Auer Karl Heinz - TheoArt-komparativ

Auer Karl Heinz

Der Mensch im Recht


Interpretationsmuster im Spannungsfeld gesellschaftlicher Entwicklungen

Die Notwendigkeit, grundlegende Fragen rechtsanthropologischer und rechtsethischer Natur anzusprechen, ergibt sich aufgrund der Themen des diesjährigen Forums wie auch aus Meldungen, die Tag für Tag auf uns einbrechen: Finanzkrisen, die an den Fundamenten rütteln; Terroranschläge, die inmitten von Zivilgesellschaften ausgeführt werden: zuletzt Paris, Belgien, Orlando; Sportveranstaltungen, bei denen ein massives Polizeiaufgebot notwendig ist, um Gewalt in Grenzen zu halten; Migrationsströme, die sich in ungeahntem  Ausmaß Bahn brechen; Kriege zwischen Staaten, denen wir das Material dazu liefern; Megadeals mit Staaten und Politikern, die auf Menschenrechte – salopp formuliert – pfeifen; Geschäftspraktiken von Konzernen, die Betrug zur Methode machen, uvam. Unter solchen Gegebenheiten ist die Frage nach dem Menschen eine ganz wesentliche. So hat sich die Thematik dieses Vortrags ergeben: Der Mensch im Recht – und zwar im Spannungsfeld unterschiedlicher Interpretationsmuster aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen.

Zunächst werde ich den Menschen im Recht aus einer rechtsphilosophischen Perspektive erörtern, dann einen aktuellen Kontext in Hinblick auf  Migration, Wertekonflikte und Terrorismus herstellen. Die Rechtspflege hat beides zu berücksichtigen: den Menschen als personales und soziales Wesen und die Rechtsordnung als konkreten Rahmen, in dem er sich verwirklichen und entfalten kann.[1]

 

Der Mensch im Recht

Als der Rechtspolitiker, Rechtsphilosoph und Strafrechtswissenschaftler Gustav Radbruch (1878-1949) vor 90 Jahren (1926) seine Heidelberger Antrittsvorlesung mit dem Titel „Der Mensch im Recht“ hielt, hat sich damit eine neue Rechtsphilosophie angekündigt, die in der Folge immer mehr Beachtung gefunden hat: Nicht der real existierende Mensch ist sein Thema, sondern das Bild vom Menschen, welches dem Recht vorschwebt. Dieses Bild hat sich in der Geschichte und den verschiedenen Epochen der Rechtsentwicklung gewandelt. Nach Radbruch ist es der Wechsel des vorschwebenden Bildes vom Menschen, der in der Geschichte des Rechts Epoche macht, nicht umgekehrt. Und er zieht die Schlussfolgerung, dass nichts so entscheidend ist für den Stil eines Rechtszeitalters wie die Auffassung vom Menschen, an der es sich orientiert.[2] Oder, wie es Theo Mayer-Maly eine Generation später ausdrückt: „Der Mensch – sein Tun und Unterlassen – ist der hauptsächliche Gegenstand des Rechts. Deshalb kommt keine Rechtsordnung darum herum, bewusst oder unbewusst von einem bestimmten Menschenbild auszugehen, und keine Rechtswissenschaft kann es sich ersparen, Vergewisserung über das vorausgesetzte Menschenbild zu suchen.“[3] Hat Aristoteles den Menschen als Zoon politikon und als verbindende Mitte im Gesamtgefüge der Seinsordnung verstanden[4], war die jüdisch-christliche Tradition bis ins 16. Jahrhundert von einem theozentrischen Weltbild geprägt, so vollzog sich mit der Neuzeit ein Paradigmenwechsel hin zum anthropozentrischen Weltbild, das zur Grundlage nicht nur des Humanismus und der Aufklärung, sondern auch der gegenwärtigen menschenrechtlich geprägten Kodifikationen wird. Der Mensch wird zum Mittelpunkt. Immanuel Kant subsumiert alle Felder der Philosophie der Anthropologie und gibt damit der Frage nach dem Menschen absolute Priorität.[5] Als sozialdemokratisch orientierter Mensch kritisiert Radbruch das Bild des klugen, freien und interessierten Menschen des liberalen Rechtszeitalters und postuliert den aus seiner Sicht viel lebensnäheren „Typus, in den auch die intellektuelle, wirtschaftliche, soziale Machtlage des Rechtssubjekts miteingedacht wird. Der Mensch im Recht ist fortan nicht mehr Robinson oder Adam, nicht mehr das isolierte Individuum, sondern der Mensch in der Gesellschaft, der Kollektivmensch.“[6] Die Nähe zur Kritik von Karl Marx an Artikel 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Nationalversammlung vom 26.8.1789 ist offensichtlich. Freiheit besteht dort darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. Marx wendet dagegen mit scharfen Worten ein, dass dieses Freiheitsverständnis nicht auf der Verbindung des Menschen mit dem Menschen beruhe, sondern vielmehr auf der Absonderung des Menschen von den Menschen.[7] Heute mag der Radbruch’sche Ansatz eine Möglichkeit sein, Menschen aus Kulturkreisen mit einem mehrheitlich kollektiven Menschenbild eine Brücke zu bauen hin zu den individualistisch geprägten Menschenrechten. Mehr noch vermag das die sogenannte Menschenbildformel des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1954. Diese Formel kann nicht nur aus dem deutschen Grundgesetz abgeleitet werden, sondern entspricht auch dem Menschenbild anderer demokratischer Verfassungsstaaten. „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das  eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.“[8] Zentral ist der Gedanke der Menschenwürde. „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß."[9]

 

Bilder vom Menschen

Die Vielschichtigkeit des Menschenbildbegriffs[10] veranlasst den Juristen, nach Strukturen,  Elementen und Leitlinien zu suchen, die den Menschenbildbegriff qualifizieren, zur Erhellung von Zusammenhängen zwischen Mensch und Recht beizutragen. In diesem Sinn klassifiziert  Franz Bydlinski das Menschenbild als Kritikmaßstab und Korrektiv.[11] Die Behauptung, es existiere „kein in juristischer Absicht kreierter Entwurf eines gesollten Menschenbildes“[12], wie er vereinzelt erhoben wurde, ist nicht haltbar. Denn sowohl das Straf-, wie das Schadenersatzrecht setzen einen Menschen voraus, der zwischen Schuld und Unschuld unterscheiden kann und mit freiem Willen ausgestattet ist.

Im Wesentlichen liegen vier Grundmuster vor: das normative, das in seiner soziologischen Begrifflichkeit auf Max Weber zurückgehende idealtypische, das realtypische und das personale Menschenbild, das von der grundlegenden Prämisse vom Menschen als Person ausgeht.

