nun immer deutlicher eine interreligiöse Öffnung, ein in sich ganz neuartiges Phänomen, das seit etwa 20 Jahren zu verzeichnen ist und mehr und mehr zunimmt. Das Andere, das Fremde tritt hier immer deutlicher ins Blickfeld und spiegelt die immer selbstverständlicher werdende, eben nicht nur kulturelle, sondern auch religiöse Pluralität in den Ländern des deutschsprachigen Raums. Diese Entwicklungen schlagen sich auch im Sachbuchbereich22 nieder, die Konzentration gilt hier aber dem Bereich von Fiktion.

Zunächst fällt eine Reihe von Büchern ins Auge, in denen die Pluralität, das breite Nebeneinander verschiedener Religionen selbst zum Thema wird. In Marie Desplechins Roman „Ich, Gott und Onkel Frederic“ (1994, dt. 1998) führt Christoph mit seinem Onkel Frederic Gespräche darüber, ob es Gott gibt, wenn ja, wie man ihn sich vorstellen kann, und warum es so viele verschiedene Religionen gibt: „Gott hat mich von klein auf fasziniert“,23 gibt Christoph in wenig kindgemäßer Sprache gleich zu Anfang zu erkennen, und diese Faszination lässt er sich auch durch all seine Gespräche mit verschiedenen Bezugspersonen nicht austreiben. Auch im Kinderbuch „Gott zieht um“, das Irma Krauß 2003 veröffentlichte, rückt die religiöse Frage ins Zentrum, freilich auffälliger Weise im Buch einer Autorin, die zwar selbst aus christlicher Tradition stammt, auf das Feld der Religion aber eher aus Distanz denn aus klarer Position zugeht. Der Bau einer Moschee in der Nachbarschaft wird für die Brüder Jörg und Märten zum Anlass, ganz neu über Gott und die Welt nachzudenken. Sie beschränken sich dabei jedoch weitgehend auf die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, die „einen gemeinsamen Gott verehren“, schließlich gilt doch: „Das ist doch derselbe! Gott und Allah. [...] Und die Juden sagen Jahwe.“24 Das Buch schließt mit der Einsicht, dass man Gott – zumindest „kleinen Stückchen von ihm“25 – hier bei uns auf ganz unterschiedliche Weise begegnen kann.

Die Mehrzahl der interreligiös sensiblen Kinder- und Jugendbücher unserer Zeit versucht die Pluralität unserer Gesellschaft auch in eine Pluralität der Erzählperspektiven umzusetzen. Georg Schwikarts Buch „Gott hat viele Namen“, 1993 erstveröffentlicht, erlebte noch bis 2008 Neuauflagen. In ihm erzählen sieben Kinder aus unterschiedlichen Teilen der Welt von ihrem jeweils eigenen Glauben. Die Positionen und Erfahrungen bleiben gleichwertig nebeneinander stehen. Ähnlich in der von Katharina Ebinger herausgegebenen Sammlung von „Fünf Erlebnisse[n] mit den Weltreligionen“, publiziert unter der Überschrift „Mensch sucht Sinn“ (2004), in Victoria Krabbes „Sara will es wissen. Eine Geschichte über die 5 Weltreligionen“ (2008) oder in Christiane Thiels „Mein Gott und ich : Ein Roman über die Weltreligionen“ (2009). Diese Bücher versuchen, die Pluralität der Religionen greifbar und verständlich zu machen, sie narrativ in den Alltag heutiger Kinder und Jugendlichen hinein zu holen. Selbst noch Michael Schmidt-Salomons heftig umstrittenes Provokationsbuch „Wie bitte geht's zu Gott fragte das kleine Ferkel : Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen“ (2007) bestätigt dieses neue Interesse für die Weltreligionen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, auch wenn es alle Religionen ablehnt. Wo die erstgenannten Bücher darauf abzielen, die fremden Welten verständlich zu machen, setzt Schmidt-Salomon darauf, die fremden Welten aller Religionen in ihrer Fremdheit noch zu steigern, um sie letztlich zurückweisen zu können.

2.2 Der Prototyp: Catherine Cléments „Theos Reise“

An einem herausragenden Beispiel kann man dieses neue Interesse der Kinder- und Jugendliteratur für das Nebeneinander der Weltreligionen besonders anschaulich verdeutlichen. Der 1997 erstveröffentlichte Jugendroman „Theos Reise“ der Französin Catherine Clément (*1939) wurde zu einem Welterfolg. Der 700 Seiten starke, insgesamt mit religionswissenschaftlichem Bildungswissen schwer befrachtete „Roman über die Religionen der Welt“ stellt uns in der Rahmenhandlung als Identifikationsfigur Theo vor. Theo ist 14 Jahre alt, Sohn einer griechisch-französischen Familie, wie selbstverständlich befreundet mit einer Schwarzafrikanerin, nicht-religiös erzogen, verwurzelt in einem kritischen, wissenschaftlich orientierten Weltbild – und in dieser Mischung ein Vertreter heutiger jugendlicher Lesender. Theo erkrankt an einer rätselhaften und lebensbedrohlichen Krankheit, für welche die europäische Schulmedizin kein Heilungsmittel kennt. In dieser Situation nimmt sich seine Tante Marthe seiner an, eine Millionärin und erfahrene Weltreisende. Sie hofft, dass er auf einer Weltreise zu den zentralen Entstehungs- und Wirkungsstätten der großen Religionen Heilung finden kann. Die Reise führt die beiden in alle Kontinente (bis auf Australien) und zu allen zentralen Stätten der Weltreligionen, die Theo neugierig und kritisch zugleich kennen lernt. Am Ende hat Theo ein belastendes Familiengeheimnis aufgedeckt: Die vor ihm geheim gehaltene Zwillingsschwester starb bei seiner Geburt. Er selbst aber ist von seiner Krankheit tatsächlich genesen.

Zahlreiche konzeptionelle Entscheidungen verhindern, dass der insgesamt zu stark bildungsüberladene, zu stark didaktisierte Roman letztlich dennoch gelingt.

  • Verzicht auf den Versuch einer objektiven Schilderung der Religionen, statt dessen subjektiv vermittelte Eindrücke durch Begegnungen mit Vertretern dieser Religionen – wobei es sich transparent eingestanden durchweg um dialogoffene Repräsentanten handelt: „Ich lern immer nur die Besten kennen, nie die Schlimmsten“, erkennt Theo, worauf seine Tante zu bedenken gibt: „Die Schlimmsten würden auch nicht mit dir reden. Sie würden keinesfalls hinnehmen, dass jemand alle Religionen zugleich verstehen will.“26 In Bezug auf die Darstellung der Einzelreligionen ist diese literarische Vorentscheidung nachvollziehbar. Aber: Hilft die Ausblendung der intoleranten Aspekte?

  • Polyperspektivität: Sämtliche Religionen werden aus mehr als einer Perspektive dargestellt. Unterschiedliche Gläubige betonen unterschiedliche Aspekte, und sowohl Theo als auch seine Tante kommentieren und fragen auf je eigene Weise. Diese Breite der Darstellung lässt Raum für differenzierte Zugänge.

  • Kulturelle und gesellschaftliche Verankerung: Die Religionen werden nicht als zeit- und raumlose Phänomene dargestellt, sondern angebunden sowohl an die jeweilige gesellschaftspolitische Gegenwart der Kernländer, als auch an geographische und historische Gegebenheiten zur Gründungszeit sowie im Laufe der Geschichte. Interkulturalität und Interreligiosität durchdringen einander.

  • Zurückhaltung in Wertung und Hierarchisierung der Religionen untereinander zugunsten einer grundsätzlichen Achtung der Glaubensüberzeugungen. Die jeder Religion inhärente Wahrheitsfrage wird als unbeantwortbar zurückgewiesen. Diese Vorgaben sind zwar gut gemeint, lassen Jugendlichen aber nur die Alternative des brav-folgenden Abnickens dieser Position oder die der eigenen Abweichung. Kann man Toleranz ‚verordnen’?

  • Durchgängig positive Bewertung der Grunddimension „Religion“. Religionen spielen nicht nur für ihre jeweiligen Repräsentantinnen und Vertreter eine wichtige lebensgestaltende Rolle, die Begegnung mit diesen Religionen führt zudem zu einer letztlichen Gesundung des Protagonisten Theo.

Bei all den gelungenen Aspekten darf nicht verschwiegen werden, dass die pädagogische Absicht dieses „Roman-Sachbuchs“27 nicht nur die erzählerische Phantasie in enge Grenzen gießt, sondern auch den Grundeindruck trübt. Wenn das Miteinander der Religionen so harmonisch ist, wo liegt dann das Problem? Wenn alle Religionen im Kern so gut sind, warum dann die endlose Geschichte der Religionskriege? Wenn man die Religionen so objektiv und gleichberechtigt wie Theo erleben kann, warum dann die Notwendigkeit zur Entscheidung zu einer eigenen lebenstragenden Religion?

2.3 Anfänge einer deutsch-muslimischen Kinder- und Jugendliteratur

Erst ganz allmählich bildet sich eine literarische Tradition aus, die man die neue „deutsch-muslimische Literatur“28 nennen kann. Wie in der ‚Erwachsenenliteratur‘ finden sich auch in der Kinder- und Jugendliteratur erste vorsichtige Aufbrüche. Maria Regina Kaiser schildert bereits 1999 in dem Jugendbuch „Wohin ich gehöre“ anhand des Schicksals der 16jährigen Gülten den Konflikt von deutschtürkischen Mädchen zwischen zwei Kulturen, die hier freilich noch wenig religiös geprägt werden. Karin König hatte schon 1988 in „Oya : Fremde Heimat Türkei“ diesen interkulturellen Konflikt im Medium Jugendbuch nachhaltig thematisiert. Vor allem in Randa Abdel-Fattahs Roman „Und meine Welt steht Kopf“ (2007), dann auch in Aygen-Sibel Celiks Romanen „Seidenhaar“ (2007) und „Seidenweg : Sinems Entscheidung“ (2012) werden diese interkulturellen Konflikte – auffälligerweise ausschließlich aus der Sicht von Mädchen – weitergeschrieben, immer wieder auch mit nicht im Zentrum stehenden Seitenblicken auf spezifisch religiöse Fragen. Ganz offensichtlich scheut die zarte Pflanze der deutsch-muslimischen Literatur auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur – zumindest zunächst – eine Konzentration auf religiöse Fragestellungen.

Zwei Seitentraditionen gehen hier eigene Wege. In der ersten erfolgt der Zugang zur Beziehung von Islam und Christentum im Medium des historischen Romans, oft im Sinne der trialogischen Verbundenheit der drei abrahamischen Religionen29 mit Seitenblicken auf das Judentum. Kirsten Boies „Alhambra“ aus dem Jahr 2007 kann hier genauso genannt werden wie Mirjam Presslers Lessing-Neuadaptation „Nathan und seine Kinder“ (2009) oder Titus Müllers Roman „Der Kuss des Feindes“ (2012). In der Rückprojektion in die Vergangenheit lassen sich explizit religiöse Fragen offensichtlich leichter in Romanhandlungen integrieren, weil die doppelte strukturelle Fremdheit von Raum und Zeit dann auch die Fremdheit von Religion aufnehmen kann. Über den Islam heute und hier wird dabei nichts gesagt.

