Fischer-Kröll Ingrid - TheoArt-komparativ

Vom Verdichten zu intellektueller Auseinandersetzung: Patrick Roth

 

Von Ingrid Fischer-Kröll

 

Literatur ohne Religion, das gibt es. Religion ohne die Künste, ohne Literatur, das gibt es nicht. Wer, wie die christliche Literatur, postuliert, dass das Göttliche das Wahre und Schöne ist, wird in seinem Suchen und Fragen zwangsläufig mit der Ästhetik in Dialog geraten. Längst ist selbst in den Schulen die Katechese von einst, die gemeint hatte, Gott definieren zu können, abgelöst von einer narrativen Theologie, die anstrebt, Gott im Erzählen auf die Spuren zu kommen.

Wenn Kunst von Glauben spricht, so tut sie das bleibend anders als Theologie, in irgendeiner Weise versuchen beide aber von etwas zu erzählen, was den Einzelnen unbedingt angeht und gleichzeitig ein Geheimnis ist. Sowohl der Künstler als auch der Theologe mögen in ihren Ausführungen diesen anderen unbekannten Einzelnen nicht vergessen.

Literatur und Theologie gleichberechtigt in einem Seminar zum Thema zu machen, war Anfang der 1990er Jahre eine Neuheit an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Hier hörte ich zum ersten Mal von der Novelle Riverside, die später Mittelpunkt meiner Dissertation werden sollte. Damals gab es kaum Sekundärliteratur zu dem Autor und seiner Novelle, bekannt waren Insidern bis dato eher seine Hörspiele. Rund um die Verleihung des Rauriser Literaturpreises 1992, den Patrick Roth für Riverside erhielt, fanden sich etliche literaturkritische Besprechungen in diversen Zeitschriften. Roth erweckt zunehmend Aufmerksamkeit, besonders Literaturwissenschaftler, Germanisten und Theologen treten in einen Dialog ein.[1]

Es erscheinen umfangreiche Betrachtungen zu Patrick Roths Gesamtwerk; in zwei davon (im Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg, publiziert) wird Riverside ausführlich thematisiert: Zum einen handelt es sich dabei um die Dissertation von Felix Blaser[2]. Triebkraft dieser Arbeit ist die Frage, wie sich das Verständnis von „Auferstehung“ unterscheidet, vergleicht man jüdisch-christliche Offenbarung und kirchliche Tradition auf der einen Seite und jenes des Menschen von heute miteinander. Ein Theologe liest hier Riverside, um sich einer aktuellen theologischen Frage zu stellen. Eine legitime Art, in der sich eine kunstfremde Disziplin mit Literatur beschäftigt. Zum anderen erschien 2012 die Monografie Seelen-Dialoge[3] der Germanistin Michaela Kopp-Marx, die ihr Buch im Untertitel als „Commentary Track“ bezeichnet und es als Lesehilfe zur gesamten Roth’schen Christustrilogie versteht. Satz für Satz wird darin auch Riverside „erklärt“, zahlreiche Quellen unterschiedlichster Disziplinen zeugen von akribischer Arbeit, Hauptgrundlage eine mehrere hundert Seiten umfassende Transkription eines Arbeitsgesprächs mit Patrick Roth, der damit ohne Zweifel authentischste Sekundärliteratur zu Riverside verfasst hatte. Hier ist es eine Germanistin, die keinen einzigen Satz der Novelle entkommen lässt. Eine ebenfalls berechtigte Methode, mit der sich eine Literaturwissenschaftlerin Literatur annähert.

Vom Verdichten zur Exegese, vom Symbol zum Diabol: ein Autor, der sein eigenes Werk „enttarnt“? Was an dem Buch von Kopp-Marx nämlich überrascht, ist die Tatsache, dass der Autor Patrick Roth hierfür selbst mit der Autorin und einem Theologen in einem ausführlichen Interview über die Entstehung seiner Texte genau gesprochen, ihre Konzeption verraten, die inspirierenden Quellen aus Film und Literatur preisgegeben hatte und „in einzelnen Fällen“ ausgeführt hatte, „wie der symbolische Gehalt bestimmter Bilder, Szenen und Konstellationen zu verstehen ist“[4]. Veröffentlicht sind seine unmittelbaren Ausführungen nicht, weshalb kaum zu eruieren ist, wie genau die zeilenweise Analyse von Riverside auf ihn zurückgeht und wie viel an Recherche und Kreativität der Autorin notwendig war, um Roths Aussagen aufs Neue zu interpretieren und analysieren.

Wie ernst ist es Roth damit, dass Leser diese Geschichten mit dem je eigenen, dem Autor unverfügbaren biografischen Kontext zu den ihren machten, damit das Werk tatsächlich zur Vollendung gelangt als dem „größten Lob für einen Autor“[5]. Bleibt sein Anspruch, dass er das Buch verfasst hat als Geschichte für jemanden, „für den man auch denkt und erfindet“, denn „der andere muss mitgedacht, mitbedacht sein“, so Roth in einem transkribierten, unveröffentlichten Interview aus dem Jahre 1992 mit Rainer Weiss im Bayerischen Rundfunk.[6] Weiter meint er dort, dass „wir immer so daher redeten, als sei alles aus uns gekommen. Dabei kommt vieles gar nicht aus uns, bevor es nicht für andere kommt“ (ebda).

Aber – und das kommt entscheidend dazu – nicht in erster Linie vom Autor erklärt, sondern höchstens von ihm auf Nachfrage im Dialog mit dem Leser bestätigt. Wie viel Kraft traut ein Künstler den Bildern seines eigenen Werkes zu, wenn er es gleichsam selbst exegetisch zerpflückt oder zumindest aktiv am „Zerpflücken“ teilnimmt.