  • Das normative Menschenbild geht von einem idealtypischen Menschen aus, „dessen Verhalten dem einer sinnvoll normativ geordneten menschlichen Gemeinschaft entspricht“. Die gesellschaftlichen und rechtlichen Normen sind Befolgungsmaßstab für den nach dem normativen Menschenbild gedachten Menschen. Die Gefahr dieser Perspektive liegt in einer Reduktion des Menschen auf ein Normensystem.
  • Das idealtypische Menschenbild hat einen Idealtypus des Menschen zum Inhalt, ein Bild, wie der Mensch sein soll, und nicht, wie er ist. Ein Ideal, das der Mensch erreichen kann und soll, wenn er sich darum bemüht. Als Idealität für das Recht darf aber nicht eine religiöse oder ethische Vollkommenheitsforderung maßgeblich sein, sondern die bescheidenere Zielsetzung der Sozietät. Die Gefahr einer ideologisch-weltanschaulichen Vereinnahmung ist nicht von der Hand zu weisen. Andererseits bedient sich der Verfassungsgesetzgeber idealtypischer Elemente, wenn er z.B. die staatlichen Bildungs- und Erziehungsziele in Art 14 Abs 5a B-VG normiert.
  • Im Gegensatz zur Sicht des Menschen, wie er sein soll, fokussiert das realtypische Menschenbild den Menschen, wie er – angeblich – ist. So ist er halt, der Mensch oder dieser Mensch oder diese bestimmte Gruppe von Menschen. Hier besteht die Gefahr, dass ein Allgemeintypus konstruiert wird, der der Realität ebenso wenig gerecht wird wie Stereotype. Indes muss der Gesetzgeber, so Radbruch in der angeführten Heidelberger Antrittsvorlesung, „sein Gesetz so gestalten, als wäre der Mensch so eigennützig, dass er rücksichtslos seinem Interesse folgen würde, wären ihm nicht Rechtsschranken gesetzt, und so klug, dass er jede Lücke dieser Schranken sofort erkennen würde, sein Gesetz muss (mit Kant zu reden) auch für ein Volk von Teufeln passen, sofern sie nur Verstand haben."[13]
  • Auf der Suche nach dem Menschenbild als Regulator des Rechts erweisen sich sowohl das normative wie auch das idealtypische und das realtypische Menschenbild als jeweils unzulänglich. Sie eignen sich zwar, um Strukturen des Menschenbildes aus der jeweiligen Perspektive zu erhellen, sie haben auch Eingang in das positive Recht gefunden, versagen aber dort, wo der Mensch als Ganzes in das Blickfeld treten soll. Dieser Anforderung entspricht nur das personale Menschenbild. § 16 ABGB normiert als grundlegende Prämisse, dass jeder Mensch als Person zu betrachten ist, weil er angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte hat. § 16 ABGB schützt damit die Person als Kristallisationspunkt der menschlichen Identität und einer sich lebenslang weiter entwickelnden Selbstdefinition (E.H. Erikson).[14] Die gleiche Personenhaftigkeit und Würde jedes Menschen ist zentrale Fundamentalnorm des personalen Menschenbildes. Sie zielt nicht auf gewaltsame Gleichmacherei in allem und jedem, sondern sie schließt normativ aus, „dass Menschen legitimerweise bloß als Mittel für fremde Zwecke behandelt oder hinsichtlich ihrer zentralen Persönlichkeitsgüter diskriminiert werden“. Hier liegt der Ansatz für die Bewältigung vieler, auch multikultureller Probleme der Gegenwart.  Im Mittelpunkt steht der Mensch als Person. Das personale Menschenbild berücksichtigt den Menschen als „Phänomen, das seinshaft und prozesshaft zugleich ist“ und – mit Arthur Kaufmann gesprochen – als  „Ensemble der Beziehungen, in denen der Mensch zu anderen Menschen oder zu Sachen steht“. In der Schlussfolgerung dieser Grammatik wird der Mensch als Person nicht nur zum Zentralbegriff des Rechts und des Gerechtigkeitsdiskurses, sondern es zeigt sich darüber hinaus, dass der hermeneutische Zirkel allen Verstehens in der Person des Menschen begründet und daher unaufhebbar ist.[15] Kaufmann geht damit weit über seinen Lehrer Radbruch hinaus und bringt es salopp auf den Punkt, wenn er sagt: „Die Idee des Rechts ist die Idee des personalen Menschen oder sie ist gar nichts."[16]

 

Migration gestern

Migration ist so alt wie die Menschheit selbst.[17] Der homo sapiens hat sich als Wandernder, als homo migrans, über die Welt ausgebreitet. In den Schöpfungsmythen der Religionen und Kulturen stehen Fluchtschicksale im Mittelpunkt, im Gilgamesch-Epos ebenso wie im Buch Exodus. Im 16. und 17. Jahrhundert führte das Streben absolutistischer Herrscher nach religiöser Einheit durch die Vorgabe von „cuius regio, eius religio“ zur massenhaften Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen. Man denke an das „ius emigrandi“ des Augsburger Religionsfriedens. Mit der Verschleppung von geschätzten elf Millionen Westafrikanern auf die amerikanischen Plantagen im 19. Jahrhundert wurde Migration, in diesem Fall Zwangsmigration, zu einem globalen Phänomen. Mehr als eine Million Iren wanderte geradezu fluchtartig nach Amerika aus, als Mitte des 19. Jahrhunderts eine durch Kraut- und Knollenfäule verursachte Hungersnot herrschte. Ende des 19. Jahrhunderts verließen 8,5 Millionen Europäer innerhalb von zehn Jahren aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat Richtung Amerika. Nach der Begrifflichkeit der Genfer Flüchtlingskonvention, die zwar direkte personale Gewalt, nicht aber strukturelle umfasst, wären heute viele der genannten  Migranten inklusive der vom Hungertod bedrohten Iren nicht als Flüchtlinge anerkannt und bereits im Transitbereich der Flug- und Überseehäfen  als Wirtschaftsflüchtlinge zurückgewiesen worden.[18] Das Jahrhundert, das alle bisherigen Dimensionen sprengte und zum Jahrhundert des Weltflüchtlingsproblems wurde, ist das 20. Jahrhundert mit den beiden Weltkriegen. Heute ist Migration die Antwort auf komplexe Existenz- und Rahmenbedingungen, ökonomische und ökologische, soziale, kulturelle, religiös-weltanschauliche, ethnische und politische.[19] Diese vielschichtigen Existenz- und Rahmenbedingungen erfordern inter- und transdisziplinäre Lösungsansätze. Auch Rechtstheorie und Rechtsethik sind keine isolierten Wissenschaften, sondern eingebettet in einen transdisziplinären Rahmen.