Das ist ganz anders bei der zweiten hier zu nennenden Nebenlinie. Auf der anderen Seite liegen nämlich erste Bücher vor, in denen eine Art Einweisung in die religiöse Welt des Islam sich der Narration bedient. In einer ersten Welle wurden solche erzählerischen Einführungen in den Islam aus der objektiven Distanz der Religionswissenschaft präsentiert, vorgelegt von aus dem Christentum stammenden und um interreligiöse Verständigung bemühten Autorinnen und Verfassern. Georg Schwikarts Kinderbuch „Julia und Ibrahim“ aus dem Jahr 1993, versehen mit dem Untertitel „Christen und Muslime lernen einander kennen“, gehört in diese Kategorie, später Monika Tworuschkas Bücher wie „Mohammed : Die Geschichte des Propheten“30 (2000) oder „Der geheimnisvolle Besucher“ (2001), dann Michael Landgrafs „Salam Mirjam : Eine Begegnung mit dem Islam“ (2008). 2015 erschien ein weiterer Versuch älteren Kindern und Jugendlichen „das unbekannte Leben des Propheten“ zu erschließen, so der Untertitel des Buches „Mohammed“ des Islamwissenschaftlers Lorenz Just. Das Problem all dieser Bücher: Sie nehmen fiktionale Elemente auf und mischen diese mit der Gattung des Sachbuches. Das Ergebnis ist jedoch eher ein ‚weder – noch‘ als ein ‚sowohl – als auch‘. Sie wecken das Bedürfnis nach beidem: nach guten Sachbüchern und guten Jugendromanen. Beiden Ansprüchen genügen sie nicht. Deshalb bleibt ihr Einsatz sowohl in der Lese- und Vermittlungspraxis auch gering.

Inzwischen haben muslimische Verfasserinnen und muslimische Verlage selbst diese Idee aufgegriffen. Der seit 2010 aktive Freiburger Salam Verlag etwa setzt sich – so die zwischenzeitlich im Internet lesbare Verlagsauskunft – explizit das Ziel, „die religiöse Erziehung von muslimischen Kindern in Deutschland zu vertiefen“ und dabei „die freie und ästhetische religiöse Erziehung zu fördern“. In Nadia Doukalis Buch „Muhammad, Prophet des Friedens“ oder Bärbel Manaar Drechslers „Yusuf, der Prophet“, beide 2011 publiziert, findet sich so eine Art erzählerische Einweisung in die religiösen Grundlagen des Islam, die der explizit katechetischen Literatur des Christentums gleichen. In der unmittelbaren Wissens-Vermittlung mögen sie ihr Potential entfalten, literarisch bleiben sie bemüht und wenig bedeutsam.

Bei Autorinnen und Autoren, die eher aus literarischem denn aus katechetischem oder pädagogischem Interesse von muslimischem Hintergrund aus Kinder- und Jugendliteratur schreiben, steht die kulturelle Differenz im Vordergrund. Das Andere, das Fremde, das literarisch näher gerückt werden soll, definiert sich im derzeitigen Mainstream muslimisch-deutscher Kinder- und Jugendliteratur also vor allem kulturell. Spannend zu beobachten, ob sich diese Tendenz künftig bestätigen wird.

2.4. Zögerliche Annäherungen an fernöstliche Religionen

Nur ganz selten rücken nicht-monotheistische Religionen in den Blick der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur. Die fernöstlichen Religionen etwa sind so radikal fremd und andersartig, dass die Verfasserinnen und Verfasser von Kinder- und Jugendbüchern sich nur selten an diese Welten heranwagen. Peter Dickinsons Roman „Die Dämonen von Dong Pe“ (2005) blieb so wie schon zuvor Nina Rauprichs „Die Trommler von Bhaktapur“ (1995) eine Ausnahme in der literarischen Annäherung an die Welt von Hinduismus und Buddhismus.

Das Problem einer authentischen Annäherung an eine so fremde Welt löst ein hier exemplarisch genannter jüngerer Roman sehr geschickt. Der Amerikaner Jordan Sonnenblick präsentiert in seinem gut geschriebenen Jugendroman „Buddha-Boy“ (2012) eben nicht die Erlebnisse und Erfahrungen eines echten Buddhisten, sein jugendliche Protagonist San Lee gibt vielmehr nur vor, Buddhist zu sein. Die Anerkennung, der sehnsüchtig angestrebte Prestigegewinn bei der Peergroup ist ihm so gewiss. Tatsächlich verfügt aber auch er nur über angelesenes Wissen über diese ihm letztlich fremde Religion. Sprüche und Einsichten, aber auch praktische Elemente des Buddhismus werden so geschickt in den Roman eingespeist, aber immer nur aus zweiter Hand. Ein Lehrer steckt ihm Zettel mit Informationen über den Buddhismus zu, um sein rudimentäres Wissen aufzufüllen: „Weißt Du, San“, erklärt er im Nachhinein, „ich war wirklich von deinem Wissen über den Buddhismus und vor allem den Zen-Buddhismus beeindruckt“. Er, der Lehrer, habe vor Jahrzehnten in einem Zen-Kloster in Japan „meditiert“ und begonnen, „sich für Zen zu interessieren“31. Doch auch er, der Lehrer, kannte den Buddhismus nur durch Zugänge von außen. Wir Lesende erfahren also durchaus Wissenswertes über die fremde Welt des Buddhismus, authentisch kann und muss dieses Wissen aber angesichts der Konstruktion des Romans nicht sein.

2.5 Deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur im Zeichen der Shoa

Eine Religion ragt aktuell aus der Thematisierung in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur heraus: das Judentum. Die „Jüdischkeit“32 kann sich in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur in sehr unterschiedlicher literarischer Form und mit sehr unterschiedlichen Intentionen und Schwerpunktsetzungen zeigen.33

Erste Beobachtung: Selbstverständlich setzt sich die Reihe der auf die Zeit des Nationalsozialismus konzentrieren Jugendbücher34 fort. Wenn vom Judentum literarisch die Rede ist, dann weiterhin häufig im Kontext der Shoa. Ungezählt sind all die teils auf authentischen Erfahrungen beruhenden, teils rein fiktionalen Bücher über Anne Frank und Janusz Korczak, über das Leben und Sterben oder Überleben jüdischer Kinder und Jugendlicher in den Jahren zwischen 1933 und 1945. Viele davon sind Übersetzungen aus anderen Sprachen: Als Beispiele aus neuerer Zeit seien nur genannt:

  • Karlijn Stoffels, „Mojsche und Rejsele“ 11996 (Weinheim/Basel : Beltz, 1998)

  • Morris Gleitzman, „Einmal“ 12006 (Hamburg : Carlsen, 2009)

  • ders., „Dann“ (Hamburg : Carlsen, 2011)

  • ders., „Jetzt“ (Hamburg : Carlsen, 2012)

  • Bernice Eisenstein, „Ich war das Kind von Holocaustüberlebenden“ (Berlin : Berlin Verlag, 2007)

  • Rutka Laskier, „Rutkas Tagebuch : Aufzeichnungen eines polnischen Mädchens aus dem Ghetto“ 12007 (Berlin : Aufbau Verlag, 2011)

  • Anne C. Voorhoeve, Liverpool Street” (Ravensburg : Ravensburger Verlag, 2008)

  • Dies., Nanking Road” (Ravensburg : Ravensburger Verlag 2013)

  • Monika Helfer/Michael Köhlmeier, „Rosie und der Urgroßvater“ (München : Carl Hanser Verlag, 2010)

  • Iwona Chmielewska, „Blumkas Tagebuch : Vom Leben in Janusz Korczaks Waisenhaus (Hannover: Gimpel, 2011)

  • Irene Cohen-Janca/Maurizio A. C. Quarello, „Annes Baum“ (Hildesheim : Gerstenberg Verlag, 2011)

  • Irma Krauß, „Ein Versteck im Himmel“ (München : cbj, 2011)

  • Juri Orlev, „Ein Königreich für Eljuscha“ (Weinheim/Basel : Beltz, 2011)

  • Mirjam Pressler: „Ein Buch für Hanna“ (Weinheim/Basel : Beltz, 2011)

  • Ina Vandewijer: „Wie ein Stein in mir : Roman“ (Mannheim : Sauerländer 2011)

  • Adam Jaromir/Gabriela Cichowska: „Fräulein Esthers letzte Vorstellung : Eine Geschichte aus dem Warschauer Ghetto“ (Hannover : Gimpel, 2013)

  • Irène Cohen-Janca/Maurizio A. C. Quarello: „Die letzte Reise : Janusz Korczak und seine Kinder“ (Berlin: Verlagshaus Jacoby & Stuart 2015)

  • Marina B. Neubert: „Bella und das Mädchen aus dem Schtetl : Roman (Berlin : Ariella Verlag, 2015)

Von der Shoa, von ihrer bis heute prägenden Geschichte immer wieder neu zu erzählen, gehört zu den grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit der deutschen Geschichte. Der Blick auf das ‚fremde‘ Schicksal jüdischer Kinder und Jugendlichen in dieser Zeit kann und muss dazu verhelfen, die deutsche Geschichte auch aus der Perspektive der Opfer sehen zu lernen.

Aus religionspädagogischer Sicht zeichnen sich in der Konzentration auf die Shoa jedoch zwei Gefahren ab: Zunächst fördert diese Konzentration im Blick auf das Judentum ungewollt den Eindruck, das Judentum in Deutschland sei primär eine Dimension der Vergangenheit. Das religiös und kulturell Fremde bleibt eben auch historisch fremd, rückt zumindest zeitlich nicht nahe. Marina Neuberts neuestes Buch „Bella und das Mädchen aus dem Schtetl“ (2015) zeigt hier einen Ausweg, indem es die damalige und heutige Zeitebene verbindet. Zum Zweiten wird jedoch die Tendenz deutlich, das Judentum seiner spezifisch religiösen Bedeutung zu entkleiden. In Büchern wie Myron Levoys international weit verbreitetem „Der gelbe Vogel“ (1977), aber auch in Henning Pawels „Schapiro & Co : Jüdischer Geschichten für die Enkel der Großväter“ (1992) oder Monika Helfer und Michael Köhlmeiers Erzählung „Rosie und der Urgroßvater“ (2010) bleibt die spezifisch religiöse Dimension fast unerwähnt.

2.67. Religiöse ProfilierungSkizzierungen des Judentums

Einige neuere Kinder- und Jugendbücher setzen dagegen einen bewusst anderen Schwerpunkt, der gerade aus religionspädagogischer Perspektive besonders reizvoll wird. Ihnen geht es unter anderem um die explizite Sichtbarmachung des heute hier im deutschen Sprachraum gelebten Judentums, das sich zumindest auch religiös definiert. Konzentrieren wir uns auf solche Bücher, die nicht ausschließlich pädagogisch oder didaktisch intendiert sind35 und sich auf das Judentum konzentrieren.

Schon in Peter Sichrovskys Jugendroman „Mein Freund David“ (1990) werden bewusst viele Einzelheiten über Religion, Feiertage oder den Sabbat miterzählt. Der „junge Leser“ könne hier „einiges über jüdische Tradition und Kultur erfahren“, heißt es iauf dem Klappentext. Ein Anhang mit „Wörter[n], die ihr vielleicht noch nicht kennt“,36 soll das Verstehen erleichtern. So soll das bei uns gelebte Judentum Kindern und Jugendlichen erzählerisch näher gebracht werden, jüdischen, vor allem aber nichtjüdischen. Ganz ähnlich in einem zweiten Kinderbuch der 1990er Jahre. Der Klappentext von Ruth Weiss' Buch „Sascha und die neun alten Männer“ (1997) gibt als Ziel bewusst an: „In zwei spannenden Geschichten wird erzählt, wie Kinder durch ihre jüdischen Freunde Einblick in eine fremde Kultur erhalten.“37 Die Überwindung von kulturell-religiöser Alterität wird hier zum expliziten Erzählprogramm.