 

Vom Verdichten zum Verstehen:

offen für die „heilige Intimität“ zu Lesenden

Eine konkrete „Leseanleitung“ für Roths Werk leitet sich von ihm selbst ab; nicht vom Dozenten Roth, sondern vom Künstler: in seinem Buch Meine Reise zu Chaplin. Es ist zwar Jahre nach Riverside verfasst, aber vorher erlebt. Meine Reise zu Chaplin erzählt davon, wie es Roth als jungen Studenten zu Charlie Chaplin treibt, nur um dem schon Schwerkranken mitzuteilen, was er von dessen Wirken, ja von Kunst allgemein hält, was er in jenem einzigartigen Bild am Endes des Films City Lights verstanden hat.

In seinem Buch Meine Reise zu Chaplin fasst Roth die ihm bedeutendsten Szenen aus Charlie Chaplins Film City Lights[7] in Worte. Er erzählt zunächst, wie der Tramp Charlie seinem Blumenmädchen zum ersten Mal begegnet und sie denkt, er sei ein reicher Mann, weil sie das schwere Auto hörte, aus dem sie ihn aussteigen glaubte. Sie wusste nicht, dass er nur durch das Auto durchgegangen war, um auf die andere Straßenseite zu ihr zu gelangen. Das Mädchen hält ihm eine Blume hin, die sie ihm verkaufen möchte, spricht ihn mit „Sir“ an, wie es sich für einen vornehmen, reichen Herrn gehört:

 

Als er die Blume, die sie ihm hinhielt, versehentlich zu Boden stieß und rasch wieder auflas, sah der Tramp das Mädchen vor ihm ins Knie gehen. Ihre Hand sah er neben dem ausgebreiteten Kleid: nach der Blume tasten. Daß sie blind war, sah er erst jetzt. Aber nicht, wie blind es ihn schon zu ihr zog. Zu ihr hinab sich beugend – die kürzeste Reise je eines Verliebten –, nahm er ihre Hand und hob das Mädchen auf. Sie dankte, tastete nach seinem Revers und zog die Blume ins Knopfloch.[8]

 

Von nun an wird er „Kavalier, Gönner und letztlich Retter“[9], denn er besorgt ihr von seinem vermeintlichen Freund Geld für die Operation, die ihr das Augenlicht zurückgeben soll. Als sie ihn beim letzten Abschied fragt, ob er es ihr gebe, um sie einmal als Sehende wiederzusehen, weiß er, dass sie nun für immer für ihn verloren sein wird. Denn seine Bedeutung für sie verdankt er – der an sich mittellose Tramp – ihrer Blindheit. Ohne Widerstand zu leisten, lässt er sich dann auch festnehmen, als er beschuldigt wird, das Geld gestohlen zu haben. Am Tag seiner Entlassung „trottet er ohne Stock, ohne Hut, völlig zerlumpt an den Schaufensterläden der Stadt entlang, der Straßenecke zu, an der er verhaftet wurde, da ist ihm das Grauen der Monate im Gefängnis, das Unrecht der Bestrafung, tief ins Gesicht gezeichnet“[10]. Von johlenden Kindern getrieben, kommt er an einem Blumenladen vorbei, aus dem Blumenreste gekehrt werden. Er wird einer Rose gewahr, die im Rinnstein liegt und bückt sich, um sie aufzuheben. Im Blumenladen beobachtet eine junge Frau den zerlumpten Mann und lacht über seine ungeschickten Bemühungen, sich vor den Gemeinheiten der Buben zu erwehren. Da erkennt er plötzlich in der jungen Frau sein Blumenmädchen, das nun geheilt ihrer Arbeit nachgehen kann. Er bleibt stehen und „auf sein erstes Erschrecken über das Unverhoffte folgt Freude. Nur die. Erwartet nichts von ihr. Ist nur die. Kein Zeichen gibt er, wer er ihr sei. Er lächelt sie an nur. Steht da. Die Kehrrichtrose in der Hand. Von ihren Augen läßt er nicht ab.“[11]

Die junge Frau lacht über den seltsamen Verehrer, will ihm eine frische Blume schenken und ein Geldstück, aber er sieht sie immer nur lächelnd an. Die Blume fischt er sich aus ihrer Hand, sie jedoch, schon fast verärgert, weil er das Geldstück nicht nimmt, ergreift sein Handgelenk und drückt ihm das Geld in die Hand:

 

Ja, sie patscht ihrem armen Mann noch die Hand, begütigend, gute Tat. Fühlt diese ... Hand – Und da! Jetzt!! ... SPRINGT es über auf uns, die wir nicht sehen. Denn wir sehen nicht, was sie sieht. Sondern fühlen, was sie ertastet, mit ihrer Hand jetzt erfährt. Erfahren mit ihr, was in sie fährt wie in uns.

Ernst sieht sie ihn an

Fühlt und streicht seine Hand

Läßt nie mehr jetzt ab

von den Augen ...

Denn da:

In diesem Augenblick:

war das ganz Andere. Ganz Andere. ... Und alles Sehen half nicht mehr, auch der hilflosen Frau nicht, die

erkannt hatte

Mit der Hand an der Wange

ihn anstarrend.

Sekunden so.

Dieses Bild.

Und den Händen eigenes Bild jetzt: Ihre Hand liegt auf seiner. Über die Knöchel der Finger

fährt sie ihm streifend

tastend den Arm

hoch zur Schulter,

kreuzt rasch zum Revers

in das blind

sie die Blume flocht.