 

Migration heute

Es ist nicht ungefährlich, gegenwärtig über aktuelle Migrationsfragen zu sprechen. Wer es dennoch tut, sticht insofern in ein Wespennest, als derzeit kaum ein inhaltlich-sachlich geführter Diskurs zu erkennen ist, dafür aber weitgehend vergiftete Beiträge, die darauf abzielen, den jeweils anders Denkenden zu diffamieren. Längst haben wir in Kauf genommen, dass die jeweilige weltanschauliche Einstellung bestimmt, welche Argumente und Beweise wir zu akzeptieren bereit sind. „Wir schenken dem winzigsten Strohhalm im Wind Glauben, wenn er unsere Werte bestätigt, während wir Beweise, die für das Gegenteil sprechen, mit Verachtung und Geringschätzung strafen.“[20] Dabei geht es, wie es Paul Collier  in seinem Beitrag „Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen“ schreibt, um ganz nüchterne Fragen: „Was bestimmt die Entscheidung von Migranten? Wie wirkt sich die Migration auf die Zurückgelassenen aus? Und welche Folgen hat sie für die einheimische Bevölkerung in den Aufnahmegesellschaften?"[21]

Es macht einen Unterschied, ob jemand aus Gründen auf der Flucht ist, die der Genfer Flüchtlingskonvention zu subsumieren sind, oder aus anderen asylfremden Gründen. Im Hinblick auf Syrien hat der Hamburger Strafrechtswissenschaftler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel schon vor drei Jahren darauf hingewiesen, dass Europa und die Vereinigten Staaten die „Brandstifter einer Katastrophe“ seien. Der sogenannte „demokratische Interventionismus“, das Betreiben eines Regimewechsels mit militärischen Mitteln zum Zweck der Etablierung einer demokratischen Herrschaft, überlässt im konkreten Fall den Sturz des Regimes dessen innerer Opposition und entfesselte damit die verheerendste Form des Krieges: den Bürgerkrieg mit 100.000 Toten.[22] Flüchtende aus diesem und vergleichbaren Kriegen haben nicht nur die Genfer Flüchtlingskonvention – ohne Obergrenze – auf ihrer Seite, sondern auch einen moralischen Anspruch gegen die Mitverursacher ihres Leides.

In Afrika haben Sklaverei, Kolonisierung und die massive Beteiligung junger Afrikaner an den beiden Weltkriegen die Staaten in eine Situation gebracht, in der es ihnen auch nach einem halben Jahrhundert nationaler Souveränität nicht gelingt, sich aus der Armut herauszuarbeiten und ihre Unabhängigkeit zu verwirklichen. Der senegalesische Autor Abasse Ndione berichtet, dass die illegale Massenauswanderung aus seiner Heimat 2007 begann. Niemand wisse, wie viele Unglückliche niemals an ihrem Ziel angekommen sind. Als Schlepper groß angelegte Überfahrten mit schrottreifen Booten von der libyschen Küste zu den europäischen Mittelmeerinseln organisierten und es dabei immer wieder zu Schiffbruch kam, entstand allgemeine Aufregung in Europa. Niemand kann es ungerührt lassen, wenn flüchtende Menschen im Mittelmeer ihren Tod finden. Weder Mare Nostrum noch Frontex ist es gelungen, die von der libyschen Küste abgehenden Boote aufzubringen bzw. an der gefährlichen Überfahrt zu hindern. Noch ursächlicher: Bis heute ist es der Afrikanischen Union nicht gelungen, der Massenauswanderung ihrer Jugend in Richtung Europa ein Ende zu setzen.[23] Vergangene Woche sagte der aus Ghana stammende Präsident des päpstlichen Friedensrates Peter Turkson: „Afrika kann diese demografische Ausblutung nicht länger verkraften.“[24] Epiphane Kinhoun, ein afrikanischer Jesuit, beschreibt die Ausgangslage in den afrikanischen Ländern als derart aussichtslos, dass ein Leben nur möglich scheint, wenn man so schnell wie möglich aus dieser Situation flieht. Dazu komme, dass die heutigen afrikanischen Flüchtlinge dazu erzogen worden sind, nach Europa gehen zu müssen. „Die Sehnsucht nach dem besseren Leben ist stärker als der Tod, sodass keine Gefahr sie abschrecken kann.“ Von offizieller Seite hört man aus Afrika kein Wort über diese Situation: „Migration ist kein Thema. Die Politik schweigt, die Religion betet, und das Leben geht weiter.“  Epiphane Kinhoun sieht in einem neuen Bildungssystem die unabdingbare Notwendigkeit. Ein Bildungssystem, das sich auf die Realität und die ursprüngliche Struktur der Afrikaner einstellt, um Afrika für junge Afrikaner wieder attraktiver werden zu lassen.[25] Und Abasse Ndione diagnostiziert noch deutlicher: „Die illegale Einwanderung muss ein Ende haben. Dazu müssen die afrikanischen Länder eine Entwicklungspolitik umsetzen, die ihren Jugendlichen wieder Hoffnung und Vertrauen gibt, damit sie nicht mehr ihr Leben auf das Spiel setzen, um ihren Lebensunterhalt anderswo zu verdienen."[26]

Der frühere UN-Under Secretary-General for Peacekeeping und gegenwärtige Präsident der International Crisis Group Jean-Marie Guéhenno bezeichnet aus politischer Perspektive die ursächlichen Konflikte der Flüchtlingskrise als Schlüsselbegriff und als „symptomatic of the breakdown of the international system built over the past seventy years, increasing the risk of violence and weakening the world’s collective capacity for conflict management”. Er spricht von der Notwendigkeit des politischen Willens “to find solutions to the wars that have sent their victims to European shores”.[27] Aus sozialethischer Perspektive bezeichnet es  Paul Collier als klare moralische Pflicht, den Armen in anderen Ländern zu helfen, und als eine Möglichkeit der Hilfe, Einigen von ihnen zu erlauben, in reiche Gesellschaften auszuwandern. Dem Argument, dass alle armen Menschen ein Recht auf Migration hätten, erteilt er eine Absage, weil damit unzulässig zwei Dinge vermischt werden: „die Pflicht der Reichen, den Armen zu helfen, und das Recht auf freie Bewegung zwischen den Ländern. Man muss nicht letzteres gewähren, um erstere zu erfüllen."[28]

 

Grenzschutz im Spannungsfeld gegensätzlicher Gesellschaftsmodelle

Seit vergangenem Jahr ist das Thema der Grenzen von Staaten und Staatenverbänden durch den Ansturm von Flüchtenden brandaktuell geworden. Flüchtende, die ihren Versuch, nach Europa zu gelangen, mit dem Leben bezahlt haben, dienten als Argument der Forderung nach offenen Grenzen und als Begründung für die Verurteilung jener, die die Grenzen entsprechend der Rechtsordnung gesichert haben. Dabei war eine signifikant unterschiedliche mediale Wahrnehmung festzustellen. Während Viktor Orbán für seine Maßnahmen zum Schutz der Schengen-Außengrenze gegeißelt wurde, blieb es rund um den Mauerbau in Calais – mitten in Europa – merklich still, wo Migranten den Ärmelkanal erstürmten, um nach England zu gelangen.