Verblüffend ist die Parallele zu dem freilich noch deutlicher pädagogisch konzipierten Buch „Mona und der alte Mann“ von Noemi Staszewski, ebenfalls 1997 erstveröffentlicht, 2008 in überarbeiteter Nachauflage erschienen. Das Mädchen Mona „weiß nur wenig“ über das Judentum. Dann trifft Mona auf Herrn Schwarz, der sie in die Welt des Judentums einführt, so dass sie im Laufe eines Jahres „alle wichtigen Feste, Riten und Bräuche“ des Judentums kennenlernt. Infotafeln mit Sacherklärungen und Fotomaterial gestalten diese „Reise in die Welt des Judentums“ als narrativen Lerngang für nichtjüdische „Kinder ab 9“.38

Was die drei primär auf eine nicht-jüdische Leserschaft hin orientierten Bücher von Sichrovsky, Weiss und Staszewski mit diesen drei am Anfang dieses Beitrags genannten Büchern von Eva Lezzi um Beni und mit dem bereits benannten „Bella-Roman“ (2015) von Maria B. Neubert verbindet: Sie weisen in verblüffender konzeptioneller Gemeinsamkeit ein an die Erzählung angehängtes ausführliches Glossar religiöser Fachbegriffe auf, das auf die bewusst verständnisfördernde Intention des jeweiligen Buches schließen lässt. Die bloße Notwendigkeit der Aufnahme von Glossaren verweist umgekehrt auf die vorgängige, bewusst einkalkulierte Erwartung von Fremdheit und Andersartigkeit der erzählerisch präsentierten Welt. Vom – auch religiös geprägten – Judentum kann man also heute im Kinderbuch ganz unterschiedlich erzählen: erinnerungsbezogen, ernst, alltäglich, witzig, heiter, humorvoll, verschmitzt, realistisch, verfremdet. Dass dabei jedoch eine ‚fremde‘ Welt präsentiert wird – sei es nach innen in das Judentum hinein, sei es nach außen für potentiell nicht-jüdischer Leserinnen und Leser – wird schon allein durch die Anfügung der Glossare markiert.

Ein Kinderbuch über das Judentum muss nicht zwangsläufig so strukturiert sein. Myriam Halberstams Sachinformationsbilderbuch „Lena feiert Pessach mit Alma“ (2010) lässt mit Lena ein Berliner Mädchen Pessach in einer neu zugezogenen jüdischen Nachbarfamilie erleben. Das in dier Reihe „Kinder dieser Welt“ aufgenommenen Büchlein baut die fremden Begriffe und Bräuche in die Handlung ein, druckt jüdische Fachbegriffe kursiv und hebt sie dadurch hervor, lässt ihre Bedeutung aber aus der Handlung selbst einsichtig werden. So wie Lena lernen auch wir Leserinnen und Leser die neue, verständlich und sympathisch erschlossene und wenn nötig in der Handlung selbst erklärte Welt kennen.

Auf ganz anderer Ebene wird diese Integration der ‚Fremdreligion‘ deutlich in dem unbestrittenen Höhepunkt der neuen Sichtbarmachung des heute bei uns gelebten Judentums im Kinder- und Jugendbuch. Dieser Titel kommt sicherlich dem 2002 erschienenen, inzwischen auch erfolgreich verfilmten Roman „Prinz William, Maximilian Minsky und ich“ der in Berlin lebenden Amerikanerin Holly-Jane Rahlens zu. Mit Witz, Ironie, mit einer für Jugendliche spannenden Geschichte um die 13jährige Protagonistin Nelly Sue Edelmeister wird hier jüdisches Leben als selbstverständlicher Teil des deutschen Gegenwartsalltags präsentiert. Judentum ist nicht das Fremde, Andere, Damalige, vor allem aus der Opferperspektive Erschlossene, sondern das in vielem Vertraute, in manchem Andere im Hier und Heute. Diese Perspektive herrscht auch in dem 2013 von derselben Autorin veröffentlichtem Roman „Stella Menzel und der goldene Faden“ vor, der freilich die erzählerische Qualität des erstgenannten nicht erreicht.

Interessant ist zu sehen, dass darüber hinaus eine deutschsprachige jüdische Kinderliteratur entsteht, die zunächst vor allem auf jüdische Kinder als Leserschaft abzielt. Lena Kuglers humorvolles Erstlesebuch „Chanukkatz oder Ruth, Chanukka und das Katzenwunder“ (2008) lässt sich so verstehen, ein Buch mit einfachen Reimsprüchen, sehr stark simplifizierten Grobbildern und einem Anhang mit Sachinformationen zum Chanukkafest sowie Rezepthinweisen zum Zubereiten von Latkes, den festüblichen Kartoffelpuffern. Auch Myriam Halberstams humorvolle Kinderbücher „Ein Pferd zu Chanukka“ (2010) oder „Im Galopp aus Ägypten“ (2015) sind primär ad intra konzipiert, können aber gleichwohl auch interkulturell und interreligiös genutzt werden. Spielerisch, witzig und mit erzählerischer Leichtigkeit wird hier in Traditionen, Bräuche und Feste des Judentums eingeführt. „Im Galopp aus Ägypten“ erzählt von der überhasteten Reise einer jüdischen Familie, die beinahe den Auszug aus Ägypten verpasst hätte, es aber – dank des Hebräisch sprechenden Pferdes Golda, dem die Mazzen nicht schmecken – dann doch noch rechtzeitig an die Seite Mose schaffen. Diese Bücher bringen einen neuen, ganz anderen Ton in das zeitgenössische deutschsprachige jüdische Kinderbuch ein, der dem Genre gut tut.

Jüdische Kinderbücher als – humorvolle – fiktionale Einstiegs- und Vertiefungslektüre für jüdische Kinder in ihre Tradition, Kultur und Religion? Im Bereich des Christentums kennt man eine lange Traditionslinie vergleichbar konzipierter Werke, nennt sie etwas despektierlich ‚katechetische Gebrauchsliteratur‘, liegt ihr Wert doch nicht zuallererst in der ästhetischen Form, sondern im praktischen Nutzwert. Gleichwohl kommt dieser Art von pädagogisch intendierter Literatur eine eigene Bedeutung und eine eigene Würde zu, die literaturwissenschaftlich eher ignoriert wird. Im Hintergrund steht häufig ganz praktisch das Gefühl der Notwendigkeit, Kindern die Chance zu geben, eben auch literarisch in die eigene kulturelle und religiöse Tradition hineinwachsen zu können.

38. Renaissance von Religion im Kinder- und Jugendbuch?

Hintergründe, Analysen, Erkenntnissereligionspädagogische Perspektiven

Die gegenwärtige Kinder- und Jugendliteratur zeichnet sich also durch eine äußerst vielfältige, breit ausgespannte Offenheit für religiöse Fragestellungen aus. Wie kommt es dazu? Im Blick auf die Ursachen dieses Phänomens lassen sich allenfalls einige Vermutungen anstellen, die im Folgenden nur knapp skizziert werden können. Zunächst hat die Kinder- und Jugendliteratur Anteil an einem Phänomen, das die Kulturwissenschaften allgemein als religious turn in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bezeichnen. Eine Hinwendung zu religiösen Themen lässt sich auch im Blick auf die ‚Erwachsenenliteratur‘ deutlich nachweisen.39 Hier partizipiert die Kinder- und Jugendliteratur also an einem gesamtkulturellen Gegenwartstrend, der dadurch jedoch seinerseits erklärungsbedürftig bleibt. Konzentrieren wir uns auf den spezifischen Blick auf die Bedingungen der Kinder- und Jugendliteratur.

3.1 „religious turn“ - warum? Ursachenforschung

Auf der einen Seite sorgt der radikale Traditionsabbruch im Blick auf Religionsausübung und Glaubensweitergabe in unserer Gesellschaft dafür, dass viele Eltern und Erziehende das Bedürfnis verspüren, Kinder und Jugendliche eben doch nicht so ganz ohne religiöses Wissen und spirituelle Erfahrungen aufwachsen zu lassen. Literatur kann und soll hier kompensatorisch wirken, zumindest wird das von ihr erhofft. Hinzu kommt die Erwartung, dass religiöse Kinder- und Jugendliteratur die Entwicklung, Förderung und das Erleben von Religiosität unterstützen kann.

Viele Kinder und Jugendliche selbst sind neu offen für religiöse Dimensionen, weil sie – anders als Vorgängergenerationen – mit Religion eben nicht überfüttert wurden oder gar unter dem Phänomen einer ‚Gottesvergiftung‘ (Tilman Moser), der religiösen Negativerziehung, zu leiden hatten.40 Unbefangen, unbelastet und neugierig gehen sie auf dieses Feld zu, freilich fast durchgehend mit dem Grundgefühl der Unverbindlichkeit. Verlage reagieren auf veränderte gesellschaftliche Situationen und wittern zielsicher Marktchancen mit Themen, die gerade ‚in’ sind. Wenn Religion sich verkauft, werden auch Bücher aus diesem Themensegment publiziert. Darüber hinaus reagieren Verlage aber nicht nur auf sich ihnen bietende Absatzmärkte, sie setzen zumindest zum Teil auch selbst Impulse im Blick auf Bereiche, die ihnen wichtig und förderungswert erscheinen. Autorinnen und Autoren von Kinder- und Jugendliteratur schließlich erkennen ihrerseits, dass das Feld Religion zunehmend unbesetzt bleibt, sich deshalb für die fiktionale Erschließung anbietet. Jenseits der früher möglichen Befürchtung einer kirchlichen Indizierung einerseits oder Vereinnahmung andererseits – beide gleichermaßen kreativitätshemmend – gehen sie heute selbstverständlich von einer Autonomie des Zugangs zu Religion und Gottesfrage aus. Gebunden fühlen sie sich nur an die Grenzen der eigenen Überzeugung und der ästhetischen Stimmigkeit.

3.2 Literarische Annäherungen an Religion: Probleme und Herausforderungen

Gerade im Blick auf die literarische Annäherung an die Gottesfrage stehen die Autorinnen oder Autoren dabei vor mehreren Problemen, die sich analog auch in der Religionspädagogik stellen. Ein erstes Dilemma schildert Kathrin Wexberg: „Die zentrale Gratwanderung besteht dabei wohl immer darin, zwischen dem Bemühen einer aufgeklärten Gesellschaft, Kindern alles zu erklären, alles verständlich zu machen, und der Unverfügbarkeit Gottes zu vermitteln: Denn so wenig sich Gott in ein konkretes Bild zwängen lässt, so wenig geht es bei literarischen Texten um Verständlichkeit im intellektuellen Sinn.“41 Das ist ja nicht zufällig die grundsätzliche und über alle kulturellen Grenzen hinweg ernst zu nehmende Mahnung des ersten Gebotes: „Du sollst Dir kein Gottesbild machen!“ (Ex 20,4) Kann man Gott ‚erklären’? Darf man Gott ‚karikieren’ und ‚verfremden’? Soll man ihn ganz und gar rätselhaft und unverständlich zeichnen? Die Verfasser und Autorinnen lösen das Problem unterschiedlich, mal im Rückgriff auf traditionelle Bilder, mal in mutiger Kreativität, mal in Zurückhaltung.

Viele verlagern das Problem weg von der Ebene des Schriftstellers hin zur Ebene der Charaktere. Die Figuren schildern auf der Erzählebene ihre Bilder, Vorstellungen und Erfahrungen mit Gott. Drei Tendenzen fallen dabei immer wieder auf: Zunächst wird der Kontext der Frage nach Gott fast durchgängig als Ort der Krise bestimmt: Im Angesicht von Krankheit und Tod, von Verfall, Verlust und Endzeitstimmung, gegebenenfalls von schwerer Schuld stellen sich die Fragen nach letztem Sinn und Halt, nach Gott und Jenseitshoffnung. Gott im Alltag, Gott in Glück und Zufriedenheit, Gott als Grunddimension des Lebens – nach diesen Bereichen wird man fast vergebens suchen.