Damals.

Verlegen sieht er sie an und lächelt. Hält quer-verlegen vor seinen Lippen die Rose. Auf ihr "You?" nickt er still.

"You can see now?" fragt

der Tramp,

und das Mädchen

antwortet ihm:

"Yes, I can see now."

Alles hat sich verwandelt, auch der Sinn dieser Worte. Gefunden hat sie den, der verloren war. Verloren hat sie den, der gefunden war. Sie hält seine Hand, läßt nicht los, was sie trennt.

Denn sie sieht.

Wird gesehen.

Läßt ihn nicht los.

Und langsam verdunkelt sein Bild. Erst werden unsichtbar Stirn und Mund, dann das Auge, dann aber das Ohr, zuletzt die Rose.[12]

 

Diese letzte Szene aus City Lights nennt Roth den „heiligsten Moment der Filmgeschichte – der das filmische Sehen letztlich verneint“. Denn im Moment „des Haltens, Gehaltenwerdens, Erkennens“ springt ein Funke über, der das Unsichtbare sichtbar und erlebbar macht. Wir erkennen im „Halten der Hände“ den anderen, der vorher nicht zu sehen war. Roth, der im Laufe seiner Ausbildung wohl eine Unzahl filmischer Tricks und Kniffe gelernt und erprobt hat, der die Kamera beherrscht, macht hier einen Kniefall vor Chaplins Genialität, mit der der Regisseur und Drehbuchautor zu verstehen gibt: Das Wichtigste, das, worauf es ankommt, kann der Film mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, letztlich nicht darstellen: „Denn wir ‚sehen‘ jetzt, was nicht zu sehen war. Wir fühlen. Hier, in diesen Händen, in solchem Berühren war das Unsichtbare: sichtbar gemacht.“[13]

Die Erkenntnis, die Roth in diesem Moment erfasst hatte, musste so umwerfend für ihn gewesen sein, dass es ihn drängte, Chaplin persönlich mitzuteilen, welche Wahrheit City Lights ihm, dem nach filmischer Perfektion suchenden Regiestudenten Patrick Roth, offenbart hatte, was diese eine Berührung für ihn von nun an bedeutete: In der kurzen, stummen Sequenz der Berührung liegt für Roth eine umfassende kunsttheoretische Erkenntnis: „Denn das ist Kunst: Im höchsten Moment verneint sie ihre eigenen Mittel, gibt auf – und geht damit über das Ziel.“ (Chaplin 68)

Der Film spricht dann: „Ich bin blind.“ (Chaplin 68). Roth meint, dass Chaplin diesen Film „nur wegen dieser Szene geschaffen habe“, dass er „alles darauf hinarbeiten“ ließ. Er geht noch weiter, wenn er feststellt, diese Szene sei so einmalig, so genial, sei die „Essenz“, sodass man durchaus „übertreiben“ dürfe und behaupten, Chaplin „hätte nur für diese Szene gelebt“.[14] Hier ist sie das Wesentliche, die ´Essenz´ (Chaplin 69). Roth spricht hier nicht von irgendeiner künstlerischen Hochleistung, sondern einer sprichwörtlich lebenswichtigen Erkenntnis, sodass er sich in Meine Reise zu Chaplin selbst in einem Traum sagen lässt: „Wer will schon leben, wenn es den [Film City Lights] nicht … gibt“ (Chaplin 55), eine Liebeserklärung an den Regisseur Chaplin, die größer nicht sein könnte.

Und Chaplin nimmt sie an, diese Liebeserklärung eines noch unbekannten jungen Mannes, der sich eingelassen hatte auf den Film: Wider alle Erwartung antwortet Chaplin, dem man den Brief überbringen lässt, noch am selben Tag: mit einem Foto und einer persönlichen Dankeswidmung. Aber mehr noch: Chaplin habe geweint, nachdem ihm seine Frau Oona Roths Brief vorgelesen hatte, berichtet seine Frau. (vgl. Chaplin 85)

Hier ist sie, die „heilige“ Intimität zwischen Autor (hier: Regisseur) und Rezipient, die Teilhabe am Wesentlichen, das Erfahren von Kunst.

 

Riverside: das VorBILD aus City Lights neu verdichtet

Auch in Riverside ist die „Berührung“ alles entscheidendes Thema. Tatsächlich erlebt sie Diastasimos als Ein- und Umbruch, als jenes wesentliche Ereignis, das ihm einen Neubeginn ermöglicht. Der Tramp Charlie hat das Licht, in dem er lebte, mit der Dunkelheit des Gefängnisses vertauscht, er hat nicht verraten, was er mit dem Geld gemacht hat. Damit hat er seiner großen Liebe die Operation ermöglicht, durch die sie aus der Dunkelheit der Blinden ins Licht der Sehenden geholt werden konnte. Er teilt freiwillig mit ihr ihr Schicksal, obwohl er damit rechnen muss, dass er sie dadurch für immer verlieren wird. Jetzt aber, da sie geheilt ihn in der Berührung wiedererkennt, dreht sich die Sache um: „Jetzt aber umgekehrt: Als Sehende erkennt das Mädchen und holt den Gefangenen für immer aus seiner Dunkelheit.“[15]

Mit diesem Bild beendet Chaplin seinen Film, denn es gibt nichts mehr zu sagen. Wie Charlie und seiner Virginia in der Berührung, im Erkennen neues Leben in die Glieder fährt, so erlebt auch Diastasimos durch die Wärme der Hand, die sich auf seine Schulter legt, ein Auferwecktwerden von den Toten. Roth beschreibt selbst am besten, wie solche Berührung zu deuten ist: „Solches Erkennen ist Totenerwecken. Und darüber gehst du nicht hinaus. Dafür ist alles, was ist. Lebendig zu werden durch dich. Dich zu leben.“[16]