Mit „Schengen“ und „Dublin“ ist die Verwirklichung der Idee verbunden, Binnengrenzen nicht nur als Zollgrenzen, sondern auch für Personenkontrollen abzuschaffen, was aber nur funktioniert, wenn diese Funktionen an der Außengrenze der Union wahrgenommen werden. Zu Recht weist der ehemalige deutsche Bundesverfassungsrichter mit italienischen Wurzeln Udo Di Fabio darauf hin, dass das nationale Interesse der Grenzstaaten, die Außengrenze der Union zu überwachen oder Zugänge zu verweigern, schwindet, wenn man Einwanderungswillige unregistriert in Länder mit hoher Migrationsattraktivität durchleiten kann.[29] In der Tat war über den Zeitraum von einigen Monaten das „Durchreichen“ von  nicht registrierten Migranten Usus, mit zum Teil 10.000 Übertritten pro Tag an der österreichisch-bayerischen Grenze. Heute sollen sich allein in Deutschland zwischen 300.000 und 400.000 nicht registrierte Personen aufhalten, von denen niemand etwas weiß.

Herausgefordert und verunsichert durch die Ausmaße der Migrationsströme im Herbst 2015 kam es zu einer gesellschaftlichen Entwicklung, die die Mitte der Gesellschaft ausdünnte und die Extreme stärkte: Willkommenskultur und Brandanschläge, Demos links und Demos rechts, Ängste da, Beschwichtigung dort. Vieles ist aus dem Ruder gelaufen. Die Position des Historikers Jörg Baberowski, die er in einem Beitrag in der FAZ vom 14. September 2015 vertrat, dürfte die Befindlichkeit vieler wiedergegeben zu haben: „Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die von den Errungenschaften der Aufklärung nicht abrückt, die religiösen Fanatikern Einhalt gebietet, die Einwanderern klarmacht, dass wir diese Grundsätze nicht aufgeben und sie auch verteidigen. Das wird nur gelingen, wenn wir uns unsere Einwanderer aussuchen dürfen. Und ich wünsche mir, in meinem Land offen sagen zu dürfen, was ich denke, ohne von ahnungslosen Fernsehpredigern und überforderten Politikern darüber belehrt zu werden, was moralisch geboten ist und was nicht."[30]

 

Zwischen Universalität und Partikularität

Das Spannungsfeld zwischen der Universalität der Menschenrechte und der Notwendigkeit eines abgrenzbaren und beherrschbaren Staates bleibt bestehen. Sie sind andererseits aufeinander bezogen, weil sich die Universalität der Menschenrechte nur in der Partikularität eines Staatsgebietes entfalten kann. Um den Widerspruch zwischen Öffnung und Begrenzung kommt niemand herum. Karl Popper hat sich über viele Jahre des letzten Jahrhunderts mit dieser Frage beschäftigt und seine Gedanken unter dem Titel Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1945 zu Papier gebracht.[31] Popper argumentierte vor dem Hintergrund der Bedrohung totalitärer Regime.  Heute stellt sich im Fokus der Migrationsbewegungen die Frage nach dem Verhältnis von Öffnung und Begrenzung neu. „Aber gleich wie man Grenzen der Aufnahmefähigkeit definiert und rechtliche Auswahlverfahren wählt: Ohne Grenzen und Begrenzbarkeit entfällt eine zentrale Voraussetzung des offenen Verfassungsstaates, ein funktionell beherrschbarer Personenverband zu sein, schon um seine Schutz- und Ordnungsfunktion berechenbar zu gewährleisten.“[32] Mit Blick auf die praktische Erhaltung territorialer Grenzen in Europa gibt es zwei Optionen: entweder die Zentralisierung der Sicherung der Außengrenze oder die unbefristete Aussetzung des Schengen-Systems mit der Rückkehr zur nationalen Grenzsicherung.[33] Dass gegenwärtig das jeweils nationale Interesse auch von Schengen-Staaten Priorität hat, erkennt man daran, dass die Kontrolle der eigenen nationalen Grenzen als notwendig im Dienst der Sicherheit bezeichnet wird, während im gleichen Atemzug Grenzsicherungsmaßnahmen anderer Länder als europaschädlich diffamiert werden. Europa wäre wohl gut beraten, die Sicherung der Außengrenzen selbst zentral oder qua Mitgliedstaaten in die Hand zu nehmen und sich nicht von unberechenbaren Drittstaaten abhängig zu machen. Könnten sich die Länder der Union dazu durchringen, Asylanträge in ihren Vertretungen in den Herkunftsländern, in deren Nachbarländern oder in den Lagern zuzulassen und zu bearbeiten, wäre auch das ein Schritt in Richtung einer legalen Migration. Zentraler Topos muss aber die Bekämpfung von Migrationsursachen werden. Mit der politischen und ökonomischen Unterstützung kooperierender Herkunftsländer ist die Richtung vorgegeben, Menschen in ihrem soziokulturellen Umfeld ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

 

Wenn Werte kollidieren

Während sich die dogmatische Rechtswissenschaft der Frage widmet, wie das Recht zu verstehen ist, fragt die Sozialtheorie des Rechts nach der Wirklichkeit des Rechts und deren Rückwirkungen auf das soziale Leben. Der Strafrechtswissenschaftler und Rechtsphilosoph Werner Maihofer (1918-2009) definiert „Rechtssoziologie“ als Analyse der gegenseitigen Bedingtheit von Recht und Gesellschaft. Die Gesellschaft ist normativ bedingt durch das Recht, das Recht ist faktisch bedingt durch die Gesellschaft. Differenzen ergeben sich aus dem Widerspruch zwischen dem, was als Recht in einer Gesellschaft faktisch gelebt wird und dem, was normativ als Recht für diese Gesellschaft gesetzt ist. Differenzen ergeben sich aber auch, wenn das gesellschaftliche Bewusstsein der betroffenen Laien signifikant vom rechtlichen Bewusstsein der zuständigen Juristen abweicht.[34] Durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen werden unterschiedliche Normengefüge sichtbar. Wenn Normen kollidieren oder sich gegenseitig gar ausschließen, müssen Konflikte nach Maßgabe der Rechtsordnung gelöst werden.