Ein zweiter Fragekomplex: Wer kann eigentlich Auskunft geben über Religion? Woher kommen Antworten für Kinder und Jugendliche auf der Suche? Die meisten Autorinnen und Autoren sind realistisch genug um zu wissen, dass die minderjährigen Protagonisten sich diese Antworten selbst nicht geben können. Auch alle euphorischen Theorien von sich selbst genügender ‚Kindertheologie’42 stoßen hier an ihre Grenzen. Kinder und Jugendliche brauchen Menschen, die ihnen einerseits Informationen und andererseits Wertungsmuster anbieten – die sie dann eigenständig aufnehmen, filtern, überprüfen und fruchtbar machen können. Dazu bieten sich in der Kinder- und Jugendliteratur vor allem vertraute und vertrauenserweckende Erwachsene an: Eltern, erstaunlich oft Oma oder Opa, aber auch Lehrerinnen oder Lehrer, Pfarrer oder entfernte Verwandte. Der Kunstgriff, für diese Rolle besonders kluge, gebildete und religionskundige Jugendliche zu präsentieren, die als relevante Vertreterinnen oder Vertreter der peer group fungieren und andere Jugendliche oder uns Lesende über Religion aufklären, erweist sich als weitaus schwieriger. Neunmalkluge jugendliche Religionsspezialisten – wie ‚Theo‘ – geraten ungewollt eher zur Karikatur, zu wenig sympathischen und kaum lebensnahen Sprachrohren der Botschaften ihrer Autorinnen oder Autoren. Die Frage nach den Quellen der Einspeisung von religiösem Wissen in die Kinder- und Jugendliteratur bleibt ein schwer zu lösendes Problem. Jenseits von Belehrung muss es gelingen, Fragen und Antworten in die jeweilige Handlung stimmig einzubinden.

Eng damit zusammen hängt eine dritte Beobachtung: Die Bücher bestätigen nachhaltig, wie radikal der Traditionsabbruch der kirchlich vermittelten Religion in unserer Gesellschaft erfolgt ist. Die klassische Sprachwelt des Glaubens, all das theologische Binnenverständigungsvokabular von ‚Gnade, Sünde, Sakrament, Rechtfertigung oder Erlösung’, spielt keine nennenswerte Rolle mehr. Selbst rein auf ein binnenkirchliches Lesepublikum abzielende Publikationen vermeiden diese Begrifflichkeiten, weil sie einer sowohl unverständlichen als auch unattraktiven, kaum noch lebendigen Fremdsprache entstammen.43 Inhaltlich kann es durchaus um vergleichbare Fragen gehen, aber das klassische Sprach- und Denkangebot der Kirchen bietet für weite Bereiche sowohl der Fragen als auch der möglichen Antworten keine Potenziale an. Die Notwendigkeit einer eigenständigen Sprachsuche tritt damit überdeutlich vor Augen.

3.3 Wegmarken der religionspädagogischen Erforschung

von Kinder- und Jugendliteratur

Über Jahrzehnte hinweg wurde eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der spezifisch religiösen Dimension der Kinder- und Jugendliteratur fast vollständig ausgeklammert. Erst in den letzten Jahren finden sich neue Wahrnehmungen und Aufbrüche. Ein kurzer Rückblick soll die wenigen Wegmarken der Erforschung von Kinder- und Jugendliteratur unter religiöser Perspektive zumindest skizzenhaft nachzeichnen.

Schon vor der bereits genannten Studie „Zwischen Verkündigung und Kitsch“ hatte der evangelische Religionspädagoge Friedrich Hahn sich als Pionier explizit dem Themenkomplex der religiösen Kinder- und Jugendliteratur zugewendet. Sein damaliges Resümee war freilich ernüchternd: Im religiösen Kinder- und Jugendbuch traditioneller Form stoße man bestenfalls auf „Magerkeit und Dürftigkeit religiöser Aussagen“.44 Bei näherer Betrachtung wird freilich eine höchst einseitige theologische Wertungsbrille deutlich: Hahn vermisst Belege dafür, „die paulinische Rechtfertigungslehre in einer kindgemäßen Gestalt auszudrücken“, und angesichts dieser Erwartung scheint ihm „das Religiöse, das Christliche […] häufig auf ethische Kategorien reduziert“.45 Offensichtlich wird also vor allem eine sehr spezifische, theologisch bestimmte Erwartung nicht erfüllt.

Die Germanistin Magda Motté – katholische Wegbereiterin der religionspädagogischen Beachtung moderner Literatur – kann mehr als 20 Jahre später auch im Blick auf die Werke der 1970 und 1980er Jahre monieren, dass „der Bereich christlicher Glaube und Gott in der Lyrik für Kinder fast völlig ausgeklammert“ werde. Die „Ausbeute an religiösen und christlichen Texten“ sei „äußerst mager“.46 1998 bestätigt sie noch einmal dieselben Suchprinzipien und Wertungsmuster, nun spricht sie von einem „nicht sehr erfreulichen Ertrag religiöser Literatur für junge Leser auf dem überbordenden Büchermarkt“47. Aus heutiger Sicht verraten solche Wertungen mehr über die an bestimmte theologisch-inhaltliche Erwartungen gebundenen Suchperspektiven, als über den tatsächlichen Befund. Wenn man literarische Bilder und Vorstellungen, die nicht aus dem Bereich der klassischen christlichen Katechese stammen, gleich als Flucht in „abergläubisch-magische Praktiken“48 desavouiert oder pauschal als „erschreckende Verwirrung“49 abstempelt, verschließt man sich einerseits einer legitimen kreativen Breite religiöser Vorstellungen innerhalb wie außerhalb des Christentums und misst andererseits Literatur an normativ-religiösen Maßstäben. Beides führt nicht weiter.

Die meisten Beiträge zu diesem Fragekomplex konzentrieren sich auf zeitgenössische und heute einsetzbare Kinder- und Jugendromane. Dazu liegen vor allem Aufsatzbände vor, die fast immer auf themenbezogene kirchlich organisierte Akademie-Tagungen zurückgehen und jeweils ein breites Panorama erschließen. Als Grundbaustein gilt die 1979 von Reinhold Jacobi herausgegebene Sammlung über „Kinderbuch und Religion“, in der „zum ersten Mal [...] seit längerer Zeit das Bezugsfeld Kinderbuch und Religion in verhältnismäßig vielseitiger Sicht angegangen“50 wurde. Ausgangspunkt für diesen Sammelband ist die zur Frage erhobene Beobachtung, woran es liege, „dass es das religiöse Kinder- und Jugendbuch erzählenden Inhalts nahezu überhaupt nicht mehr“ gebe.51 Die vorgelegten Beiträge konvergieren in dem durchgängigen „Plädoyer für Vorsicht und Zurückhaltung in der expliziten Verwendung christlicher Elemente im Kinder- und Jugendbuch“,52 im Zeitkontext verständlich als Gegenbewegung zu einer in den davor liegenden Jahrzehnten vorherrschenden zu stark missionierenden und ästhetisch fragwürdigen Tradition der katechetisch-religiösen Kinderliteratur. Ein weiterer gemeinsamer Grundzug dieser Studien zeigt sich in der Zielbestimmung: Weil das „zeitgenössische Kinder- und Jugendbuch […] weithin säkularisiert“53 sei, brauche die wissenschaftliche Auseinandersetzung um Religion im zeitgenössischen Kinder- und Jugendbuch neue grundlegende Wahrnehmungsraster und Wertungskriterien.

Den wichtigsten Beitrag zur Erarbeitung eines solchen neuen Zugangs bietet der 1982 von Anneliese Werner herausgegebene Sammelband „Es müssen nicht Engel mit Flügeln sein“ über „Religion und Christentum in der Kinder- und Jugendliteratur“. Hier werden erstmals systematische Zugänge zum Themenbereich erarbeitet. So wird ein differenzierter Katalog von Merkmalen religiöser Kinder- und Jugendliteratur seit der Aufklärung vorgelegt. Hilfreich und prägend ist insbesondere die Unterscheidung von drei grundlegend verschiedenen Typen zur Betrachtung von Religion im Kinder- und Jugendbuch: Die Herausgeberin des Bandes definiert zunächst den Typus der „unter ethischen Aspekten relevanten, nichtintentional religiösen Jugendliteratur“ als Literatur, „welche die Notwendigkeit von Normorientierungen für gesellschaftliches und partnerschaftliches Verhalten bewusst macht“. Davon zu unterscheiden sei die „religiöse Jugendliteratur“, die „konkreten Anlass gibt, über existentielle Probleme des Menschen […] nachzudenken und sie in einem transzendenten Bezug zur Entscheidung stellt“. Eigens zu benennen bleibe schließlich die explizit „christliche Jugendliteratur“, welche „die Elemente der christlichen Botschaft […] und christliche Glaubensinhalte […] thematisiert und problematisiert und […] bezeugt“.54

Diese Grundunterteilung in „nicht intentional religiös“, „religiös“ und „christlich“ findet sich in leichten Variationen und mit wechselnder Begrifflichkeit fortan immer wieder in der Diskussion. Magda Motté prägte 2003 die seitdem oft wiederholten Kategorien von der „ethisch-existentiellen Ebene“, der „transzendental-religiösen Dimension“ und der explizit „christlichen Botschaft“55 in der Kinder- und Jugendliteratur.

Eine erste religionspädagogische Dissertation zu diesem Themenbereich wurde 1982 von Josef Rabl veröffentlicht, der sich zuvor bereits mehrfach publizistisch in den Diskurs eingeschaltet hatte. In „Religion im Kinderbuch“ bietet er einen thematisch weit gespannten Überblick über die Primärliteratur und den Forschungsstand bis 1980. Er plädiert nachdrücklich für eine Beachtung der impliziten ethischen Dimensionen der Kinder- und Jugendliteratur: „Der Leser wird sensibilisiert für den Mitmenschen, für die Kreatur, er wird aufgefordert und angeleitet, sich in die Rolle des Nächsten, des Mitmenschen zu versetzen und die Wirklichkeit aus anderer Perspektive zu sehen“. Deshalb – so Rabl in Anlehnung an die Rahnersche Theologie – könnten „viele soziale Verhaltensmuster und Wertvorstellungen“ dieser Literatur „als anonymes christliches Ethos bezeichnet werden“.56 Durchgesetzt hat sich dieser hermeneutische Zugang aufgrund seiner fehlenden Präzision und pragmatischen Folgenlosigkeit nicht.

Überhaupt: Nachdem das Thema „Religion im Kinder- und Jugendbuch“ zu Beginn der 1980er Jahre umfassend erforscht wurde, ist die damals „rege Auseinandersetzung, die unter religionspädagogischen, theologischen und literaturwissenschaftlichen Ansätzen stattgefunden hat, weitgehend verstummt“.57 Es blieb bei ersten Tendenzanzeigen.58 1984 sprach Hubertus Halbfas so durchaus schon von einer „positiven Veränderung“59 im Blick auf die Präsenz, Qualität und Erforschung von religiösen Kinder- und Jugendbüchern, blieb letztlich aber skeptisch: Die „Lage des religiösen Kinder- und Jugendbuches“ sei „noch ohne Anzeichen für einen neuen Aufschwung“.60 Im gleichen Jahr nahm die Germanistin Ottilie Dinges einen neuen „Ton in der Einschätzung der Präsenz des Religiösen in der Kinder- und Jugendliteratur“ wahr.61 Diese Beobachtungen blieben aber letztlich folgenarm. „Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Bereich der religiösen Kinder- und Jugendliteratur hat seit den interdisziplinären Bestandsaufnahmen“ um das Jahr 1980 herum „nicht mehr stattgefunden“.62

Den besten Überblick über die auf anderen Ebenen weitergeführte Diskussion zur Frage der Rolle von Religion im Kinder- und Jugendbuch in den sich anschließenden Jahren bietet die von 1989 bis 2007 erschienene sechzehnbändige Reihe „Spurensuche“,63 herausgegeben von einem in der Besetzung wechselnden Team unter der Federführung von Marlies Göcking, Willi Fährmann, Vera Steinkamp und Michael Schlagheck. Diese Bände dokumentieren jeweils die Beiträge zu den seit 1989 jährlich veranstalteten Tagungen zu diesem Themenfeld, ausgerichtet von der Katholischen Akademie im Bistum Essen „Die Wolfsburg“. Das bisher behandelte Themenspektrum spannt sich aus von Grundsatzklärungen über spezifische Themen wie „Schuld, Sünde, Vergebung“, „Leid – Tod – Hoffnung“64 bis hin zu „Ja zur Schöpfung – Ja zum Leben“.