Schreiben ist „Totenerweckung“ im Leser, im Autor, so meint Roth immer wieder.[17] Das, was im Autor, im Leser „tief vergraben“ ist und „kein Bewusstsein mehr streift“, das will geschrieben, gelesen werden. Von Bedeutung ist dieses Tote deshalb, weil es „unabhängig von uns“ unser Leben entscheidend mitbestimmt.[18] In dem Moment, wo der Autor dies entdeckt, „schreibt sich der Stoff von selbst“[19]. Das bedeutet für den Leser, dass er in dem Moment, wo das Geschriebene versprachlicht, was unentdeckt im Leser schlummert, begreift, und zwar nicht ein bisschen etwas, sondern alles, ganz, dass in ihm Totes erweckt wird.

Und wie es den Lesern ergehen soll, wenn sie der Wahrheit begegnen, so ergeht es Diastasimos: In der Erzählung über Jesu Besuch in seiner Höhle erinnert sich Diastasimos daran, dass Jesus ihm zwar konsequent nicht mit Worten auf die Frage antwortet, was er und seine beiden Jünger bei ihm zu suchen hätten, dafür aber Antwort gibt, indem er in ungeheuerlicher Weise handelt. Jesus tut, als gäbe es den Aussatz nicht und greift mit der Hand (!) mit kräftigem Druck Diastasimos’ kranke Schulter an. Hier liegt die Essenz in Riverside und der Leser begreift: Nichts von dem, was Diastasimos für bestimmend für sein Leben gehalten hat, hat Gültigkeit für diesen Jesus. Mit dieser ungeheuerlichen, weil von höchster irdisch-religiöser Instanz verbotenen Geste macht Jesus das Unberührbare zum Berührbaren. Mit Diastasimos und allen anderen Figuren der Novelle hat der Leser verstanden, dass Aussätzigsein ein Leben in Isolation bedeuten muss, ein Unleben für jeden Menschen, ein Leben im Gestorbensein, ein totes Lebendigsein. Wer bis hierher gelesen hat, stimmt zu, umso mehr dann, wenn er die Praxis des alten Judentums kannte, an Lepra Erkrankte an den Rand der Siedlungen zu schicken. Deshalb versteht der Leser auch Diastasimos Entsetzen bis in Mark und Bein ob dieses massiven Tabubruchs Jesu. Diastasimos verbotenster Wunsch findet Erfüllung: Endlich berührt ihn einer dort, wo die Ursache seines Leidens liegt, ekelt sich nicht vor ihm, hat keine Angst vor ihm, tut, wozu er selbst nicht fähig ist: Jesus scheut den Kontakt mit Aussatz nicht, er greift mitten in die eitrige, kranke Hautpartie hinein, nicht zögernd und flüchtig, sondern energisch und ruhig. Diese Berührung hatte Diastasimos bereits einmal vollkommen aufgewühlt und sie tut es jetzt im Erzählen wieder, die Erinnerung daran genügt. Sie ist ihm so gegenwärtig, dass er erregt gestikulierend erzählt:

 

So, versteht ihr? Faßt er mich, den Aussätzigen, an. Ohne Furcht, ja eigentlich – denn er brach ein, so fühlt sich das an: Einer bricht in dich ein! – eigentlich unverfroren. Denn das war unerlebt, lange Jahre lang unerlebt. Denn ab und zu waren welche gekommen, Neugierige, selten genug, oder einer hatte mir etwas zum Essen gebracht, aber immer auf Abstand, grad so wie ihr. Und das ist schon nah, wie ich euch ja gesagt, das ist schon mutig. Aber niemand wie er, der mich anfaßt. Grad so, als verneine er unverschämt, woran ich die Jahre geglaubt: den Aussatz, der meinen Körper besitzt. Als sagte er in einer Bewegung – denn so erfuhr ichs –: „Du Tor. Denn ich bin gekommen, dich von deiner Krankheit zu erlösen.“[20]

 

Die Begegnung mit Jesus erinnert Diastasimos an seine Vergangenheit, seine Geschichte mit all ihrem Scheitern und Gelingen, mit enttäuschten und erfüllten Hoffnungen.[21] Seit dem Ausbruch seiner Krankheit war er gewohnt, dies alles im Lichte seines Aussatzes zu deuten, mit seinem Schicksal zu hadern, sich verbittert zurückzuziehen. Er glaubte, das Recht dazu zu haben, schließlich hielt er sich für einen Gottvergessenen. Er erspart es sich selbst, sich mit seiner Geschichte und seiner Krankheit weiterhin auseinander zu setzen. Und nun das: Jesus tritt auf und wirft alles über den Haufen: Indem er die wunde Stelle berührt, die Diastasimos im Inneren so verletzt hat, dass er die Nähe von anderen Menschen, nach denen er sich im Grunde seines Herzens so sehr sehnt, gar nicht mehr aushalten kann, bringt er Diastasimos’ Selbstverständnis ins Wanken. Diastasimos fühlt sich dabei einerseits gestört, er hat sich daran gewöhnt, so zu leben und verbietet sich Einmischung von außen, andererseits merkt er, wie befreiend er diese Berührung erleben kann, wie plötzlich alles einen neuen Sinn bekommt, wie unrecht er hatte, als er meinte, sein Leben wäre nur mehr Tod. So lässt er diese unverschämte Berührung zu, die alles negiert, besonders die religiösen Reinheitsgebote, die gerade für einen Rabbi wie Jesus absolute Verbindlichkeit haben müssten, lässt sich in ihr von diesem Fremden in einer Bewegung sagen: „Du Tor“[22]. Allein in einer Geste wohlgemerkt, denn noch hat Jesus kein Wort gesprochen, und doch scheint Diastasimos ganz genau zu wissen, worum es geht. Jede Bewegung Jesu schildert er Andreas und Tabeas und er verlangt von ihnen, dass sie wortwörtlich aufschreiben, was ihm die Berührung Jesu zu verstehen gegeben hat. In seiner Erinnerung wird die Geschichte so real, als geschähe sie gerade wieder. Er will, dass die beiden jungen Männer am eigenen Leib nachspüren können, was ihm damals widerfahren ist. Jetzt ist er in seinen Schilderungen nicht mehr zu bremsen, auf die relativierenden Einwürfe von Andreas reagiert er kaum noch. Zu sehr bewegt ihn das, wovon er erzählt, und er fährt fort:

 

Der kommt, als gäb es den Tod nicht, all das nicht, was man Jahre gefürchtet und weshalb die anderen mich bannen, ja mich, wie ihr wohl wißt, gesteinigt hätten, wäre ich damals entdeckt worden im Hof des Tempels. Denn für die war ich Tod, und wer mit mir in Berührung kommt, der wird sein wie ich und verbannt sein wie ich und ausgewiesen, und jedenfalls nie mehr angefaßt von Lebendigen. Und dieser bricht durch und will mich, der ich bin, ja wenigstens noch am Leben bin, will mich brechen. So fühlt ich, denn er war machtvoll und kam in seiner Macht. Ich aber sprach: „Rühr mich nicht an, Meister. Weißt du nicht, wer ich bin und daß mein Körper unrein ist?“ Und er spricht nicht, läßt aber los, weil ich mich unter seiner Hand ihm weggewunden habe, ihn zu schonen, so gebe ich vor. Als sei er der Tor, versteht ihr? Ich geb ihm den "Tor" zurück, sage, indem ich mich unter der Hand wegwinde: Du Tor, willst du meine Krankheit, den aussätzigen Körper?" Sags aber nicht, aber habe getan, habe gehandelt.[23]

 

Diastasimos erinnert sich daran, dass er sich bereits damit abgefunden hatte, wegen seiner Krankheit schon mehr zu den Toten als zu den Lebendigen gezählt zu werden. Er war nicht nur tot, sondern auch todbringend und musste die Nähe der anderen meiden, um nicht auch diese mit in den Abgrund zu reißen. Wie wenig Gedanken hatte er sich früher als gesunder junger Mensch doch um die Aussätzigen gemacht, wie selbstverständlich war es ihm, diese ins Abseits zu schieben. So wie Andreas und Tabeas es heute noch tun, so glaubte er sich damals im Recht. Jetzt jedoch versucht er, ihnen eindringlich zu schildern, wie demütigend, wie unmenschlich brutal diese Ghettoisierung ist, die allen gottesfürchtigen Juden selbstverständlich und gerecht erscheint, die abstempelt und ausgrenzt. Nur wer begreift, in welcher verzweifelten Einsamkeit sich ein solcherart geächteter Mensch befindet, kann nachempfinden, wie ungeheuerlich Diastasimos Jesu Handeln erlebt haben musste. Jesus gibt Diastasimos, wonach der sich am meisten sehnt: Angenommensein mitsamt seiner schrecklichen Krankheit, die er selbst nicht ansehen kann. Aber Jesus begleitet sein Tun nicht mit schönen Worten, plaudert nicht von Mitleid und Hilfsbereitschaft, sondern erweckt den Anschein, als wäre für ihn nichts selbstverständlicher als eben diesen Kranken an seiner Schulter zu berühren. Diastasimos hat zunächst keine Ahnung, wie er mit dieser neuen Nähe umgehen soll und wendet sich ab. In seinem Herzen weiß er bereits, dass er von diesem Jesus bald erfahren wird, dass seine Krankheit gar nicht so endgültig ist, wie er seit langem glaubt, dass sie nicht das letzte Wort über sein Leben gesprochen hat. Er ahnt, dass noch ein anderer Weg möglich gewesen wäre, der ihn nicht so lange in dieser Einsamkeit gehalten hätte. Deswegen entzieht er sich Jesus: Wenn er zulässt, dass der ihn berührt, wird er ihm Recht geben müsse, wird eingestehen müssen, dass er tatsächlich ein Tor gewesen ist. Er gibt vor, sich Jesus zu entziehen, um diesen vor dem Aussatz zu schützen. Diastasimos will Jesus lächerlich machen, denn offensichtlich hat der keine Ahnung, dass er mit dieser leichtsinnigen Aktion sein Leben riskiert. Dieses ganze Geschehen läuft ab ohne ein Wort und doch scheint es Diastasimos in der Erinnerung, als hätte ein äußerst dichtes Gespräch stattgefunden. So ist er auch nicht zufrieden, als sich zeigt, dass das einzige Zitat, das Tabeas aus Diastasimos’ Zeitzeugnis für seinen schriftlichen Bericht festhält, „Meister, mein Körper ist unrein“[24], ist.