Als 1992 im Zuge des türkischen Kurbanfestes in Tirol eine Reihe von lebenden Schafen geschächtet wurde und dieser Vorfall zur Anzeige kam, subsumierte sowohl des Erstgericht als auch das OLG als Berufungsgericht die Schächtung dem Straftatbestand der Tierquälerei gemäß § 222 StGB. Nach einer von der Generalprokuratur erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde wurde der OGH als Kassationsgericht tätig und hob die Urteile auf. Das rituelle Schächten sei als sozial adäquates Verhalten nicht rechtswidrig.[35] Zwischenzeitlich liegt mit dem Bundesgesetz über den Schutz der Tiere[36] eine Norm vor, die das Schächten unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt – ein gelungener Kompromiss.

Als das Landgericht Köln 2011 in einem Urteil[37] die Beschneidung eines nicht einwilligungsfähigen muslimischen Knaben dem Tatbestand der Körperverletzung subsumierte und den Eltern das Recht zur Einwilligung in die Beschneidung absprach, wurde wiederum eine Wertekollision sichtbar. Mit hohen Emotionen wurde die Auseinandersetzung – vor allem in Deutschland – geführt. In Österreich sah sich das Justizministerium veranlasst, einen Erlass[38] herauszugeben, in dem unter Hinweis auf § 90 StGB und die herrschende Lehre festgehalten wird, dass die religiös motivierte Beschneidung von Knaben in Österreich nicht strafbar ist.

Mit der Silvesternacht 2015/16 ist – kurz nach den Attentaten von Paris und Brüssel – Köln zu einer Chiffre für den Zusammenprall der Kulturen mutiert. Der Kölner Polizeipräsident musste zurücktreten, die Kölner Oberbürgermeisterin riet Frauen, „eine Armlänge Abstand“ zu halten. Weil an den Übergriffen vor allem junge Männer und Asylwerber aus dem nordafrikanischen Raum beteiligt waren, kippte die mediale Berichterstattung nach ein paar Tagen der Schockstarre in das Gegenteil der bisherigen Linie. Die eklektische Wahrnehmung je nach weltanschaulicher Vorentscheidung ist geblieben. Während die einen keinen wesentlichen Unterschied zu Belästigungen alkoholisierter Männer beim Oktoberfest in München oder beim Kölner Karneval sehen (so die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor), berichten  andere, dass die sexuelle Gewalt in Nordafrika und im Nahen Osten zum Alltag gehört und dort diesbezüglich permanent „Oktoberfest“ und „Karneval“ ist. Denen könne sich keine Frau entziehen, indem sie diese Veranstaltungen meidet (so der langjährige ARD-Korrespondent in Algerien Samuel Schirmbeck).[39]

 

Religiös motivierte Konflikte

Im Kontext kollidierender Wertvorstellungen dürfen religiös motivierte Konflikte nicht unerwähnt bleiben. Der Karikaturenstreit 2006 in Dänemark hat das Konfliktpotential zwischen Meinungs- und Pressefreiheit einerseits und religiösem Empfinden andererseits ebenso schlagartig ins Bewusstsein gebracht wie die ermordeten Redakteure einer französischen Satire-Zeitschrift in Paris Anfang 2015. „Je suis Charlie“ klingt noch immer in den Ohren und vermischt sich mit Trauer, Sorge und Wut. Der katholische Theologe Thomas Söding  fordert vor diesem Hintergrund, dass die Religionen ihr Verhältnis zur Moderne klären müssen. Ebenso wie die Moderne ihr Verhältnis zu den Religionen klären muss. „‘Charlie Hebdo‘ muss verteidigt werden um der Pressefreiheit willen. Aber die Medien müssen sich die Freiheit nehmen, die Religionen nicht nur zu karikieren, sondern auch zu charakterisieren, informiert und interessiert, fair und kritisch.“[40] Der islamische Religionspädagoge Ednan Aslan fordert die Muslime zur Selbstbesinnung auf. Sie mögen definieren, welche Zukunft sie sich in Europa wünschen und welchen Islam sie hier vertreten wollen.[41] Ganz grundlegend postuliert das „Projekt Weltethos“ von Hans Küng schon vor drei Jahrzehnten die Notwendigkeit eines Ethos für die Gesamtmenschheit: Kein Friede unter den Nationen ohne Friede unter den Religionen. Kein Friede unter den Religionen ohne Dialog der Religionen.[42] In der Erklärung zum Weltethos des Parlaments der Weltreligionen, 1993 in Chicago verabschiedet, werden vier unverrückbare Grundvoraussetzungen formuliert: 1. Die Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor dem Leben; 2. Die Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung; 3. Die Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit; 4. Die Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und der Partnerschaft von Mann und Frau.[43] Schon vor gut 200 Jahren hat Immanuel Kant eine erstaunlich konkrete Vision einer Welt- und Friedensordnung geschaffen: „Zum ewigen Frieden“.[44] Die Grundsätze, basierend auf seinen Grundannahmen zur Menschennatur, sind nach wie vor aktuell. Der erste umfasst die Gleichartigkeit der beteiligten Staaten, deren Verfassung auf der Freiheit und Gleichheit der Bürger und auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruht. Im zweiten Grundsatz überträgt Kant seine Rechtsvorstellung, dass alle Bürger in Freiheit zusammen bestehen können, auf die Völkerrechtsgemeinschaft und spricht von einem Völkerbund als Friedensbund freier Staaten. Der dritte Grundsatz ist die Anerkennung eines auf ein Besuchsrecht eingeschränkten Weltbürgerrechts und beruht auf dem Gedanken der Toleranz gegenüber Fremden und auf dem Gedanken des gemeinschaftlichen Besitzes der begrenzten Erdoberfläche. Kant verbindet hier philosophische Argumentation mit Begriffen einer strukturierten Rechtslehre. Die Sicherung des Friedenszustands sieht er in der inneren Teleologie der Menschennatur begründet.[45]

 

Langwierige Integrationsprozesse

Kollidierende Werte und Normen sind immer wieder Folge  unterschiedlicher Vorstellungen vom Menschen in unterschiedlichen Kulturen. Die Sicht vom Menschen, wie sie in den Menschenrechts- und Grundrechtskodifikationen und im freiheitlich demokratischen Verfassungsstaat ihren Niederschlag gefunden hat, ist offensichtlich auch für Menschen anderer kultureller Traditionen anziehend. Dennoch ist es nicht einfach möglich, Verhaltensmuster und Vorstellungen, die in einer über Jahre und Jahrzehnte dauernden Sozialisation internalisiert worden sind, innerhalb kurzer Zeit abzulegen. Die Vorstellung mancher politischer Verantwortungsträger, Migranten einfach eine Erklärung unterschreiben zu lassen, in der sie z.B. die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Religionsfreiheit und die geschlechtliche Selbstbestimmung anerkennen, greift wohl zu kurz. Integrationsprozesse sind langwierige Prozesse und lassen sich nicht im Turbo-Modus abkürzen. Sie dauern über Generationen, und es ist durchaus nicht klar, dass diese Prozesse linear verlaufen, wie die Radikalisierung von Zuwanderern in der zweiten und dritten Generation mitunter zeigt. Nach den tragischen Attentaten von Brüssel am 22. März 2016 mit 32 Toten und über 300 Verletzten verwies EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker darauf, dass die Terroristen aus Brüssel-Molenbeek „nicht von außen importiert, sondern hier aufgewachsen“ seien. „Sie sind durch unsere Schulsysteme gegangen und haben aktiv an unserem sozialen Leben teilgenommen.“[46] Integration ist bei ihnen offensichtlich aber nicht gelungen.