Was für die Kinder- und Jugendliteratur selbst gilt, bestätigt sich seit wenigen Jahren auch im Blick auf die literaturwissenschaftliche und religionspädagogische Forschung: Auch hier lässt sich ein sprunghaftes Neuinteresse für die Frage nach Religion konstatieren. Der hier vorliegende Band spiegelt seinerseits diese neue Aufmerksamkeit. Aus religionsdidaktischer Sicht sind inzwischen mehrere theoretische Studien65 über das den religious turn in der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur erschienen. Einige weitere Belege für das gegenwärtige Interesse lassen sich im Blick auf Fachzeitschriften gewinnen, die sich zum größten Teil erstmals überhaupt dieser Fragestellung zuwenden:

  • 2009 erschien ein Themenheft „Über Gott und die Welt: Religion als Thema der KJL“ der Zeitschrift kjl&m (Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek);

  • 2012 widmete sich das zweite Jahresheft der Zeitschrift des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien „Buch & Maus“ dem Schwerpunkt „Religion in Kinder- und Jugendmedien“.

  • Ebenfalls 2012 konzentrierte sich das „Kontakt“-Heft der Informationen zum Religionsunterricht im Bistum Augsburg unter dem Titel „Erlesene Welten“ auf die zeitgenössische Kinder- und Jugendliteratur unter der Perspektive der Auslotung von Einsatzmöglichkeiten im Religionsunterricht.

  • 2014 schließlich richtete auch die Zeitschrift JuLit, das Fachmagazin des „Arbeitskreises für Jugendliteratur“ den Blick auf „Glaubensfragen. Religionen in der Kinder-und Jugendliteratur“.

3.4 Kinder- und Jugendliteratur als Herausforderung für religiöses Lernen

Das Feld der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur ist breit. Es lohnt sich aber, sich auf eigene Spurensuche zu begeben. Das gilt umso mehr, weil Kinder- und Jugendbücher eigene Zugänge zu religiösen Lehr- und Lernprozessen ermöglichen, sei dies in der Familie, in der Gemeinde oder im Religionsunterricht. Dass dafür Werke der Kinder- und Jugendliteratur einen reichhaltigen Fundus zur Verfügung stellen, hat die Religionspädagogik eher erkannt als die Literaturdidaktik, die sich diesem Phänomen eher zögerlich zuzuwenden beginnt. Aus religionspädagogischer Sicht wurden einige didaktisch wie methodisch aufbereitete Lesebücher66 publiziert, die exemplarische Texte zum Einsatz in Schule und außerschulischer Bildung aufbereiten.

Dabei gilt es einige Rahmenbedingungen und didaktische Vorgaben zu beachten. Der Einsatz von Kinder- und Jugendbüchern im Religionsunterricht67 steht bei Kritikern unter einem Vorbehalt: Werden dort – bei aller möglichen Behutsamkeit und Sorgfalt in Planung und methodischer Durchführung – nicht letztlich doch Bücher zweckentfremdet, funktionalisiert, in den Dienst eines ihnen fremden Anliegens gepresst? Dass diese Gefahr besteht, muss schlicht eingeräumt werden. Man kann sich ihr aber stellen und sich bemühen, die Versuchungen von missbräuchlicher Funktionalisierung zu verringern. Denn gewiss: Zunächst hat das Lesen auch von Kinder- und Jugendliteratur stets den verwertungsfreien Selbstzweck, „interesseloses Wohlgefallen“ (I. Kant) zu erzeugen. So sehr in der pädagogischen Vermittlung arbeitende Praktiker immer gleich versucht sind, mögliche Einsatzchancen von neuen „Materialien“ zu überlegen, so sehr sollte doch immer der Freiraum bleiben, Literatur um ihrer selbst willen zu lesen.

Trotzdem ist es in einem zweiten Schritt legitim zu überlegen, ob man mit derartigem „Material“, mit derartigen „Medien“ auch didaktisch „arbeiten“ kann. Die Frage ist: Wie? Die erste Grundregel für einen angemessenen Umgang mit Texten aus der Kinder- und Jugendliteratur im Religionsunterricht lautet: Man sollte sie vorbehaltlos als eigenständige Medien akzeptieren. Didaktisch verfehlt wäre es, diese Texte ausschließlich als Steinbruch oder Aufhänger zu verwenden um an ihnen eine religiöse Deutung zu profilieren, die sowieso schon von vornherein feststeht. Das Schema von Frage (literarischer Text) und Antwort (Theologie) verbietet sich genauso wie das Schema von Problem (literarischer Text) und Lösung (Theologie). Beide Verfahren verstoßen gegen das didaktische Prinzip der Korrelation als wechselseitigem, produktivem und kritischem Prozess. Kinder- und Jugendbücher dürfen weder dazu herangezogen werden, das Eigene nur noch einmal in anderer Form zu bestätigen, noch dazu, das feststehende Eigene als Antwort oder Problemlösung zu präsentieren. Sie sollten in der Regel nicht als ‚Aufhänger’ oder ‚Einstieg’ herhalten, der dann zum Hauptmedium des Unterrichts überleitet, sondern selbst als – sicherlich nur sparsam und gezielt eingesetztes – Leit- und Grundmedium dienen, das im Zentrum des Unterrichts steht.

Gleichwohl werden Texte der Kinder- und Jugendliteratur jedoch ganz transparent in einem bestimmten Kontext (Religionsunterricht/Gemeindearbeit) und unter einer bestimmten, ebenfalls offen angegebenen Perspektive betrachtet. Ist das Funktionalisierung? Gewiss! Aber grundsätzlich gibt es keine Beschäftigung mit Literatur, die nicht in irgendeiner Weise Aspekte von Funktionalisierung beinhaltet. Funktionalisierung von Literatur wird auch im Deutschunterricht betrieben, wenn an einzelnen, oft austauschbaren und kaum auf ihren Eigenwert oder konkreten Inhalt befragten Texten die Methoden von Gedichtinterpretation, Romandeutung oder Dramentheorien eingeübt werden. Einen interessenfreien Umgang mit Literatur gibt es also nicht. Funktionalisierung ist deshalb kein Einwand, sondern ein Warnschild: Erstens gilt es, sich selbst und anderen Rechenschaft darüber abzulegen, warum, in welchem Rahmen und mit welchen Interessen der Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur erfolgt. Gefordert sind also Transparenz und kritische Selbstüberprüfung. Zweitens gilt es im Rahmen derartiger Selbstreflexionen, die Gefahren von Engführung, Schiefdeutung, Verkürzung oder Verfälschung zu vermeiden. Die Textdeutung muss stringent und in sich stimmig bleiben.

Doch ein weiterer möglicher Einwand: Verlängert man mit solchen Verfahren nicht letztlich den Deutschunterricht in den Religionsunterricht hinein? Oder umgekehrt: Sollte man den Umgang mit Kinder- und Jugendbüchern nicht den dazu ausgebildeten Fachleuten überlassen? – Man muss nicht Literaturwissenschaft studiert haben, um Werke der Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht sinnvoll und angemessen einsetzen zu können. Im Gegenteil: Die Art der Behandlung dieser Texte darf und soll sich vom Zugang im Deutschunterricht unterscheiden. Auch den Kindern und Jugendlichen soll klar sein, warum und wie literarische Texte ihren Platz im Religionsunterricht haben. Nicht um die lückenlose Analyse eines solchen Textes nach einem bestimmten Formschema darf es im Religionsunterricht gehen, hier ist ein freierer Zugang möglich, in dem Einzelaspekte des Textes – sei es formaler, sei es inhaltlicher Art – im Vordergrund stehen dürfen.

Noch einmal selbstkritisch zurückgefragt: Stimmt also der Vorwurf, den Gabriele Dreßing formuliert: Bei der „Gewichtung der pastoralen und pädagogischen Zielsetzung sind literaturästhetische Aspekte im Vergleich zu den inhaltlich-didaktischen Intentionen nachrangig“, so dass der didaktische Einsatz literarischer Texte im Religionsunterricht „in der Regel so angelegt“ sei, dass „eingebettet in einen theologischen Diskurs überwiegend funktionale und inhaltliche Aspekte im Vordergrund stehen“?68 Neben den bereits reflektierten Vorwurf der Funktionalisierung tritt hier also der Vorwurf des „Inhaltismus“. Die religionspädagogische Beschäftigung mit literarischen Texten rücke demnach vor allem die Inhalte ins Zentrum – und zwar auf Kosten der Beachtung von ästhetischen wie formalen Aspekten, die Literatur gerade auszeichnen.

Auch hier lässt sich leicht zugeben, dass es solche Tendenzen gibt, obwohl sie das Gesamtbild gerade nicht bestimmen. Erneut lässt sich jedoch die Fragerichtung umdrehen hin zu der Vermutung, dass im Deutschunterricht und in der Literaturdidaktik Ästhetik und Form so sehr im Vordergrund stehen, dass der Inhalt dabei völlig beliebig oder austauschbar bleibt und entsprechend vernachlässigt wird. Fruchtbarer ist die grundlegende Einsicht, dass literarische Texte eben durch ihre Form, durch ihre ästhetische Gestaltung ihre Besonderheit finden, die sie von Sachtexten unterscheiden. Deshalb muss auch im Religionsunterricht der Blick auf die Verbindung von Inhalt und Form, von Ästhetik und Semantik im Mittelpunkt stehen. Literarische Texte auf ihren Inhalt oder auf eine verkürzte ‚Aussage’ zu reduzieren, verschenkt alle besonderen didaktischen Chancen, die im Folgenden entfaltet werden.

3.5 Wie Kinder lesend lernen: Entwicklungspsychologische Einsichten I

Das uralte, langsame, mühsam selbst zu lesende Printmedium Buch scheint gegen die elektronischen Unterhaltungsmedien kaum noch eine Chance zu haben. Dieser Eindruck gibt freilich nur einen Teil der Realität wieder. Hartnäckig halten Bücher, gerade auch Kinderbücher, einen beständig hohen Marktanteil. Bücher und Lesen behalten ihre Bedeutung für Kinder, auch wenn die elektronischen Medien als Konkurrenten mit attraktiven Angeboten locken. 2010 veröffentlichte das Institut für Demoskopie Allensbach den sogenannten „MDG Trendmonitor“ über „Religiöse Kommunikation 2010“. Repräsentativ befragt wurden ausschließlich erwachsene Mitglieder der Katholischen Kirche in Deutschland. Interessant im Blick auf Kinderliteratur: Eindeutig lässt sich eine „wachsende Bedeutung religiöser Bücher“ nachweisen. 41% der Katholiken geben an, schon religiöse Bücher verschenkt zu haben, im Vergleich zu 33% im Jahre 1999. 45% – fast die Hälfte! – haben speziell „religiöse Bücher für Kinder“69 gekauft. Dieser Wert erreicht bei den Katholiken einen Spitzenwert, in der Bevölkerung insgesamt liegt der Wert nur bei 26%.70 Diese Daten untermauern die Beobachtung, dass das Buch ein Medium darstellt, das auch gegenwärtig seine Bedeutung findet. Viele Zahlen weisen sogar auf eine zunehmende Nachfrage hin, sei es im Blick auf Kauf-, Geschenk- oder Ausleihverhalten. Das Kinderbuch hat teil an diesen Entwicklungen.