Eine wunderschöne Szene, die Roth – so darf angenommen werden – Chaplins Schlussszene in City Lights verdankt. Hier erkennt die junge Frau in einer einfachen Berührung jenen Mann, den sie geliebt hat, mehr noch: jenen, der ihr das neue Leben geschenkt hat. Dass sie wie alle anderen sehen kann, als integriertes Mitglied der Gemeinschaft einer ganz gewöhnlichen Arbeit nachgehen kann und nicht mehr am Rande stehend betteln muss, verdankt sie allein der Großzügigkeit dieses Mannes, seiner Liebe, die alles für sie gegeben hat, sogar die eigene Freiheit: ganz im Wissen, dass er keine Dankbarkeit, keinen Nutzen für sich daraus ziehen wird. Im Gegenteil, er weiß, dass sie, die ihn als Blinde kennen und lieben gelernt hat, ihn als Sehende nicht wiedererkennen wird. Die Berührung jedoch hat möglich gemacht, was den Augen verwehrt geblieben ist: Die junge Frau erkennt im verwahrlosten Tramp den Grund ihres Lebens. Die Zuseherinnen und Zuseher von City Lights verstehen mit ihr und können förmlich nachspüren, wie diese Berührung einfährt in die geheilte Frau und ihr plötzlich der vermeintlich nutzlose Landstreicher zu allem wird, weil dieser einfache Hautkontakt ihrem Leben Sinn gibt, weil er das Rätsel löst in der Frage, wo denn der geblieben ist, dem sie das neue Leben zu verdanken hat.

Den Leserinnen und Lesern von Riverside macht es Roth nicht so einfach: Sie müssen erst bis zum Ende der Geschichte warten, damit sie begreifen, warum Diastasimos in der Berührung durch Jesus Ähnliches zu erleben scheint: Wie sollte solches Erkennen möglich sein, wo Diastasimos Jesus doch zum ersten Mal sieht? Ein Erkennen, das ins alte Leben einbricht, ihm einen Spiegel vorhält, alle Selbstverständlichkeiten in Frage stellt, alles umbricht und neues Leben aufbricht? Noch können wir es nicht wissen, aber Diastasimos hat es erfahren und deshalb bereits erkannt.

Der alte Mann scheint nun in seinen Erzählungen, seinem Bericht für die Nachwelt, nicht mehr zu bremsen zu sein. Er erinnert sich weiter, weiß, dass er noch einmal – Jesus ausweichend – gefragt hat, ob sie gekommen wären, ihn zu heilen. Und jetzt antwortet ihm Jesus klar und deutlich: „So will es mein Vater“[25]. Als er auf das drängende Rückfragen des Diastasimos bestätigt, dass es sich bei diesem Vater um den jüdischen Gott handelt, mit dem Diastasimos eine so unheilvolle Geschichte erlebt hat, steigt in Diastasimos wieder bebender Zorn auf. Dieser Name „Gott“ lässt ihn in der „Erinnerung“[26] auf ein Neues leibhaftig erleben, was er seit Jahren zu vergessen sucht: die

 

Erinnerung an mein Kriechen und mein Verzweifeln und Niedergetretensein, an meine Entdeckung jenes Morgens (...), die maßlose Angst jenes Morgens und der Aufbruch tags darauf, das Hinziehen nach der Stadt, das ständig-verfolgte Prüfen, der Wahnsinn, wenn ich sah oder zu sehen glaubte: der Aussatz greift um sich. Und das Hoffen auf IHN, diesen Gott, der doch keinen Grund hatte, mich zu strafen, und das Geschlagenwerden im Hof, und das Gesicht des Soldaten, der mir aufriß mit seiner Peitsche den Rücken und – haßerfüllt wiederum und erhitzt über die Entdeckung des Aussätzigen ihm zu Füßen, und also auszustampfen das Ungeziefer, die Pest – niedergejagt auf mich sein handumgriffenes Schwert. All das in meinen Adern, versteht ihr, all das jetzt.[27]

 

Diastasimos erzählt hier noch einmal, was die anderen aus seinen früheren Erzählungen schon wissen, nur scheint diese Erinnerung, ausgelöst durch den Namen Gottes aus Jesu Mund noch schmerzlicher. Jesus, der eben noch alles Unheilvolle auf den Kopf gestellt hat, zementiert für Diastasimos nun wieder das alte Gottesbild ein. Mit diesem Gott kommt Diastasimos’ Schmach wieder unbarmherzig deutlich zum Vorschein, denn „all das hatte doch gesehen, geprüft und gewollt jener Gott, von dem er, Jesus, sprach und in dessen Namen er mich jetzt heilen wollte“[28].

Er erinnert sich jetzt, da er Andreas und Tabeas von jenem Tag berichtet, dass er sich verzweifelt dagegen gewehrt hat, den grausamen Gott, der mit Aussatz um sich wirft, mit Jesus in Zusammenhang gebracht zu sehen. Der Hinweis auf Gottes Vaterschaft scheint das Fünkchen Hoffnung in ihm auszulöschen, das diese unglaubliche Berührung unter all dem Schutt von Verbitterung und Versteinerung entfacht hat. So schreit er denn auch: „Du bist nicht von IHM, denn ER will mich nicht. So will ER mich, siehst du, dein Gott!“[29]

Hier zeigt sich Roths Weiterentwicklung des Chaplin’schen Themas, der Erkenntnis in der Berührung – noch stimmt der Verstand dem nicht zu, was das Herz bereits erkannt hat, Diastasimos nimmt sein Bekenntnis zurück, Jesus kann den Kranken nicht wider seinen Willen heilen und muss unverrichteter Dinge weiterziehen. Aber er wird nicht aufgeben, es wird noch einmal eine Berührung geben und dann wird Diastasimos endgültig erkennen, was die Wahrheit seines Lebens ist. „‘Ich sehe’, sagt Johannes, und lässt ihn nicht aus den Augen dabei, ‚ich seh die Vergessenen, die sie gebären, so lang sie vergessen sich dünken. Dann aber erinnert sie Einer und straft sie nicht ihres Vergessens, weil sie vergessen waren. Sondern vergibt und holt die Verlorenen zu sich und erinnert sie alle.‘“[30]