Tatsächlich kann die Schule in diesem Bereich aber viel leisten, wenn man sie auch nicht überfordern darf. Das Bild, das eine Gesellschaft als Ziel- und Leitvorstellung vom Menschen hat, findet in besonderer Weise dort seinen Niederschlag, wo die staatlichen Erziehungsziele positiviert worden sind: in den verfassungs- und einfachgesetzlichen schulrechtlichen Bestimmungen. Die Grundwerte, die der österreichische Verfassungsgesetzgeber für die Schule normiert, sind Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und Gerechtigkeit, Offenheit und Toleranz. Durch die Orientierung an den sozialen, religiösen und moralischen Werten sollen Kinder und Jugendliche zu Menschen werden, die befähigt sind, Verantwortung zu übernehmen. Zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis sollen sie geführt werden, dem politischen, religiösen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein sowie befähigt, am Kultur- und Wirtschaftsleben Österreichs, Europas und der Welt teilzunehmen und in Freiheits- und Friedensliebe  an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.[47] Zugegeben, es steckt einiges an Pathos in diesen Zeilen. Aber mit der Priorität von Ausgleich und Toleranz und Respekt vor dem anderen sind die Erziehungsziele eine spezifische Kulturleistung des Verfassungsstaates."[48]

Erziehung ist nicht möglich ohne verbindliche Orientierung, auf die hin erzogen wird. Die Schule ist ein „maßgeblicher Faktor für Stiftung, Kontinuität, Veränderung oder auch Abbau bestimmter Grundeinstellungen bei den Menschen. Wird sie nur noch als Spiegelbild der Gesellschaft verstanden, was sie auch, aber keineswegs nur ist, und wird demzufolge ihre Erziehungs- und Orientierungsaufgabe in Abrede gestellt oder auf den kleinsten gemeinsamen Nenner minimalisiert, die Aufstellung von Erziehungszielen und Orientierungen für nicht machbar oder des Pluralismus wegen für nicht zulässig erklärt, liegt die Integrationsaufgabe der Schule brach.“[49] In den Schulklassen, in denen autochthone Kinder gemeinsam mit Migrantenkindern unterrichtet werden, begegnen einander Menschen, nicht Nationalismen. Wenn hier Begegnungspädagogik gelingt, gelingt Integration. Eine nicht unwesentliche Voraussetzung für das Gelingen im transreligiösen und transkulturellen schulischen Kontext waren die religionspädagogischen Lehrveranstaltungen im bildungswissenschaftlichen Teil der bisherigen Lehrerausbildung an Pädagogischen Akademien und Hochschulen. Vor diesem Hintergrund ist es ein Manko, dass es diese Lehrveranstaltungen in den Curricula der neu geregelten Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern an den öffentlichen Pädagogischen Hochschulen und Universitäten nicht mehr gibt und interreligiöse Kompetenzen nur rudimentär aufscheinen.

 

Aspekte des Strafrechts

Der Strafgesetzgeber muss seine Normen auf der Grundlage des verfassungsrechtlich grundgelegten Menschenbildes setzen, auch wenn im Hinblick auf bestimmte Tatbestände, die er pönalisieren will, realtypische Merkmale im Vordergrund stehen. Das Strafrecht wird zudem von einer Reihe verfassungsrechtlicher Normen determiniert. Dazu gehören vor allem das Anklageprinzip, die Unschuldsvermutung, der Gleichheitsgrundsatz, das Proportionalitätsgebot und der Grundsatz des „fair trial“. Sie alle schützen den Menschen als Träger von Rechten und Pflichten vor Willkür und ungerechtfertigten Anschuldigungen und geben dem Strafrecht den verbindlichen Rahmen vor.[50] Im Blick auf die das Menschenbild tangierenden Normen ist zuerst der Grundsatz „nulla poena sine lege“ als strafrechtliches Legalitätsprinzip zu nennen. Dieses entspricht dem Gebot der Rechtssicherheit, dem Bestimmtheits- und Analogieverbot. Es  beinhaltet aber auch ein Rückwirkungsverbot und schließt strafbegründendes Gewohnheitsrecht aus.[51] „Nulla poena sine culpa“ beinhaltet das strafrechtliche Schuldprinzip und steht ebenso in direktem Zusammenhang mit dem personalen Menschenbild. Strafbar handelt nur, wer schuldhaft handelt.[52] Die Schuld muss vorwerfbar sein. Sie ist strafrechtsdogmatisch nicht nur Voraussetzung, sondern auch Grenze der Strafe. Schuldstrafrecht ist daher nur sinnvoll möglich unter der Voraussetzung, dass es Entscheidungsfreiheit gibt. Im Hinblick auf das präventive Paradigma zur „Verbesserung der Welt durch Strafrecht“ äußert sich der Strafrechtswissenschaftler und ehemalige deutsche Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer kritisch. Dem Versuch, die Gefahrenabwehr im Strafrecht mit der Etablierung eines „Feindstrafrechts“ heimisch zu machen, erteilt er eine klare Absage: es sei jenseits der Verfassung angesiedelt und stehe im Konflikt mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde. „Rechtlich begründete Besonderungen wie die Etablierung eines ‚Feindstrafrechts‘ schicken die Abgesonderten nicht in ein Sonderrecht oder ein Feindrecht, sondern in ein Nichtrecht.“[53] Die Entwicklung des präventiven Strafrechts zu einem Gefahrenabwehrrecht ist die Folge normativer Desorientierung, von Verbrechensfurcht und von Kontrollbedürfnissen einer Risikogesellschaft. Dieses Recht müsse aber, so Hassemer, „die grundlegenden Traditionen des Strafrechts bewahren: den Bezug zur Person, die Angemessenheit einer Antwort auf Unrecht und Schuld, die Ziele von Schutz und Schonung. Nur in diesem Rahmen gibt es Sicherheit durch Strafrecht."[54]