Durchaus berechtigt bleibt so die Frage, welche Art von Büchern Kinder, welche Art von Bücher Jugendliche brauchen. Keineswegs zufällig hat sich die Entwicklungspsychologie in den letzten Jahrzehnten als eine der wichtigsten Bezugswissenschaften der Religionspädagogik etabliert. Bei aller – im Einzelfall berechtigten – kritischen Einschätzung hinsichtlich Methode und Reichweite von einzelnen Untersuchungen und Modellsystemen haben entwicklungspsychologische Theorien konsensfähige und überprüfbare Ergebnisse hervorgebracht.71 Demnach entwickeln die meisten Kinder im Übergang zum Grundschulalter allmählich einen „mythisch-wörtlichen Glauben“,72 je nach Kontext und Persönlichkeit zu unterschiedlichem Zeitpunkt, in unterschiedlichem Tempo und nach individueller Ausgestaltung. Es handelt sich dabei um eine Form der Wirklichkeitsdeutung, die sich auch bei vielen Jugendlichen hält und selbst noch eine nicht geringe Zahl von Erwachsenen dauerhaft prägt.

  • Mythisch“ verweist dabei darauf, dass die Wirklichkeit über stories, über runde, in sich geschlossene und stimmige Erzählungen erfasst und gedeutet wird. Aus solchen Erzählungen bauen sie ihr sich ständig weiter ausformendes Weltbild auf. In solchen Deute-Geschichten – etwa dem biblischen Sieben-Tage-Werk der Schöpfung – erfolgt eine geradlinig strukturierte, narrative Konstruktion von Kohärenz und Sinn, aber auch die Verarbeitung oder der Ausdruck von Angst, Trauer, Wunsch oder Sehnsucht. Waren zuvor episodische Einzelfragmente, konkrete Einzelszenen oder Bilder prägend, so werden diese nun zu Erzählzusammenhängen verbunden. Durch die sich erst jetzt allmählich anbahnende Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive eines anderen, aber auch durch die verbesserte Erfassung der Wechselbeziehung von Ursache und Wirkung wächst nun das Bedürfnis nach schlüssigen Erzählkränzen.

  • Wörtlich“ wiederum weist darauf hin, wie Kinder diese Erzählungen verstehen: eben wortwörtlich, auf der Erzählebene stimmig, ohne die Notwendigkeit zur distanzierenden Deutung, ohne Mehrdeutigkeit und Sprünge. Eine Geschichte, die nur über Erwachsenendeutung Sinn ergibt, ist für Kinder ungeeignet. Eine Erzählung in einem Merksatz zusammenzufassen, ist absurd. Uneigentliche Redeformen wie Ironie oder rhetorische Fragen sind Kindern fremd, können nicht aufgelöst werden. Symbole werden von Kindern intuitiv und eindimensional erfasst, eine Ausdifferenzierung in verschiedene Bedeutungsebenen ist ihnen noch fremd.

Die Konsequenz für religiöses Lernen mit Kinderbüchern: Was und wie Gott ist, das erfassen Kinder also primär über Erzählungen, Bilder und Rituale zunächst ganz intuitiv, nicht abstrakt über den Verstand und die Vernunft. Sie projizieren ihre Ängste und Sehnsüchte auf diesen Gott, den sie sich zunächst fast stets nur als Wesen in Menschengestalt denken können. Ein besonders großes, starkes Wesen stellen sie sich vor, meistens immer noch als Mann. Selbst die Vorstellung des „alten Mannes mit weißem Bart“ hält sich in erstaunlicher Hartnäckigkeit. Nur selten können sich Kinder Gott außerhalb einer personalen Vorstellung denken. Erstaunlich: Mädchen malen sich tendenziell in die von ihnen gemalten Bilder von Gott mit hinein, am Rand, jedenfalls in Beziehung zu Gott. Buben betonen eher die in sich ruhende Macht und Stärke. Fast völlig verschwunden sind dabei bei heutigen Kindern Gottesbilder, die von Angst, Zwang und Kontrolle geprägt sind. Der liebe, besser: der gute Gott herrscht vor, ein Beschützer, ein Vertrauter.

Und Moral? Kleinere Kinder orientieren sich im Blick auf ihre Einschätzung von „gut“ und „böse“ vor allem an den Sanktionen der für sie wichtigen Erwachsenen. Vermeidung von Strafe und Angewiesenheit auf Lob und Anerkennung sind Strategien, die sie unbewusst in Richtung auf eine erste Moralität lenken. Ältere Kinder sprengen diese zunächst absolut notwendige egozentrische Perspektive auf. ,Versprochen ist versprochen, und wird auch nicht gebrochen’ wird zu einer Grundregel, die feste Orientierung bietet. Kinder brauchen Verlässlichkeit. Sie wissen durchaus, dass andere ähnliche Bedürfnisse und Rechte haben wie sie. Um miteinander auszukommen akzeptieren sie deshalb eine Art Tauschgerechtigkeit.

Ein ähnlich berechenbares und verlässliches System erwarten sie auch im Blick auf ihren Glauben. Sie gehen angesichts eines zunächst – zwingend – sehr menschlichen Gottesbildes davon aus, dass man auch mit diesem Gott (oder einer anonym bleibenden höheren Macht, dem „Schicksal“, der „Bestimmung“, ...) Verträge schließen oder handeln kann. Während kleinere Kinder angesichts der überlegenen Macht des Schöpfers staunen und sich ihm bedingungslos unterordnen, gehen ältere davon aus, sich an ihn wenden zu können. Sie leben häufig in der Vorstellung, dass man sich als Mensch in eine Art Tauschhandel mit Gott begeben kann. Wenn ich mich an bestimmte Vorgaben und Gebote halte, wird Gott mich belohnen. Wenn ich sie verletze, wird er mich ganz konsequent bestrafen. Wenn ich ihn bitte, wird er mir vielleicht das Erbetene geben. Kinder sehen Gott als unbedingt gerecht, das ist die Grundlage ihrer Einstellung zur Wirklichkeit.

All diese Vorgaben, all diese Weisen Gott, Religion und die Welt zu sehen, sind normal. Kinder müssen so empfinden und denken. Dass viele dieser Vorstellungen nicht ungebrochen durch das Leben tragen, merken Kinder fast immer von selbst. Scheitern, vergebliches Bitten, Kontrasterfahrungen, naturwissenschaftliche Welterklärungstheorien – all das sorgt dafür, dass nur ganz wenige Menschen auf der Stufe dieses Kindheitsglaubens stehen bleiben. Die Strukturen dieses Glaubens graben sich aber tief in das Unterbewusstsein ein und bleiben ein Leben lang verfügbare Denkmuster und Handlungsmöglichkeiten.

Pädagogisch fatal wäre somit zweierlei: Erstens Kindern Erzählungen – religiöse Urerzählungen wie literarisch-fiktionale Geschichten – überhaupt vorzuenthalten: Kinder brauchen Geschichten, eben auch die der Kinderliteratur! Zweitens aber darf man Kindern die wortwörtliche Stimmigkeit dieser Erzählungen nicht zerstören, etwa durch wohlmeinende, aber verfrühte Interpretation, auflösende Deutung, distanzierende Analyse, symbolische Mehrdeutigkeit. Kinder haben ein Recht darauf, sich in stories die Welt zu erklären, in runden, geschlossenen, wunderbaren und auch magischen Erzählungen, die in der Realität verwurzelt sind, aber übergangslos in das Reich der unbegrenzten Phantasie hineinführen. Das Zusammenspiel von Text und Bild kann diese Entwicklung befördern. Deshalb kommt Bilderbüchern gerade in der Phase des Übergangs von Kindergarten zu Grundschule eine besondere Bedeutung zu. Im religiösen Bereich eignen sich hier Erzählungen, die ohne innere Brüche den Reichtum menschlicher Erfahrungen miteinander, mit der Welt und mit Gott entfalten. Anthropomorphe Vorstellungen von Gott sind für Kinder normal und notwendig. Dabei besteht nur geringe Gefahr, dass sie Menschliches und Göttliches miteinander verwechseln.

3.6 Wie Jugendliche lesend lernen: Entwicklungspsychologische Einsichten II

Die gerade skizzierten Rahmenvorgaben religiösen Lernens sind für die meisten Kinder prägend. Wie aber entwickeln sich Glaube und Moral weiter? Für fast alle Jugendlichen verlieren die kindgemäßen Arten der Erklärung und Erschließung der Welt durch stories und der Glaube an eine Art berechenbarer Tauschgerechtigkeit ihre Schlüssigkeit. Mit und in der Pubertät zerbricht oder zerbröckelt der Glaube an die Stimmigkeit einer so gedeuteten Welt. Es gibt mehrere potentielle Einbruchstellen für den Verlust dieses – nicht inhaltlich misszuverstehenden, sondern durch die Art des Zugangs zu letzten Wirklichkeiten geprägten – Kinderglaubens. Angesichts naturwissenschaftlicher Einsichten in die Entstehung der Welt erscheinen vielen die bisher angebotenen Erzählungen, etwa die Schöpfungserzählung der Genesis, nun plötzlich als abzulegender „Kinderkram“, „Aberglaube“, „Lügengeschichte“. Angesichts von immer wieder enttäuschten Erwartungen, dass das Leben über Gebet, Ritual oder Versprechungen direkt beeinflussbar wäre, verliert sich für die meisten Jugendlichen der Glaube an eine vom Menschen erkennbare oder beeinflussbare höhere Gerechtigkeit.

Gottes Existenz wird dabei nur selten radikal geleugnet, man schreibt ihm nur keine konkrete Bedeutung für das eigene Leben zu. Er (oder „das Schicksal“) mag existieren, aber weder beeinflusst er direkt die eigene Existenz, noch lässt er sich beeinflussen. Nicht selten wird von Heranwachsenden der rückwärtsgewandte Vorwurf an die sie Erziehenden und Lehrenden erhoben: „Ihr habt uns ja nur erfundene Geschichten erzählt“. Dieses Zerbrechen, häufig eher ein unmerkliches Zerbröckeln und Sich-Auflösen des Kinderglaubens könnte zu dem Trugschluss führen, man sollte Kindern doch gar nicht erst diese Geschichten erzählen, die ja dann doch nicht der späteren kritischen Überprüfung standhalten. Ganz falsch: Kinder brauchen diese Geschichten! Jugendliche ihrerseits brauchen den Prozess des Herauswachsens aus diesen Geschichten hin zu einer eigenen Form der Wirklichkeitserschließung, die später vielleicht einmal in einer Art „zweiter Naivität“ zu den abgelegten Erzählungen in dann neuem Verständnis zurückführen kann.

Der Prozess des Zerbrechens oder Zerbröckelns des Kinderglaubens kann mit einer Tonfigur verglichen werden. Über Jahre entstand sie für sich selbst, unhinterfragt, risslos, in sich stimmig. Einmal zerbröckelt oder zerbrochen wird sie nie wieder so sein wie zuvor, und für viele ist das Zerbrochene endgültig zerstört. Es wird entsorgt, bleibt unbedeutend, Erinnerung ohne Gegenwart. Für andere wird aus diesem Kinderglauben etwas Anderes, Neues. Aus den Splittern und Fragmenten fügen sie etwas Eigenes zusammen. Die Begleitung genau dieses Prozesses macht religiöse Lehr- und Lernprozesse mit Jugendlichen einerseits so spannend, andererseits so mühsam. Wo es im Blick auf Kinder um den erstmaligen Aufbau und die Formung der „Tonfigur“ des Glaubens geht, geht es nun um die Begleitung eines Prozesses der Zerstörung oder Verwitterung, um die Anregung zu neuem Umgang mit Fragmenten. Dieser Prozess hat eine andere Dynamik, andere Stimmungen, eine andere Reichweite als der Prozess des ursprünglichen Aufbaus. Aber auch dazu kann (Jugend-)Literatur einen besonderen Beitrag beisteuern.