Damals meinte der Hauptmann noch, wie sehr sie sich in ihren Weltanschauungen doch voneinander unterscheiden würden, doch interessierte ihn auch, wer denn der „Eine“ sei, „von dem er [Johannes] im Gleichnis gesprochen“ hatte.[31] Jetzt – in der Gegenüberstellung mit Jesus-Diastasimos bekommt er Antwort auf diese Frage: Dieser „Eine“ ist Gott, der den verlorenen Hauptmann in seine Vergangenheit zurückführt und verloren Gegangenes mit ihm einholt, damit er seine Schuld nicht länger verdrängen muss, sondern sich selbst zu verzeihen lernt und den von ihm Geschlagenen in einer ernst gemeinten, leibhaftigen Geste um Verzeihung zu bitten wagt:

 

Und der Gott, der da lag wie ich [Diastasimos] einst, zog ihn an mit großer Kraft. Zog ihn an, daß er auswich nicht mehr, sondern stehenblieb, dieser Hauptmann, angezogen wie ein Verlorener. So daß er schließlich nicht länger stehenblieb, sondern erinnernd zuschritt, auf den Aussätzigen zu, bis ganz vor ihn hin, und dort stehenblieb abermals und niedersah auf mich mit seinen Augen. Und dann, ungeheuerlich, mit seinen Händen griff unter die Achseln des Aussätzigen und ihn aufrichtete und mich aufhob, daß ich dort oben, auf jener Anhöhe, in vermeintlicher Sicherheit, mit jeder Faser in mir spürte, und seinen Atem atmen konnte, als er mich richtete und mich aufhob vor ihm.[32]

 

Die Begegnung mit Jesus hat nicht nur den Juden Diastasimos verändert, sondern sie verleiht auch dem Heiden, dem Soldaten des Pilatus, übermenschliche Kräfte. Wie sonst wäre es erklärbar, dass er einem Aussätzigen die Hand reicht, um ihm vom Boden aufzuhelfen, wo er vor ihm im Staub liegt. Der Römer packt den hochinfiziösen Mann so energisch an, um ihn aufzurichten, ihm sein Rückgrat, seine Würde wiederzugeben, dass Diastasimos es in seinem vermeintlich sicheren, von außen unberührbaren Versteck bis in sein Innerstes hinein leibhaftig erschütternd miterleben kann: Jener, der ihm einst tiefste Demütigung zugefügt hat, bittet ihn nun um Verzeihung, indem er berührt und aufrichtet, was Diastasimos vor allen verstecken wollte. Kein Aussatz der Welt, so wird es nun offenbar, kann einem Menschen sein Menschsein nehmen. Das zeigt der Römer dem Diastasimos mit seinem Handeln, das als Ganzes eine tiefe Bitte um Vergebung ist, die als solche nur an den freien Willen einer freien Person gerichtet sein kann. So wird in der von Jesus vorbereiteten und ermöglichten Umarmung des blutenden, gequälten Fremden der Feind von einst zum rettenden Freund, der Diastasimos seine Identität zurückgibt:

 

Und aufgerichtet sah ich den Hauptmann umarmen den aufgehobenen Knecht und Aussätzigen, den Jesus-und-Diastasimos, beide in eins erinnert, und sah ihn, den Hauptmann, in der Umarmung, umarmt werden vom Knecht und Jesus, dem mit Aussatz befleckten, und tief fuhr da in mich wie deren Arme ineinander gefahren: diese Umarmung, die eine und einzige, wahre.[33]

 

In der versöhnenden Umarmung werden sie schließlich eins: Da der heidnische Hauptmann einen Platz gefunden hat im Juden Diastasimos, braucht er sich nicht mehr im krankhaften Geschwür an Diastasimos bemerkbar zu machen, sondern kann ihm Auge in Auge entgegentreten und sich mit ihm konfrontieren. Als Diastasimos begreift, was Jesus für ihn getan hat, wirkt die Kraft des stellvertretenden Leidens. Er sieht, dass selbst Jesus, der „Sohn Gottes“, dem Leiden auf der Welt nicht ausweicht, selbst dann nicht, wenn es für ihn lebensbedrohlich wird. Nicht, um die Menschen zu demütigen, bleibt Gott ohnmächtig angesichts des Unrechts in der Welt, es ist die Freiheit seiner Schöpfung, um derentwillen er nicht beliebig eingreifen darf. Dieses große Geschenk, das er dem Menschen unbedingt zugesagt hat, wird er um keinen Preis je zurückziehen. Diastasimos hat das Geheimnis dieses Jesus am eigenen Leib erfahren: Mit dem „Hauptmann“ hat der Gott Jesu Christi, der ihn mit sich selbst durch den hohen Einsatz seines Lebens versöhnt hat, bei Diastasimos Raum gewonnen, Diastasimos kann wieder glauben.