Der Mailänder Strafrechtswissenschaftler Fabio Basile berichtet in seinem im vergangenen Jahr veröffentlichten Werk „Multikulturelle Gesellschaft und Strafrecht“, dass die kulturell motivierten Straftaten auf einige wenige Straftatkategorien zurückgeführt werden können.[55] Dazu gehören familiäre Gewalttaten, insbesondere Gewalt als Mittel, um Töchtern eine arrangierte Ehe aufzuzwingen; Straftaten zur Verteidigung der Ehre, insbesondere auch die sogenannte „Blutrache“ und „Geschlechtsehre“, die durch eine ehebrecherische Beziehung oder durch ein anderes Verhalten verletzt wird, welches auf der Grundlage der Sexualmoral der Herkunftsländer als vorwerfbar angesehen wird; Straftaten des Haltens in Sklaverei zum Nachteil von Minderjährigen, begangen von Personen, die sich zu ihrer Rechtfertigung auf ihre atavistischen Gewohnheiten berufen; Straftaten gegen die sexuelle Freiheit, deren Opfer minderjährige Mädchen sind, die in der Herkunftskultur des Beschuldigten keinen besonderen Schutz im Hinblick auf ihr Alter genießen, oder erwachsene Frauen, denen die Herkunftskultur des Beschuldigten keine Freiheit der Selbstbestimmung zuerkennt; Straftaten im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln, insbesondere solche, deren Konsum in der kulturellen Zugehörigkeitsgruppe des Beschuldigten als absolut erlaubt angesehen werden; Straftaten, die in der Weigerung der Eltern bestehen, ihre Kinder zur Schule zu schicken und mit Vorbehalten religiös-kultureller Art gegenüber der Schule begründet werden; Straftaten im Hinblick auf eine rituelle Kleidung, welche Fälle betreffen, in denen der Brauch oder die Tradition, einen Schleier (insbesondere: eine Burka) oder ein symbolisches Messer (insbesondere: den Kirpan) zu tragen, im Lichte ihrer möglichen strafrechtlichen Bedeutung zum Schutz der öffentlichen Sicherheit bewertet worden sind. Ganz unterschiedliche Delikte sind dem Irrtum zu subsumieren, wenn der Irrtum aus der kulturellen Differenz zwischen dem Herkunftsland und dem Gastland hervorgeht. Hier dreht sich alles um die Frage der Vorwerfbarkeit der Tat.[56] Die kulturell motivierten Straftaten sind fast immer „expressive“ Taten und selten „instrumentelle“. Instrumentelle Straftaten zielen auf ökonomische Ziele, wie z.B. Diebstahl und Raub, während expressive Straftaten durch Leidenschaft, Konflikte oder durch den Wunsch nach Befriedigung persönlicher Bedürfnisse geprägt sind, wie z.B. Tötung, Vandalismus, sexuelle Nötigung.[57] Im Zusammenhang mit der strafrechtsdogmatischen Einordnung kulturell motivierter Straftaten hat die Rechtswissenschaft wichtige Fragen aufzuarbeiten, um den jeweiligen soziokulturellen Hintergrund einzubeziehen und  gleichzeitig das Strafgesetz konsequent anzuwenden. Leitgedanke muss auch hier neben den verfassungsrechtlichen Determinanten und den Strafzielen der personale Mensch als Grund, Maß und Ziel des Rechts sein.

In den Verfassungsschutzberichten der westlichen Staaten wird der religiös motivierte Extremismus gegenwärtig als größte Gefahr eingestuft. Spätestens mit den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde der westlichen Welt bewusst, welche Gefahren vor allem von Seiten islamistischer Terroristengruppen ausgehen.[58] Die Liste der Terroranschläge allein seit Anfang 2016 umfasst 51 Anschläge, die bekanntesten in dieser Zeit wohl die vom 22. März in Brüssel. Dschihadistengruppen agieren weltweit: ob als Islamischer Staat, als Taliban, als Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel oder im islamischen Maghreb,  als Boko Haram in Nigeria, als Al-Shabaab in Somalia, Jemaah Islamiyah in Indonesien oder die Islamische Befreiungsfront der Moros und Abu Sayyaf auf den Philippinen. Der von den radikalen Dschihadistengruppen forcierte Terror gegen die Ungläubigen ist ein transnationales Phänomen, dem nur mit vereinten Kräften begegnet werden kann. Die Mittel des Strafrechts allein sind wohl nicht ausreichend. Dass der österreichische Gesetzgeber nicht nur die Mitgliedschaft bei einer Terrorgruppe strafrechtlich verfolgt, sondern auch die Finanzierung von Terrorismus, die Ausbildung für terroristische Zwecke sowie die Anleitung zur Begehung terroristischer Taten[59], ist auf alle Fälle ein Schritt in die richtige Richtung, zumal der islamistische Terrorismus in europäischen Staaten Züge einer Jugendkultur angenommen hat und für bestimmte Zielgruppen prima facie anziehend wirkt. Es ist zu hoffen, dass die strafrechtlichen Verfahren die gewünschte spezial- und generalpräventive Wirkung zeitigen. Zu hoffen ist auch, dass es der islamischen Welt gelingt, islamistische Gruppen in einen Dialog einzubinden, an dessen Ende ein aufgeklärtes Verständnis der medinensischen Koran-Suren und ein Verzicht auf Gewalt stehen. Die Aussichten, dass sich diese Hoffnung erfüllt, sind aus heutiger Perspektive allerdings nicht besonders realistisch.

 

Schlussbemerkungen

Gestatten Sie mir, am Ende meiner Ausführungen auf die Bedeutung der Rechtsordnung und der Rechtspflege hinzuweisen, auch wenn ich damit Eulen nach Athen trage. Die positive Sicht vom Menschen – und damit der Humanität – und die Rechtsordnung schließen einander nicht aus. Die Rechtsidee von Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit[60] gibt dem individuellen Menschen ebenso Halt und Struktur wie den Menschen im Kollektiv – in der Gesellschaft. In diesem Kontext kommt dem Grundsatz der Gewaltenteilung und der Rechtspflege eine ganz fundamentale Bedeutung zu. Das Ethos der Juristen hat einen anthropologischen Wurzelgrund und orientiert sich im Grundgehalt am gegebenen Recht und der Suche nach dem, was hier und jetzt konkret Recht ist.[61]

 

[1]     Der vorliegende Beitrag basiert auf dem Festvortrag beim 25. Forum der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte „Veränderungen im Strafrecht“ vom 20. bis 23. Juni 2016 in Walchsee/Tirol.

[2]     Vgl. Gustav Radbruch, Der Mensch im Recht. Gesamtausgabe. Hg. Arthur Kaufmann, Bd 2, 21993, 467-476, hier 467.

[3]     Theo Mayer-Maly, Rechtsphilosophie. Wien-New York 2001, 37.