Die Heranwachsenden müssen also im Übergang von Kindheit zu Jugend eine Synthese aus vertrauten, zunehmend jedoch brüchig gewordenen stories und neuen Erfahrungen bilden, die immer weitere Lebensbereiche umfassen. Diese Synthese ist aber noch keine wirklich kreative, selbst verantwortete, aus Distanz und Reflexion gewonnene Überzeugung. Entscheidend wird in dieser Stufe vielmehr die Orientierung an den Vorgaben der wichtigen, der so genannten „signifikanten Anderen“, also der zentralen Bezugsgruppen, häufig vor allem der gleichaltrigen peer-group. Für Erziehende und in Bildungseinrichtungen diese Jugendlichen Begleitende gilt es nun, andere stories, andere Muster von Lebensdeutung anzubieten. Heranwachsende sind dabei, einen hypothetischen Entwurf von sich selbst zu erstellen in Reflexion, Distanz, im Spiegel von anderen. Was gut und richtig ist, wird nun jenseits von Fairness und Tauschgerechtigkeit immer mehr nach den Maßstäben der peer-group bestimmt.

Auch dieser Prozess lässt sich nicht nur pädagogisch, sondern auch im Angebot von jetzt passender Jugendliteratur begleiten. Anregend dazu sind nun Geschichten, die gerade nicht rund, stimmig und abgeschlossen sind, sondern Brüche, Sprünge, bleibende Spannung und Offenheit aufweisen: die biblische Hiobserzählung etwa, ein Blick auf Judas, die Lebensgeschichte des heiligen Franziskus. Solche Erzählungen provozieren zu Distanz und Reflexion, sind aber Geschichten innerhalb der religiösen Tradition, nicht Wege aus ihr heraus. Dieser Erkenntnisweg ist entscheidend: Einsichten, die das bisherige Weltbild sprengen, müssen nicht zwangsläufig aus der Welt des Glaubens herausführen, können vielmehr (mühsame) Wachstumsprozesse innerhalb der religiösen Wirklichkeitssicht markieren. Disharmonien, schräge Töne, Zweifel und Infragestellung sind bleibend wichtige, produktive Elemente des Glaubens selbst. Jetzt, erst jetzt wird es unausweichlich und chancenreich, die Mehrperspektivität von Erzählung und Deutung, Text und Analyse, symbolischer und materialer Ebene zu unterscheiden.

3.7 Lernchancen durch die Beachtung von Kinder- und Jugendliteratur

Ein letzter Fragekomplex: Worin liegen überhaupt die spezifischen Chancen, die sich mit der Lektüre von Kinder- und Jugendliteratur im Hinblick auf religiöse Lernprozesse ergeben können – gerade im Gegensatz zu Sachbüchern, didaktisierten Lernmaterialien, informierend-darstellenden Medien? Einige zentrale didaktische Kernbegriffe sollen die Chancen andeuten, die sich durch den Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur für religiöse Lernprozesse ergeben können.

Dichtung steht nie unter dem Anspruch, objektives Wissen über historische Ereignisse oder die real existierenden Religionen vermitteln zu wollen, das dann etwa auf seine Validität hin überprüft werden müsste. Vielmehr wird ein bewusst subjektiver Blick auf diese Phänomene literarisch ermöglicht, der vor allem der ästhetischen Stimmigkeit verpflichtet ist. Erstes didaktisches Stichwort also:

Subjektivität

So wie letztlich jeder Lesende seine ganz eigenen politischen und religiösen Überzeugungen hat, so entfalten auch die Verfasser und Autorinnen von Kinder- und Jugendbüchern ihre eigene Sicht auf das Phänomen Religion. So wenig wie ein Glaubender das ganze System seiner Religion überschaut und rational durchdringt, so wenig wahrhaftig ist auch ein Blick von außen auf rein ‚objektive Daten’ einer Religion. Religiöses Leben ist stets subjektive Erfahrung ganz konkreter Begegnungen, Gedanken, Auseinandersetzungen. Und Dichtung gibt nie vor, anderes geben zu können. Daraus ergibt sich der zweite didaktische Eckpunkt:

Perspektivität

Es gibt schlicht keinen objektiven Zugang zu religiösen Traditionen. Jede Beschäftigung mit Religion ist perspektivisch durch die eigene Prägung und das eigene Erkenntnisinteresse geprägt. Will ich für meine eigene Religion werben? Betrachte ich andere Religionen vorrangig unter der Vorgabe, wie ein weltweites Zusammenleben mit anderen in Frieden möglich sein kann? Will ich unbekannte Traditionen deshalb vorstellen, weil ich mich meiner ursprünglichen religiösen Beheimatung entfremdet habe? Will ich das Trennende zur Profilierung des Eigenen hervorheben? Bin ich auf der offenen Suche nach subjektiv Überzeugendem? Literatur ermöglicht das perspektivische Hineinschlüpfen in verschiedene existentielle und moralische Standpunkte. Die Beschäftigung mit Literatur macht so deutlich, dass jeder einzelne Zugang durch perspektivische Vorgaben geprägt ist. Spielerisch erlesene Perspektivenwechsel bieten Jugendlichen eine Überprüfung von politischen und ethischen Wertungen.

Alterität

Bei aller Einfühlung, die über Leseprozesse möglich wird, bei aller perspektivischen Rollenübernahme „auf Zeit“, wird der Umgang mit Literatur auch immer zu Grenzerfahrungen führen, vor allem wenn es um ganz fremde Lebenswelten oder um andere Religionen geht. Gerade aus der angelesenen Nähe heraus wird das Fremde fremd blieben, wird das zunächst indifferent neugierig Betrachtete möglicherweise sogar erst fremd werden. Hier gilt es schlicht die bleibende Fremdheit zu erkennen und zu respektieren. Alterität ist somit beides zugleich: Grenze – und Chance zur realistischen Einschätzung der Möglichkeiten und der Reichweite des perspektivischen Lernens über andere Lebensformen, Religionen und Lebensentwürfe. Der Umgang gerade mit solchen Grenzen gehört zu den zentralen Lernaufgaben in einer pluralistischen Gesellschaft.

Authentizität

Das Aufzeigen ethischer und religiöser Dimensionen steht vor einem Dilemma – Lehrende vermitteln Überzeugungen und Normvorgaben, die sie selbst persönlich nur zum Teil existentiell teilen und praktizieren. Objektives Wissen ist so zwar vermittelbar, subjektive Einfühlung aber nur zum Teil. Lernende spüren häufig diese mangelnde Authentizität und fragen sie an. Durch das Medium der (Kinder- und Jugend-) Literatur wird solche Authentizität spürbar. Nicht in dem Sinne, dass die Autoren und Schriftstellerinnen selbst zwangsläufig alle erschriebenen Positionen teilen müssten, wohl aber darin, dass die Qualität guter Kinder- und Jugendliteratur sich unter anderem gerade darin spiegelt, wie authentisch und überzeugend sie die Möglichkeiten eröffnet, sich in andere Lebensgefühle hineinversetzen zu können. Nicht um eine direkte Authentizität muss es hier also gehen, wohl aber um eine literarisch gespiegelte, gebrochene, indirekt vermittelte Authentizität.

Personalität

Um ein Sich-Hineinversetzen in andere Traditionen und Lebenswelten zu ermöglichen, wählen die Verfasser von Kinder- und Jugendbüchern fast stets den Zugang über wenige zentrale Zugangsfiguren. In der freiwilligen – im Bereich der Phantasie verankerten – Identifikation mit diesen Personen wird die fiktionale Welt, in der sie leben, ästhetisch erfahrbar: fühlbar, schmeckbar, spürbar. Als Personen in einer eigenen realen Lebenswelt öffnet sich für Lernende in dieser – im idealen Leseprozess auf Zeit und Probe erfolgenden – Identifikation mit literarischen Personen ein tieferer Zugang zur Wirklichkeit, als er durch jegliche „Information über“ möglich wäre.

Reflexivität

Religiöse Aspekte, Dimensionen und Prozesse werden in der Kinder- und Jugendliteratur freilich nicht nur darstellend thematisiert, die Werke sind vielmehr auch ein Medium, in dem Religion kritisch reflektiert wird. Kinder- und Jugendliteratur ist demnach einer von mehreren möglichen Reflexionsräumen von Religion, wobei die spezifisch literarische Form eine eigene Art der Reflexivität darstellen kann. In der literarischen Spiegelung wird Religion anders erfahren und bedacht als im Kontext von Liturgie, Katechese oder Religionsunterricht; freier, offener, subjektiver, phantasiebetonter. Die ganz auf den Bereich der inneren Vorstellung konzentrierten Anregungen zur Konstruktion eigener religiöser Überzeugungen aktivieren einen für religiöse Identitätsbildung zentralen Tiefenbereich.

Expressivität

Die damit angedeuteten Prozesse verlaufen über – vorgelesene, selbst erlesene, in Austausch und Deutung diskursiv angewendete – Sprache. Vielen Kindern und Jugendlichen fehlt heute eine differenziert entfaltete Ausdrucksfähigkeit, gerade im Blick auf religiöse Erfahrung und Reflexion. Der Umgang mit Werken der Kinder- und Jugendliteratur kann dazu beitragen, dass die Sprachkompetenz gerade in Sachen Religion angeregt und gefördert wird. Nur so ist Selbsterkundung, Ausdruck, Austausch, Dialog und Verständigung möglich, nur so öffnen sich Blickwinkel hinsichtlich der Wahrnehmung, Diskussion und Gestaltung der Welt.

4. Ausblick

Religion in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart: Sie eröffnet nicht nur ein weites Feld für freie (Vor-)Leseabenteuer, sondern auch einen unerschöpflichen Gegenstand zur Erschließung und Reflexion von aktuell bedeutsamen religiösen Lernprozessen. Weder ist dieses Feld bereits so umfassend erschlossen, dass man damit wirklich effektiv an den unterschiedlichen Lernorten arbeiten könnte, noch ist sein Wert für die Theoriebildung der Religionspädagogik als wissenschaftliche Disziplin auch nur ansatzweise erkannt, entfaltet und etabliert. Vor allem die Diskurse um eine angemessene Form von praxisrelevanter Kinder- und Jugendtheologie könnte von einer stärkeren Beachtung der entsprechenden aktuellen fiktionalen Literatur ungemein profitieren. Das Herausfordernde dabei: Jede neue Buchsaison speist ungeahnte neue Lesefrüchte ein. Spannend!

1 Oscar Brenifier ; Jacques Desprès: Was, wenn Gott einer, keiner oder viele ist? Stuttgart : Gabriel, 2013, o. S.

2 Vgl.: Eva Lezzi ; Anna Adam: Beni, Oma und ihr Geheimnis. Berlin : Hentrich + Hentrich, 2010; dies.: Chaos zu Pessach. Berlin : Hentrich + Hentrich, 2012; dies.: Beni und die Bat Mitzwa. Berlin : Hentrich + Hentrich, 2015.

3 Vgl. www.dbk.de/kkujbp0.

4 Stian Hole: Annas Himmel. München : Carl Hanser Verlag, 2014.

5 Vgl. ausführlich: Georg Langenhorst (Hrsg.): Gestatten: Gott! Religion in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart, München : Sankt Michaelsbund, 2011. Aktuelle Hinweise unter: www.religion-im-kinderbuch.de.

6 Gundel Mattenklott: Zauberkreide. Kinderliteratur seit 1945. Stuttgart : J. B. Metzler 1989, S. 242.

7 Friedrich Hahn: Zwischen Verkündigung und Kitsch. Religiöse Probleme in der heutigen Jugendliteratur, Weinheim/Berlin : Julius Beltz Verlag, 1968, S. 87.

8 Hubertus Halbfas: Das religiöse Kinder- und Jugendbuch. In: Gerhard Haas (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Handbuch. 3. Auflage. Stuttgart : Reclam Verlag, 1984, S. 229-244, hier S. 233.

9 Vgl. Gottfried Hierzenberger: Worthülsen und Sprachklischees in religiösen Kinderbüchern. In: Christlich-Pädagogische Blätter 92 (1979), S. 399-403.

10 Jürgen Heumann (Hrsg.): Über Gott und die Welt . Religion, Sinn und Werte im Kinder- und Jugendbuch. Frankfurt : Peter Lang Verlag, 2005, S. 7.