Diese Umarmung scheint für Diastasimos „alles zu sein“, ihm alles Ungeklärte deutlich zu machen. Aufrecht stehend, seiner beraubten Würde wieder Herr, bemerkt er, dass sein Aussatz verschwunden ist. Selbst überwältigt, ruft er Tabeas und Andreas zu: „Denn wie ich oben mich stehend fand, wie erhoben, so auch: geheilt. Geheilt! Könnt ihrs ermessen? Geheilt!!“[34]

 

Kunst-Interpretation als subjektive Verdichtung durch Nacherzählung

Patrick Roths Werk und allen voran Riverside ist so zu lesen und zu beschreiben, wie Roth selbst in Meine Reise zu Chaplin Charlie Chaplins City Lights ansieht und beschreibt: unmittelbar, direkt, unverstellt, nacherzählend, hin und wieder mit einem Kontextverweis zu einer der Quellen, aus der sich ein Werk speist. Roths Werke betreffend sind das vor allem die altbekannten: Filme und die Filmstadt L.A., Literatur, Tiefenpsychologie und Bibel.

Im Gegensatz zur Interpretation, die gleichsam auf der Metaebene vorgibt, eine Geschichte intellektuell rational begriffen zu haben und sie deshalb erklären zu können, bleibt die Nacherzählung in der Geschichte, ertastet sie rational, emotional und im intensivsten Fall auch physisch, lässt manches weg und verdichtet das, was (subjektiv) am Bedeutendsten scheint. Vielleicht ein Kapitel, vielleicht nur ein Detail, ein Satz, ein Wort, ein Bild, mit dem der Autor beim Lesenden gleichsam andockt, in dem sich zwei Menschen (Autor und Leser), die nichts miteinander gemein haben, blind verstehen, ohne sich darüber austauschen zu müssen. Hier gelingt eine „heilige“ Intimität zwischen Autor und Leser, die mehr Erkenntnis für den Einzelnen schafft als alle wissenschaftliche Forschung. Wer solcherart Kunst zu schaffen vermag, ist wahrhaft Künstler und unterscheidet sich darin vom Wissenschaftler.

Er weckt im Rezipienten den Ruf, dem Künstler mitzuteilen, „ich habe Dich verstanden, ich will dir davon sprechen, wie wichtig mir das geworden ist, was Du geschrieben hast, es passt zu mir, wie für mich gemacht und war doch nicht für mich gemacht“. Dann berührt die Heilung des Diastasimos nicht nur aus Solidarität mit dem Protagonisten, sondern weil am eigenen Leib erlebt, verstanden wird, was „Heilung“ bedeutet.

 

[1]     Georg Langenhorst, Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood. Münster 2005; ders., Sehnsucht nach dem „Jesus Cognito“. Zur Rückbesinnung auf den Jesus der Geschichte. In: Peter Tschuggnall (Hg.), Religion – Literatur – Künste III. Verlag Mueller-Speiser. Anif/Salzburg 2001, 173-193; Walter Falk, Patrick Roths dichterische Deutung der Auferstehung Christi und ihre mögliche historische Entsprechung. In: ebd. 208-219; Ingrid Kröll, Patrick Roths Riverside. Ein Blitzlicht auf die Christusnovelle. In: ebd. 220-229.

[2]     Felix Blaser, Zum Verständnis von Auferstehung. Eine theologische Auseinandersetzung mit Patrick Roths Poetologie und seiner Christusnovelle Riverside. Königshausen & Neumann. Würzburg 2011.

[3]     Michaela Kopp-Marx. Seelen-Dialoge. Ein Commentary Track zu Patrick Roths Christus-Trilogie. Königshausen & Neumann. Würzburg 2012. Im Folgenden zitiert als ‚Seelen-Dialoge‘.

[4]     Seelen-Dialoge, Vorwort, 6.

[5]     Roth; Interview zu Johnny Shines oder die Wiedererweckung der Toten.

[6]     Transkript, 6.

[7]     Charlie Chaplin, Lichter der Großstadt (orig. City Lights), ca. 83 Minuten, schwarzweiß, USA 1931, in: Klaus Brüne (Begründer), Lexikon des internationalen Films, vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Hamburg 1995, Band L-N.

[8]     Meine Reise zu Chaplin 57f.

[9]     Vgl. Meine Reise zu Chaplin 58.

[10]    Vgl. Meine Reise zu Chaplin 59.

[11]    Meine Reise zu Chaplin 62f.

[12]    Meine Reise zu Chaplin 65-67.

[13]    Meine Reise zu Chaplin 68.

[14]    Vgl. Meine Reise zu Chaplin 69.

[15]    Meine Reise zu Chaplin 70.

[16]    Meine Reise zu Chaplin 70.

[17]    Vgl. etwa Frankfurter Poetikvorlesungen 2002 1/5, youtube [abgerufen am 07.03.2014].

[18]    Ebda.

[19]    Ebda.

[20]    Riverside 49f.

[21]    Der Kranke erlebt aber auch bislang ungekannte, bedingungslose Liebe, die unerwartet aus dem Nichts kommt. Es trifft hier das amerikanische Sprichwort zu: „Love comes unseen“, vgl. Meine Reise zu Chaplin 7. Dieses stellt Patrick Roth als ein Motto an den Anfang von Meine Reise zu Chaplin, ein Buch, das v.a. dem wunderbaren, unverhofften Wiedererkennen zweier Liebender gewidmet ist, das im (für die Zusehenden) zufälligen Aufeinandertreffen ihrer Hände geschieht.

[22]    Riverside 50.

[23]    Riverside 51f.

[24]    Riverside 52.

[25]    Riverside 52.

[26]    Riverside 52.

[27]    Riverside 52f.

[28]    Riverside 53.

[29]    Riverside 53.

[30]    Riverside 78f.

[31]    Vgl. Riverside 79.

[32]    Riverside 84.

[33]    Riverside 84.

[34]    Riverside 84.

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