[4]     Vgl. Emerich Coreth, Was ist der Mensch? Innsbruck-Wien-München 1973, 25.

[5]     Vgl. Immanuel Kant, Vorlesungen zur Logik. In: Kant-Werke, Hg. Wilhelm Weischedel, Bd 3, 447 f.

[6]     Vgl. Gustav Radbruch (Fn 1) 472.

[7]     Vgl. Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, 364.

[8]     Investitionshilfe-Urteil vom 20.07.1954, BVerfGE 4,7.

[9]     BVerfGE 39,41.

[10]    Dieser Abschnitt orientiert sich an Karl Heinz Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension. In: ARSP 4 (2007) 493-518.

[11]    Vgl. Franz Bydlinski, Das Menschenbild des ABGB in der Rechtsentwicklung. In: FS Bernhard Großfeld, Hg. Hübner/Ebke, 1999, 119-128, hier 119 f.

[12]    Vgl. Wolfgang Zöllner, Menschenbild und Recht. In: FS Walter Odersky, Hg.  R. Böttcher/G. Hueck/B. Jähnke, 1996, 123-140, hier  128 f.

[13]    Gustav Radbruch (Fn 1) 469 f.

[14]    Vgl. Heinz Barta, Zivilrecht – Grundriss und Einführung in das Rechtsdenken. Wien 22004, 248.

[15]    Vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie. München 21997, 292 f.

[16]    Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie. In: Kaufmann/Hassener/Heumann (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart. 2011, 146.

[17]    Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen Karl Heinz Auer, Migration aus rechtstheoretischer und rechtsethischer Perspektive. In: S&R (2011) 43-58.

[18]    Vgl. Brecht Werner, Dimension und Ursachen des Weltflüchtlingsproblems. In Baadte/Rauscher (Hg.), Minderheiten, Migration und Menschenrechte. Graz-Wien-Köln 1995, 13 ff.

[19]    Vgl. Bade Klaus J., Migration. Migrationsforschung. Migrationspolitik. URL: http://www.kjbade.de/bilder/goethe.pdf (Stand: 17.06.2016).

[20]    Vgl Paul Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. München 2014, 19.

[21]    Ebd. 11.

[22]    Vgl. Reinhard Merkel, Der Westen ist schuld. In: FAZ, 02.08.2013.

[23]    Vgl. Abasse Ndione, Nur Ministersöhne bleiben. In: Tages Anzeiger, 03.09.2015. Online in Internet. URL: http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Nur-Ministersoehne-bleiben/story/19747786. 

[24]    Zit n Hans Winkler, Mildtätigkeit ohne Politik ist keine Lösung. In: Die Presse, 13.06.2016.

[25]    Vgl. Epiphane Kinhoun, Zur Frage der Flucht von Afrika über das Mittelmeer. Online in Internet. URL: http://www.stimmen-der-zeit.com/zeitschrift/online_exklusiv/details_html?k_beitrag=4656961 (Stand: 17.06.2016).

[26]    Vgl. Abasse Ndione (Fn 21).

[27]    Jean-Marie Guéhenno, Conflict Is Key to Understanding Migration. Online in Internet. URL: http://carnegieeurope.eu/strategiceurope/?fa=63578 (Stand: 17.06.2016).

[28]    Paul Collier (Fn 18) 22.

[29]    Vgl. Udo Di Fabio, Welt aus den Fugen. In: FAZ, 14.09.2015.

[30]    Jörg Baberowski, Europa ist gar keine Wertegemeinschaft. In: FAZ, 14.09.2015.

[31]    Karl R. Popper, Gesammelte Werke in deutscher Sprache, Bd. 5, Tübingen 2003.

[32]    Udo Di Fabio, Welt aus den Fugen. In: FAZ, 14.09.2015.

[33]    Vgl. ebd.

[34]    Vgl. Werner Maihofer, Die gesellschaftliche Funktion des Rechts. In: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Hg.  Maihofer/Schelsky, Bd I, Bielefeld 1970, 11-36.

[35]    Vgl. EvBl 1996, 671.

[36]    BGBl I 2004/118.

[37]    LG Köln, Urteil 151Ns 169/11.

[38]    Erlass vom 31.07.2012, BMJ-S120.001/0003-IV/2012.

[39]    Vgl. Samuel Schirmbeck, Sie hassen uns. In: FAZ, 11.01.2016.

[40]    Thomas Söding, Ich bin Christ. In: CIG 4/2015.

[41]    Ednan Aslan, Die Grundlagen eines Islam europäischer Prägung. In: Die Presse, 21.05.2015.

[42]    Vgl. Hans Küng, Projekt Weltethos. München 1993.

[43]    Parlament der Weltreligionen, Erklärung zum Weltethos. Chicago, 04.09.1993.

[44]    Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. In: Kant-Werke. Hg. Wilhelm Weischedel. Bd 6, 195-251.

[45]    Reinhard Merkel/Roland Wittmann, „Zum ewigen Frieden“. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant. Frankfurt/Main 1996, 8 f.

[46]    Beatrice Delvaux, „Die Terroristen sind durch unsere Schulsysteme gegangen“. In: Die Welt, 24.03.2016

[47]    Vgl. Art 14 Abs 5a B-VG.

[48]    Vgl.  Peter Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat. Berlin 2005, 46.

[49]    Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Wandel des Menschenbildes im Recht. In: Gerda Henkel Stiftung (Hg.), Das Bild des Menschen in den Wissenschaften. Münster 2002, 216.

[50]    Vgl. Karl Heinz Auer (Fn 9) 509.

[51]    Vgl. Peter Lewisch, Verfassung und Strafrecht. Verfassungsrechtliche Schranken der Strafgesetzgebung, 1993, 53.

[52]    § 4 StGB.

[53]    Winfried Hassemer, Sicherheit durch Strafrecht. In: HRRS 4 (2006) 138.

[54]    Ebd. 143.

[55]    Vgl. dazu und zur folgenden Aufzählung Fabio Basile, Multikulturelle Gesellschaft und Strafrecht. Die Behandlung der kulturell motivierten Straftaten. München-Berlin 2015, 170-173.

[56]    § 9 StGB.

[57]    Vgl. Fabio Basile (Fn 53) 173 Fn 4.

[58]    Vgl. Mark A. Zöller, Terrorismusstrafrecht. Ein Handbuch. Heidelberg 2009, 45 ff.

[59]    §§ 278 b, 278 c, 278 d, 278 e, 278 f StGB.

[60]    Vgl. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Hg. Ralf Dreier/Stanley L. Paulson. Heidelberg 1999, 34 ff, sowie Arthur Kaufmann (Fn 14) 152 ff.

[61]    Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Ethos der Juristen. In: Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 60, Berlin 2011.

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