11 Gundel Mattenklott: G. Ott, ein neuer Protagonist in der Kinder- und Jugendliteratur, in: Deutschunterricht 51 (1998), S. 294-303, hier: S. 298.

12 Vorwort. In: Bulletin Jugend & Literatur (2007) Nr. 12 , S. 7.

13 Vgl. die aktuelle Broschüre: STUBE (Hrsg.): Was wäre die Welt... Religiöse und ethische Fragestellungen in der Kinder- und Jugendliteratur, Wien , 2014.

14 Vgl. Sabine Berthold: Aus heiterem Himmel : Die Ankunft der Engel in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Eulenfisch. Limburger Magazin für Religion und Bildung (2011),Nr. 2, S. 53-55.

15 Vgl. Kathrin Wexberg: „Er hat nur einen kleinen Nachteil“ : Gottesbilder in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Communicatio Socialis : Internationale Zeitschrift für Religion, Kirche und Gesellschaft (2009), Nr. 3, S. 293-303.

16 Vgl. Katharina Betina Duhr: Tod und Sterben in der modernen Kinder- und Jugendliteratur. Aachen : Verlag Murken-Altrogge 2010.

17 Vgl. Sandra Pfeiffer: Religiös-ethische Dimension in aktueller Kinder- und Jugendliteratur. Berlin : LIT-Verlag, 2011.

18 Aktuell herausragend: Heinz Janisch ; Birgitta Heiskel: Der rote Mantel. Die Geschichte vom heiligen Martin. Tyrolia-Verlag : Innsbruck-Wien 2015.

19 Aktuell herausragend: Ingrid Godon : Toon Tellegen: Ich denke. mixtvision-Verlag : München 2015.

20 Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn : Wilhelm Fink Verlag 2006, S. 5.

21 Ebd., S. 13.

22 Vgl. z.B. Daniela Both ; Bela Bingel: Was glaubst du denn? Eine spielerische Erlebnisreise für Kinder durch die Welt der Religionen. Münster : Ökotopia-Verlag 2000; Christine Schulz-Reiss ; Claudia Lieb: Das Hausbuch der Welreligionen. Hildesheim : Gerstenberg Verlag 2012.

23 Marie Desplechin: Ich, Gott und Onkel Frederic. Würzburg : Arena-Verlag 1998, S. 7. Die erste Auflage des Buches erschien 1994.

24 Irma Krauß: Gott zieht um. Würzburg : Arena-Verlag 2003, S. 37. 57.

25 Ebd., S. 143.

26 Catherine Clément: Theos Reise : Roman über die Religionen der Welt. München/Wien : Carl Hanser Verlag, 1998, S. 460.

27 Vgl.: Undine Gellner: Theos Reise: Die Religionen der Welt für junge Leute : Ein Roman-Sachbuch im Religionsunterricht der Sekundarstufe II. In: Religionsunterricht an höheren Schulen (43) 2000, S. 388-391.

28 Im Blick auf ‚Erwachsenenliteratur‘ vgl.: Christoph Gellner; Georg Langenhorst: Blickwinkel öffnen : Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten. Ostfildern : Schwabenverlag, 2013.

29 Dazu ausführlich: Georg Langenhorst: Trialogische Religionspädagogik : Interreligiöses Lernen zwischen Judentum, Christentum und Islam. Freiburg/Basel/Wien : Herder Verlag, 2016.

30 Vgl. in ähnlicher Konzeption aktuell: Lorenz Just: Mohammed : Das unbekannte Leben des Propheten. Stuttgart : Gabriel, 2015.

31 Jordan Sonnenblick: Buddha-Boy. Hamburg : Carlsen 2012, S. 199. Die US-amerikanische Originalausgabe erschien 2007.

32 Zum Begriff vgl. Andrea Heuser: Vom Anderen zum Gegenüber : ‚Jüdischkeit‘ in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln : Böhlau, 2011.

33 Vgl. grundsätzlich: Annegret Völpel; Zohar Shavit (Hrsg.): Deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur : Ein literaturgeschichtlicher Grundriss. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler: 2002.

34 Vgl. Michael Wermke: Jugendliteratur über den Holocaust : Eine religionspädagogische, gedächtnissoziologische und literaturtheoretische Untersuchung. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht 1999.

35 Vgl. dazu etwa: Michael Landgraf: Schalom Martin : Eine Begegnung mit dem Judentum. Wiesbaden : marix-Verlag, 2006, sowie: Alexia Weiss ; Friederike Großekettler: Dinah und Levi : Wie jüdische Kinder leben und feiern. Wien/München : Annette Betz-Verlag, 2011.

36 Peter Sichrovsky: Mein Freund David 11990. Zürich : Arena 1993, S. 116.

37 Ruth Weiss: Sascha und die neun alten Männer. Wuppertal : Peter Hammer 1997.

38 Noemi Staszewski: Mona und der alte Mann : Das Kinderbuch zum Judentum 11997. Düsseldorf : Patmos 2008.

39 Vgl.: Georg Langenhorst: „Ich gönne mir das Wort Gott“ : Annäherungen an Gott in der Gegenwartsliteratur. Freiburg/Basel/Wien : Herder Verlag 2014.

40 Vgl.: Georg Langenhorst: Gegen „Gottesvergiftung“ und „Gottesentzug“ : Notwendigkeit und Wege religiöser Erziehung in der Postmoderne. In: Theologisch-Praktische Quartalschrift 162 (2014), S. 349-358.

41 Kathrin Wexberg: Gottesbilder, S. 303.

42 Vgl.: Gerhard Büttner u.a. (Hrsg.): Handbuch Theologisieren mit Kindern : Einführung – Schlüsselthemen – Methoden. München : Kösel-Verlag, 2014.

43 Vgl.: Georg Langenhorst: Sprachkrise im ‚Theotop‘? Zur Notwendigkeit radikaler Neubesinnung religiöser Sprache. In: Religionspädagogische Beiträge 69 (2013), S. 65-76.

44 Friedrich Hahn: Religiöse Probleme in der Literatur für junge Menschen 11967. In: Josef Rabl (Hrsg.): Religiöse Kinderliteratur. Religionspädagogische Beiträge 1967-1980. Mainz/München: Kaiser-Verlag 1981, S. 15-37, hier: S. 33.

45 Friedrich Hahn: Verkündigung und Kitsch, S. 88.

46 Magda Motté: Religiöse und christliche Elemente in der neueren Lyrik für Kinder, in: Heinz-Jörg Eckhold ; Marlies Göcking ; Willi Fährmann (Hrsg.): Spurensuche. Religion in der Kinder- und Jugendliteratur. Annweiler/Essen : Die Wolfsburg, 1989, S. 9-52, hier: S. 47.

47 Magda Motté: Religion und Gott in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Stimmen der Zeit 216 (1998), S. 853-857, hier: S. 857.

48 Monika Born: Für ein klares Profil religiöser Kinder- und Jugendbücher, in: Jürgen Heumann (Hrsg.): Auf der Suche nach Religion : Die Wiederkehr der Religion im Kinder- und Jugendbuch. Oldenburg : BIS-Verlag 2007, S. 9-19, hier: S. 11.

49 Monika Plieth: Religiöse Vorstellungen in neueren Kinderbüchern zum Thema ‚Sterben, Tod und Traurigkeit’: In: Heumann, Auf der Suche, S. 141-161, hier: S. 158.

50 Reinhold Jacobi (Hrsg.): Kinderbuch und Religion. Regensburg : Verlag Friedrich Pustet 1979, S. 12.

51 Ebd., S. 7.

52 Ebd., S. 10.

53 Ebd., S. 71.

54 Anneliese Werner (Hrsg.): Es müssen nicht Engel mit Flügeln sein : Religion und Christentum in der Kinder- und Jugendliteratur. Mainz/München : Kaiser-Verlag 1982, S. 55.

55 Magda Motté: Alles ist Gleichnis : Arbeit mit moderner Literatur für Kinder- und Jugendliche im Religionsunterricht. In: Religionsunterricht an höheren Schulen 46 (2003), S. 1-19, hier: S. 7-8.

56 Josef Rabl (Hrsg.): Religion im Kinderbuch : Analyse zeitgenössischer Kinderliteratur unter religionspädagogischem Aspekt. Hardebek : Eulenhof Verlag 1982, S. 260.

57 Gabriele Dreßing: Zwischen Bibel und Bilderbuch : Religiöse Kinder- und Jugendliteratur im Spiegel des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises. St. Ingbert : Röhrig Universitätsverlag, 2004, S. 10.

58 Vgl. auch: Gerhard Krems (Hrsg.): Kinder- und Jugendbücher in der religiösen Erziehung. Paderborn u.a. : Schöningh-Verlag, 1981; Mechtild Voss-Eiser (Hrsg.): Religion im Kinder- und Jugendbuch. Hardebek : Eulenhof-Verlag, 1981.

59 Hubertus Halbfas: Das religiöse Kinder- und Jugendbuch, S. 229.

60 Ebd., S. 242.

61 Ottilie Dinges: Religion, in: Dietrich Grünewald; Winfred Kaminski (Hrsg.): Kinder- und Jugendmedien : Ein Handbuch für die Praxis. Weinheim/Basel : Beltz Verlag 1984, S. 373-384, hier: S. 373.

62 Gabriele Dreßing: Zwischen Bibel und Bilderbuch, S. 38.

63 Spurensuche. Religion in der Kinder- und Jugendliteratur, Forschungsgespräche der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“, 16 Bde. Annweiler/Essen : Die Wolfsburg 1989-2007.

64 Vgl. dazu auch: Siegfried Schröer: Jugendliteratur und christliche Erlösungshoffnung : Vom Widerstand junger Menschen gegen die Mächte des Bösen. Essen : Verlag Die Blaue Eule, 2001.

65 Vgl. über die bislang benannten hinaus: Inge Cevela (Hrsg.): Zumutungen : Lene Mayer-Skumaz und die religiöse Kinderliteratur. Wien : Praesens-Verlag, 2006; Matthias Holl: Erzählende Kinderliteratur im Religionsunterricht : Theorie und Praxis zum Einsatz in der Grundschule. Marburg : Tectum-Verlag, 2011; Anne Holterhues: Von Adam und Eva bis zu Thomas und Simpel – religionspädagogische Perspektiven in aktueller Jugendliteratur : Ein Lesecurriculum für die Sekundarstufen I und II. Berlin : LIT-Verlag, 2013.

66 Vgl. Mirjam Zimmermann (Hrsg.): Religionsunterricht mit Jugendliteratur : Sekundarstufe I. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 2006; Dies.: Literatur für den Religionsunterricht : Kinder- und Jugendbücher für die Primar- und Sekundarstufe. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 2012; Gabriele Cramer: Ich dreh die Wörter einfach um. Gedichte im Religionsunterricht : Ein Lese- und Methodenbuch für Kinder von 7 bis 12. München : Kösel, 2012.

67 Vgl. dazu: Georg Langenhorst: Literarische Texte im Religionsunterricht : Ein Handbuch für die Praxis, Freiburg : Herder-Verlag, 2011.

68 Gabriele Dreßing: Zwischen Bibel und Bilderbuch, S. 37.

69 Institut für Demoskopie Allensbach (Hrsg.): MDG Trendmonitor. Religiöse Kommunikation 2010. Allensbach : MDG, 2010, Kommentarband II, Einzeldarstellung der Mediengestaltungen, Ergebnisse repräsentativer Befragungen unter Katholiken sowie der Gesamtbevölkerung, S. 130.

70 Ebd., S. 135.

71 Vgl.: Gerhard Büttner ; Veit-Jacobus Dieterich: Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht 2013; Georg Langenhorst: Kinder brauchen Religion : Orientierung für Erziehung und Bildung. Freiburg/Basel/Wien : Herder-Verlag 2014, S. 30-43.

72 James W. Fowler: Stufen des Glaubens : Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach dem Sinn. Gütersloh : Chr. Kaiser-Verlag 2000, S. 151.

 

Zurück